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Auf der Suche nach einem Feind

Eskalation im Streit mit Russland ist ein durchdachter Schachzug des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili

Von Alexej Makarkin *

Bei seinen jüngsten Aktionen, die nicht zuletzt innenpolitischen Zwecken dienen, muss Georgiens Präsident Saakaschwili eine Rückendeckung durch Amerika spüren.

Die Verhaftung der russischen Offiziere in Georgien und die anschließende Blockade des Stabs der russischen Truppen in Transkaukasien ist keine emotionale Geste, sondern ein durchdachter Schachzug des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, der seine innenpolitischen Probleme auf die alt bewährte Weise lösen will - mit einer Mobilisierung der Gesellschaft zum Kampf gegen einen äußeren Feind. Wenige Tage vor den Kommunalwahlen in Georgien ist das besonders aktuell.

Die erste Etappe dieser Operation hat Anfang September stattgefunden, als Vertreter der prorussischen Opposition festgenommen wurden. Nun ist die zweite Etappe gekommen: Demonstrative Aktionen, die nun schon direkt gegen Russland selbst gerichtet sind.

Die Beziehungen mit Russland sind dabei bereits dermaßen vergiftet, dass sich die georgischen Machthaber gar nicht mehr darüber Gedanken machen, dass es sich nicht lohnt, Beziehungen mit einem politisch und wirtschaftlich starken Feind zu verderben, mit dem Georgien historisch verbunden ist. Das Wichtigste besteht für sie in einem überzeugenden Sieg bei den Wahlen, die eine Art Indikator für die Einstellung der Bevölkerung zur Macht sein sollen.

Gerade mit solchen Wahlen in Tiflis, die die Partei Saakaschwilis gewonnen hatte, begann nämlich der Aufstieg des jetzigen georgischen Präsidenten. Nun ist aber das Vertrauen gegenüber dem georgischen Präsidenten zusehends geschrumpft. Gegen die prowestliche Oppostion (im Unterschied zur prorussischen) kann er keine Repressalien anwenden, sonst würden die USA und Europa sein Regime nicht mehr als demokratisch betrachten. Die administrative Ressource wird zwar von Saakaschwili-Anhängern schon angewandt (das bezeugen sehr viele Oppositionspolitiker), sie ist aber offenbar nicht ausreichend, um einen Kentersieg zu sichern. Was bleibt, sind die "antirussische" Karte, Spionenskandale und die Herstellung einer Situation, in der eine Kritik an der jetzigen Macht mit einer Unterstützung des äußeren Feinds gleichgesetzt werden kann. In einer solchen Situation verringern sich selbstverständlich Möglichkeiten für jegliche Oppositionsaktivitäten.

Ein weiterer Schachzug im Vorfeld der Wahlen bestand in einer Umbenennung des Kodori-Tals, wohin georgische Truppen im Sommer einmarschierten, in das Obere Abchasien. Zu Saakaschwilis Wahlversprechungen gehörte nämlich die Behauptung, er werde die Kontrolle von Tiflis über den nicht anerkannten abchasischen Staat wiederherstellen können. Das gelang ihm aber nicht. Wenn das nun nicht geschehen ist - warum sollte dann ein Gebirgstal, das von den abchasischen Behörden nie kontrolliert wurde, nicht in Abchasien umbenannt werden? Den Wählern könnte das als ein erster Schritt zur Wiedererlangung der Kontrolle über Abchasiens Hauptstadt Suchumi präsentiert werden, wobei Georgien in Wirklichkeit mit diesem Schritt noch weiter von einer friedlichen Lösung des Abchasien-Problems abgerückt ist.

Aus Saakaschwilis Aktionen im Vorfeld der Wahlen lassen sich mindestens zwei wichtige Schlüsse ziehen. Erstens: Die Positionen des Verteidigungsministers Irakli Okruaschwili, der als der größte Falke an der jetzigen georgischen Machtspitze gilt, haben sich im Machtsystem Georgiens weiter verstärkt. Okruaschwili setzt sich sowohl für eine Konfrontation mit Russland als auch für Gewaltaktionen gegen Abchasien und Südossetien ein. Die Wahrscheinlichkeit des Versuchs einer militärischen Lösung des Problems der "nicht anerkannten Staaten" nimmt damit weiter zu. Etwaige friedliche Erklärungen, die aus Tiflis zu vernehmen sind, bedeuten lediglich, dass dieser mögliche Krieg als irgendeine antikriminelle Operation getarnt werden könnte (was natürlich nichts an seinem Wesen ändern wird).

Der zweite Schluss besteht darin, dass derart harte Aktionen der georgischen Behörden kaum ohne Wissen der USA vorgenommen werden konnten, die seit der "Rosenrevolution" 2003 faktisch als ein Schutzpatron Georgiens agieren. Bemerkenswert ist die Kontinuität der in den letzten drei Monaten vorgenommenen Schritte. Saakaschwilis Washington-Besuch, Einmarsch der georgischen Truppen ins Kodori-Tal, Verhaftung der prorussischen Oppositionspolitiker, der Beginn eines "intensiven Dialogs" Georgiens und der Nato (eine der wichtigen und obligatorischen Etappe einer atlantischen Integration des Landes) und nun die Verhaftung der russischen Offiziere.

Hätten die USA den georgischen Präsidenten zur Vernunft gemahnt (etwa mit einer Verlangsamung der Integration Georgiens in die Nato), so hätte die Machtspitze in Tiflis ihre Position in den Beziehungen mit Russland trotz aller innenpolitischen Überlegungen und trotz des Radikalismus des Verteidigungsministers gemildert. Die Ereignisse entwickelten sich aber in die direkt entgegengesetzte Richtung: Die Beschleunigung des Prozesses der Nato-Aufnahme Georgiens wurde in Tiflis eindeutig als eine Billigung des "Falken-Kurses" aufgenommen.

Damit können die jetzigen Ereignisse in Georgien im Kontext der sich verstärkenden Konkurrenz im postsowjetischen Raum verstanden werden, die in der Periode der "bunten Revolutionen" besonders deutlich an den Tag getreten ist. Es kann sich um einen Versuch handeln, nicht nur die russischen Truppen Streitkräfte vom Territorium Georgiens zu verdrängen (sie müssen das Land sowieso 2008 verlassen), sondern auch die Friedenstruppen, die für Stabilität in Abchasien und Südossetien sorgen und kein neues Blutvergießen in diesen Regionen zulassen. In Zukunft könnte die militärische Präsenz in einem Land, über dessen Territorium die für die USA strategisch wichtige Ölpipeline Baku - Tiflis - Ceyhan verläuft, durch eine westliche Präsenz ersetzt werden - eben im Rahmen der atlantischen Integration Georgiens.

* Unser Autor Alexej Makarkin ist stellvertretender Generaldirektor des Zentrums für politische Technologien.

Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 30. September 2006;
Internet: http://de.rian.ru


Zum Schaden der Spott

Auszug aus einem Kommentar im Wiener "Standard", von Eduard Steiner

Die erfreuliche Nachricht hat Georgiens Expräsident Eduard Schewardnadse formuliert: Es wird zu keinem Krieg kommen, weil "Georgien ihn nicht führen kann und Russland ihn nicht will". Die negative Nachricht ist, dass der lange schwelende Konflikt zwischen Georgien und Russland mit dem jetzigen Spionageskandal wieder heiß geworden ist, und zwar diesmal, weil ihn der georgische Präsident Michail Saakaschwili braucht. Die Popularität des einstigen Revolutionshelden ist merklich gesunken. Vor der Tür aber stehen wichtige Kommunalwahlen. Außerdem will der russophobe Heißsporn schleunigst in die Nato.
Indem er Russland der Aggression und Spionage zeiht, vereinigt er die Bevölkerung wieder hinter sich. Auch sammelt er so Sympathiepunkte in der Weltöffentlichkeit, die Putins erstarktes Russland verdächtigt, die Souveränität und territoriale Integrität seiner Nachbarstaaten nicht anerkennen zu wollen. (...)

Aus: Der Standard, 30. September/1. Oktober 2006



Die neuesten Meldungen aus Georgien/Russland

  • Im Konflikt zwischen Russland und der früheren Sowjetrepublik Georgien hat die georgische Regierung eine Übergabe der festgenommenen russischen Offiziere nicht ausgeschlossen. In der internationalen Praxis habe es Präzedenzfälle dieser Art gegeben, sagte der georgische Verteidigungsminister Irakli Okruaschwili im georgischen Fernsehsender Imedi, wie die russische Nachrichtenagentur Interfax am 29. Sept. berichtete. "Wir könnten uns möglicherweise entscheiden, in diese Richtung zu gehen, ich schließe das nicht aus", sagte er demnach.
  • Die NATO hat Russland und das prowestlich orientierte Georgien nach der Verhaftung mehrerer russischer Offiziere in Tiflis vor einer Eskalation der Krise gewarnt. NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer rief bei einem Treffen mit Russlands Verteidigungsminister Sergej Iwanow in Portoroz in Slowenien beide Seiten zu Mäßigung auf. Iwanow beschuldigte die Kaukasusrepublik, ihre Konflikte in Abchasien und Südossetien militärisch lösen zu wollen, um dann der NATO beizutreten.
  • Russland unterbrach am 30. September 2006 den seit längerem geplanten Rückzug seiner Truppen aus Georgien, nachdem dort vier russische Offiziere unter Spionage-Verdacht festgenommen worden waren. Das Verteidigungsministerium in Moskau begründete die Unterbrechung des Truppenrückzugs damit, dass die Sicherheit der Soldaten bei einer Durchquerung Georgiens derzeit nicht gewährleistet werden könne. Bis sich die Lage in dem Kaukasusstaat normalisiert habe, würden die russischen Soldaten von ihren Militärbasen aus für Sicherheit sorgen. Die Truppenpräsenz stammt noch aus der Zeit, als sowohl Russland und Georgien zur Sowjetunion gehörten. Der Abzug war in einem bilateralen Abkommen vereinbart worden.
  • Russland ließ am 30. September weitere rund 60 Staatsbürger ausfliegen, darunter Diplomaten und ihre Familien. In der Botschaft in Tiflis verblieben nur noch zwei Diplomaten und Sicherheitskräfte.
  • Die Europäische Union hofft indes auf eine "schnelle Lösung" des Konflikts. EU-Chefdiplomat Javier Solana hat Georgiens Präsident Michail Saakaschwili bei einem Telefonat am späten Abend des 30. September gebeten, "eine schnelle Lösung" zu suchen, heißt es in einer Mitteilung vom Sonntag in Brüssel. Solana habe "vor der Gefahr einer weiteren Eskalation gewarnt". Er habe sich auch angeboten, bei der Herstellung von Kontakten zwischen beiden Seiten zu helfen.
  • Der russische Präsident Wladimir Putin hat Georgien am 1. Oktober scharf angegriffen und den Truppen im Kaukasus-Land den Schießbefehl für den Fall einer Gefahrensituation erteilt. Das Verhalten der georgischen Behörden gegenüber den russischen Offizieren im Land entspreche jenem des gefürchteten früheren Geheimpolizei-Chefs Lawrenti Berija, zitierte die Nachrichtenagentur Interfax den Staatspräsidenten. (Berija war unter dem kommunistischen Diktator Stalin hauptverantwortlich für die blutige Repression von Regimegegnern in der Sowjetunion.) Georgien befinde sich unter dem Schutz von "ausländischen Förderern" und wolle Russland provozieren, fügte der Präsident unter Anspielung auf die USA hinzu. Putin berief am Sonntag seine Sicherheitsberater zu einer Dringlichkeitssitzung ein und warf Georgien vor, einen Staatsterrorismus mit Geiselnahmen zu betreiben, berichtete Interfax.
  • Der Kommandant der russischen Streitkräfte in Georgien, General Andrej Popow, sagte am 1. Oktober in Tiflis, die Truppen seien in Alarmbereitschaft versetzt worden. Für den Fall einer Gefahrensituation sei den Soldaten der Schießbefehl erteilt worden.
  • Auch Georgien hielt sich mit Angriffen auf Russland nicht zurück. Russische Militäragenten trügen Verantwortung für mehrere Sprengstoffattentate in der Kaukasusrepublik, berichteten georgische Medien am 1. Oktober. Die am 27. September verhafteten Offiziere des russischen Militärgeheimdienstes GRU hätten neben ihrer Spionagetätigkeit in den vergangenen Jahren auch Anschläge auf Stromleitungen, die Eisenbahn sowie eine Ölpipeline verübt. Diese Anschuldigungen seien durch Videoaufzeichnungen und Zeugenaussagen gedeckt, teilte die georgische Führung mit.
Quellen: dpa, APA, Reuters, AFP, AP


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