Der Staat, den niemand will
Abchasien war Stalins Urlaubsmekka - heute ist die Region Spielball der Großmächte im Kaukasus
Christian Weisflog, Suchumi *
Vor 14 Jahren hat sich Abchasien die faktische Unabhängigkeit von
Georgien erkämpft. Der Westen
aber will die kleine Schwarzmeerrepublik nicht anerkennen und treibt sie
damit in die Hände
Russlands. Doch auch Moskau will keinen neuen Staat im Kaukasus.
Inal Chaschig ahnte, dass erneut Blut fließen würde. Aber nicht so
schnell: »In ein- bis eineinhalb
Jahren wird es wieder zu einem Krieg kommen. Georgien will unbedingt
kämpfen und Russland ist
auch nicht dagegen«, sagte der Herausgeber einer abchasischen Zeitung
vor wenigen Tagen.
Entspannt saß er dabei im Café Pinguin unter Palmen an der ehemals
mondänen Uferpromenade
der Hauptstadt Suchumi -- im Rücken das bröckelnde Hafengebäude,
gezeichnet vom letzten Krieg
Anfang der 90er Jahre.
Familien berichten über georgische Gewalttaten
Nun hat er bereits begonnen, der neue Krieg. Nicht in Abchasien, sondern
in Südossetien, der
zweiten abtrünnigen georgischen Provinz an Russlands Südgrenze. Am
Freitag marschierten
georgische Truppen dort ein. Am Samstag eröffnete Abchasien eine zweite
Front, so, wie es der
Sicherheitspakt zwischen den beiden separatistischen Regionen vorsieht.
Am Montag forderte
Russland Georgien ultimativ zum Abzug seiner Truppen aus Abchasien auf;
abchasische Truppen
rückten gegen georgische Stellungen vor.
Angst vor dem Krieg hat Chaschig allerdings nicht: »Der Tod ist besser
als ein Leben in
Unterdrückung«, meinte der 39-Jährige mit gelassener Stimme. Er erinnert
sich noch gut daran, als
die georgischen Paramilitärs im August 1992 in Suchumi einfielen, um die
abchasischen
Unabhängigkeitsbestrebungen mit Gewalt zu ersticken. Georgien selbst
befand sich damals in
einem chaotischen Zustand. »Unsere Wohnung wurde in zwei Wochen fünf Mal
ausgeraubt«,
berichtete Chaschig. Fast jeder in Abchasien hat eine schreckliche
Geschichte aus dem Krieg zu
erzählen -- von Mord, Massengräbern oder Vergewaltigungen. Viele
einheimische Georgier, die
damals die Bevölkerungsmehrheit in Abchasien stellten, sollen sich an
den Gewalttaten gegen
Abchasier beteiligt haben.
Die Wunden sind bis heute nicht geheilt. Die internationale Isolation,
in der sich die Republik seit 14
Jahren befindet, erschwert die Genesung zusätzlich. Zerschossene
Häuserwände und ausgebrannte
Wohnungen -- sie prägen Suchumis Stadtbild nach wie vor. Wie ein Mahnmal
ragt das alte
Regierungsgebäude in den Himmel, vom Ruß der Flammen gezeichnet. Einzig
russische
Wirtschaftshilfe und Touristen küssen das ehemalige Urlaubsparadies
langsam aus seinem
Dornröschenschlaf. Im Westen des gebirgigen Küstenstaates werden die
sowjetischen Pensionen
wieder hergerichtet. »Apsny« -- »Land der Seele« -- nennen die Abchasen
ihre Heimat. Bereits Josef
Stalin, der selbst Georgier war, wusste hier das subtropische Klima, die
malerischen Bergbäche und
die von Eukalyptusbäumen parfümierte Luft zu schätzen. Er ließ sich hier
gleich mehrere
Paradies und bringen so wieder etwas Normalität ins Land.
Der große russische Einfluss in Abchasien ist einerseits historisch
bedingt. Auch heute stellen die
Abchasen nur die Hälfte der rund 200 000 Einwohner. Hinzu kommen
Armenier, Russen und immer
noch Georgier. Zugleich treibt die heutige Isolation durch den Westen
die Abchasen in »Russlands
Hände«: »Die USA und Europa wollen Russland hier nicht haben, aber
erreichen immer das
Gegenteil. Wirtschaftlich, sozial und politisch integrieren wir uns
langsam in den russischen Raum«,
meint Chaschig. Obwohl Moskau den Abchasen wirtschaftlich hilft,
verwehrt es ihnen jedoch
ebenfalls die Anerkennung ihrer Souveränität. Denn solange der Konflikt
ungelöst ist, kann Russland
ihn als Machthebel gegen Georgien benutzen. »Eine Anerkennung Abchasiens
durch die USA wäre
für Moskau ein Albtraum«, glaubt der Journalist.
Wer von Suchumi aus Richtung georgischer Grenze nach Osten fährt,
bekommt die Geister des
Krieges unmittelbar zu spüren. Es ist eine gespenstische Straße, gesäumt
von ausradierten Dörfern,
leerstehenden Häusern und überwucherten Zitrus- und Teeplantagen. Als
die Abchasen dank der
Waffenhilfe Russlands sowie ihrer Brudervölker aus dem Nordkaukasus im
Krieg die Oberhand
gewonnen hatten, rückten sie nach Osten vor und vertrieben rund 200 000
Georgier aus dem Land.
Vertriebene kehren wieder zurück
Rund 40 000 von ihnen sind heute wieder nach Abchasien in ihre Häuser
und auf ihr Land
zurückgekehrt, in den Distrikt Gali, ganz im Osten der Region. Die
Georgier werden geduldet, es gibt
auch wieder Mischehen. Wirklich willkommen sind sie jedoch nicht. Den
abchasischen Pass erhalten
sie ebenso wenig wie den russischen. »Wir sind hier Geiseln«, sagt die
63-jährige Lehrerin Flora
Mikaja. Seit Ende Juni hält Abchasien die Grenze zu Georgien und damit
zur nahen Stadt Sugdidi
geschlossen. Die Eröffnung georgischer Schulen würde ihnen verboten,
erzählt Mikaja. Viele
Jugendliche zieht es von Gali nach Suchumi, wo es dank der Investitionen
aus Russland und der
abchasischen Diaspora in der Türkei auch Arbeit gibt. »Ich war ein Jahr
in Suchumi«, erzählt die 25-
jährige Leila. »Niemand bemerkte, dass ich Georgierin bin«, sagt sie.
Ihre Mutter ist Abchasierin, ihr
Vater jedoch Georgier. Und das ist entscheidend für Leilas ethnische
Zugehörigkeit.
Der Fahrer mahnt zur Rückkehr nach Suchumi vor Einbruch der Dunkelheit.
Noch immer gebe es
georgische Paramilitärs in der Gegend, meint Mawri Abscharba. Er ist
Abchase und weiß, warum die
Georgier keine Pässe erhalten: »Sie sind gegen die Unabhängigkeit.«
Tbilissi verlangt von Suchumi
bis heute die Rückkehr aller 200 000 georgischen Flüchtlinge. »Welche
Flüchtlinge?«, fragt
hingegen Valeri Kove, der Direktor des Staatlichen Theaters in Suchumi
und erklärt: »Diese Leute
sind bloß nach Hause zurückgekehrt.« Er spricht damit die
Zwangsumsiedlungen unter Stalin an.
Der sowjetische Diktator hatte Abchasien 1931 gegen dessen Willen als
Autonome Region in die
Georgische Sowjetrepublik integriert. Danach wurden bis 1950 rund 100
000 Georgier in Abchasien
angesiedelt und die Kultur der abchasischen Bevölkerung unterdrückt. »In
meiner eigenen Heimat
bekam ich zu spüren, dass ich ein Mensch zehnter Klasse bin«, sagt Kove
verbittert.
Gegen Angliederung an Georgien
Die Abchasen können nicht verstehen, dass die internationale
Gemeinschaft diese historischen
Wunden nicht erkennt. Indem die Europäer alle Informationen nur von der
georgischen Seite
erhielten, würden diese »unwillentlich zu Stalinisten«, sagt der
abchasische Dichter und frühere
Parlamentsabgeordnete Gennadi Alamia. »Wir sind auch für Georgiens
territoriale Einheit, aber
dazu gehört Abchasien nicht«, erklärt der 59-Jährige und ärgert sich:
»Wir sind das einzige Volk, das
dafür bestraft wurde, dass es einen Krieg gewonnen hat.« Alamia lehnt
eine Wiedereingliederung
jedoch auch aus pragmatischen Gründen ab: »Die Georgier sind vier
Millionen, wir sind 100 000. Das wäre unser Tod.«
Seit dem Kriegsende 1994 wird unter der Schirmherrschaft der UNO um eine
politische Lösung in
dem Konflikt gerungen. Doch seit dem Unabhängigkeitsreferendum, in dem
über 90 Prozent der
Bevölkerung für die Souveränität stimmten, steht für Abchasien der
eigene Status nicht mehr zur
Diskussion. Im Sommer 2006 drangen georgische Streitkräfte in das obere
Kodori-Tal und damit auf
abchasisches Territorium vor -- die Aktion hat das letzte Vertrauen der
Abchasen in den guten Willen
Georgiens zerstört. Auch für den 47-jährigen Taxifahrer Mawri Abscharba
ist eine erneue Anbindung
an Georgien undenkbar: »Das geht nur, wenn sie uns alle umbringen.«
* Aus: Neues Deutschland, 12. August 2008
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