Zwischen Palmen und Ruinen
Abchasier wollen nicht mehr Spielball fremder Mächte sein
Von Piotr Luczak *
Sonne, Palmen und Berge kennzeichnen das kleine Land von ganzen 8700 Quadratkilometern, auf
denen rund 300 000 Einwohner leben. Eigentlich beste Voraussetzungen für florierenden Tourismus
und damit für Wohlstand und Prosperität.
Abchasiens Gebirge erreichen Höhen von 4000 Metern, und die von Palmen und Oleander
gesäumte Küste erstreckt sich über 240 Kilometer entlang des Schwarzen Meeres. Der russische
Schriftsteller Anton Tschechow, der im Sommer 1888 die kaukasische Schwarzmeerküste bereiste,
schrieb: »Die Natur ist so schön, dass sie einen rasen und verzweifeln lassen kann … Wenn ich nur
einen einzigen Monat in Abchasien lebte, so würde ich über fünfzig wunderschöne Märchen
schreiben.« Und auch der Dichter Wladimir Majakowski spürte dem abchasischen Garten Eden
nach: »Überall Blumen und blau das Meer. Ins Auge drängen sich dir Magnolien, in die Nase steigen
dir Glyzinien.«
Vom Krieg bis heute nicht erholt
Heute indes drängen sich dem Reisenden ganz andere Bilder auf – Bilder von Krieg und
menschlichem Leid. Schon oft in ihrer Geschichte waren die Abchasier Spielball fremder Mächte:
Griechen, Perser, Römer, Byzantiner, Osmanen ... Im 19. Jahrhundert übernahm Russland
Abchasien. Mehrere Aufstände wurden von der zaristischen Armee unterdrückt, tausende Abchasier
deportiert, den verbliebenen wurde verboten, an der Schwarzmeerküste zu siedeln.
Zu sowjetischen Zeiten wurde Abchasien 1931 als Autonome Republik der Georgischen SSR
unterstellt, nur noch 17 Prozent der Halbmillionenbevölkerung waren ethnische Abchasier. Doch
beim Zerfall der UdSSR flammten alte Gegensätze wieder auf. Schon in Perestroika-Zeiten
bezeichneten georgische Nationalisten die politisch autonomen Gebiete Abchasien, Südossetien
und Adsharien ohne Hemmungen als »Minen im Körper Georgiens« bezeichneten. Solche
Geisteshaltung ließ nichts Gutes erwarten.
Nachdem Georgien alle Verträge aus sowjetischen Zeiten für nichtig erklärt hatte, proklamierte
Abchasiens Oberster Sowjet die Republik im Juli 1992 als souveränen Staat. Im August desselben
Jahres rückten georgische Einheiten in Abchasien ein, um »Sicherheit und Ordnung«
wiederherzustellen, trafen jedoch auf bewaffnete Gegenwehr. Die Georgier raubten, vergewaltigten,
plünderten und zerstörten alles, was ihnen in den Weg kam, heißt es heute in Abchasien. Die
gesamte Infrastruktur der Region sei dem Erdboden gleich gemacht worden. Der stellvertretende
abchasische Finanzminister Aleksandr Gulja beziffert die Schäden auf 25 Milliarden Dollar. Davon
habe sich die Republik bis heute nicht erholt. Für abchasische Ohren jedenfalls klang es wie Hohn,
als der stellvertretende georgische Parlamentsvorsitzende Paata Davitaia Ende August erklärte,
»der einzige Weg für die Rettung der abchasischen Ethnie« bestehe darin, »dass sie in das
gemeinsame Leben mit Georgien eingebunden wird«. Davitaia – muss man wissen – war zeitweilig
Minister der abchasischen »Exilregierung« in Tbilissi.
Wir fahren von der Hauptstadt Suchum (georgisch Suchumi) in Richtung der Grenze zu Georgien.
Außer einigen Maisfeldern und den im Kaukasus obligatorisch auf der Straße kampierenden Rindern
ist von landwirtschaftlicher Tätigkeit kaum etwas zu sehen. Unsere Begleiterin vom abchasischen
Außenministerium erklärt, aufgrund der internationalen Isolierung der Republik sei die Bestellung
über den Bedarf hinausgehender Anbauflächen nicht notwendig. Für die Versorgung der
Bevölkerung reiche das Bestehende.
Immer wieder tauchen im Krieg 1992/1993 zerstörte oder halb zerstörte Gehöfte auf. Georgisches
Artilleriefeuer in den Jahren 2005 und 2008 tat das Übrige. Auch in Tkuartschal (georgisch
Tkwartscheli), Abchasiens zweitgrößter Stadt, passieren wir zerstörte Industrieanlagen und
ausgebrannte Wohnhäuser. Straßen und Plätze sind menschenleer. Die einst blühende
Bergbaumetropole Abchasiens – so sagt man uns – habe mehr als die Hälfte ihrer Bevölkerung
durch die kriegerischen Auseinandersetzungen verloren. Von August 1992 bis November 1993 sei
die Stadt von georgischen Truppen umzingelt gewesen. Denen gelang es zwar nicht, Tkuartschal zu
erobern, doch der Blutzoll unter der Bevölkerung war hoch. Der Großteil der Überlebenden verließ
die Stadt. Seitdem grassieren Armut und Arbeitslosigkeit, obwohl seit einigen Jahren eine türkische
Firma die Kohlevorräte weiter abbaut.
Wahllokal in ausgebrannter Schule
Wir fahren weiter nach Süden und erreichen den früher bei bei Touristen sehr beliebten Badeort
Otschamtschyra. Großzügig angelegte Parks, leere oder ausgebrannte Hotelanlagen und breite
Straßen lassen die einstige Pracht erahnen. Es sind kaum Autos auf den Straßen, die Passanten
kann man an der Hand abzählen.
Es ist der 26. August – die Abchasier sind zur Wahl eines neuen Präsidenten aufgerufen. Nicht von
ungefähr wurde die Wahl auf diesen Tag datiert: Drei Jahre sind vergangen, seit Russland im
Gefolge des Kaukasuskrieges die Unabhängigkeit der Republik Abchasien (wie auch die
Südossetiens) anerkannt hat. Dem Beispiel sind bisher nur Nicaragua, Venezuela und Nauru
gefolgt. Die Mehrzahl der Staaten betrachtet Abchasien nach wie vor als Teil Georgiens.
In einer völlig ausgebrannten Schule finden wir ein Wahllokal. Die rußigen Wände sind notdürftig mit
rotem Stoff kaschiert. Das Lokal ist leer – nur tropfenweise erscheinen Wähler, deren festliche
Kleidung einen krassen Gegensatz zu der trostlosen Umgebung bildet. Wir fühlen uns unwohl: Was
haben die westlichen Wahlstandards, deren Einhaltung wir beobachten sollen, mit den Bedürfnissen
der hiesigen Bevölkerung zu tun?
Außerhalb des Wahllokals kommen wir mit einer älteren Frau ins Gespräch, die sich als Amira
vorstellt. Die Stadt sei bis Ende 1993 von den Georgiern besetzt gewesen. Armee und Paramilitärs
hätten hier besonders schlimm gehaust. Schulen und medizinische Einrichtungen seien gesprengt,
ganze abchasische Familien erschossen worden. Die Benutzung der abchasischen Sprache habe
drakonische Strafen nach sich gezogen. Sie selbst habe etliche Verwandte verloren. Viele Bewohner
seien nach der Befreiung der Stadt wegen ihrer traumatischen Erfahrungen weggezogen, meistens
in die Türkei oder nach Russland. So verlor die Stadt etwa die Hälfte ihrer Einwohner.
Seit 2008 bemüht sich die Republik zwar langsam, aber beständig um den Aufbau oder die
Erneuerung der Infrastruktur. Dem Tourismus gilt dabei besonderes Augenmerk. Im Jahre 2010
besuchten immerhin – nach offiziellen Angaben – bereits 1,2 Millionen Urlauber das Land. Die
meisten kamen aus dem benachbarten Russland. Deren bevorzugten Adressen waren allerdings die
im Westen, nahe der russischen Grenze gelegenen Orte Gagra und Pizunda. Je weiter man von dort
nach Osten vordringt – eine Ausnahme bildet vielleicht die Hauptstadt Suchum –, desto
bescheidener scheint der Aufbaueifer auszufallen. Es fehlt einfach an Mitteln für eine raschere
Sanierung, obwohl im Vergleich zu 2008 deutliche Fortschritte sichtbar sind.
Trotz wachsender Einnahmen aus dem Fremdenverkehr und der Erschließung weiterer Quellen –
durch den Anbau von tropischen Früchten und Wein oder die Bienenzucht – wird der Staatshaushalt
Abchasiens zu 70 Prozent von der Russischen Föderation bestritten. Immerhin scheinen die Mittel
sinnvoll verwendet zu werden. Beispielsweise ist man bestrebt, die unentgeltliche medizinische
Versorgung zu verbessern. Das neu erbaute und modern ausgestattete Krankenhaus in Suchum ist
ein Beispiel dafür. Obwohl die deutsche Bundesregierung Abchasien politisch in jeder Hinsicht zu
isolieren versucht, stammt ein Großteil der Ausstattung von namhaften deutschen Firmen. Die
andauernde politische und diplomatische Blockade durch die EU ist vor allem jungen Abchasiern
völlig unverständlich. So klagen besonders Studenten, denen trotz Einladung deutscher
Hochschulen ein Visum mit dem Hinweis verweigert wird, der Visumsantrag müsse in Tbilissi – der
Hauptstadt Georgiens – gestellt werden. Für viele wäre das eine Reise ohne Wiederkehr. So wurde
auch Präsident Sergej Bagapsch, der sich wegen einer Krebserkrankung in Deutschland behandeln
lassen wollte, abgewiesen. Er starb kurz darauf in einem Moskauer Krankenhaus, was die jüngsten
Wahlen erforderlich machte.
Neuer Präsident auf Gratwanderung
Unverständlich sind den Abchasiern auch die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes. Abchasien
sei sicher – sicherer als manche deutsche Stadt, sagen sie. Und auf den westlichen Vorwurf der
politischen Nähe zu Russland entgegnet Vizeminister Alexander Gulja: »Erst drängen sie uns an die
Seite Russlands und dann kritisieren sie, dass wir dort sind. Wenn sie uns schon nicht unterstützen,
so sollten sie uns wenigstens in Ruhe lassen.«
Die Präsidentenwahl am 26. August waren ein Indikator, dass Abchasien seine Unabhängigkeit
durch demokratische Prozeduren zu sichern bestrebt ist. Gefährdet ist die Unabhängigkeit von
Georgien nicht zuletzt durch die Gier russischer Oligarchen, die Schönheit Abchasiens zu versilbern.
Der neue Präsident Alexander Ankwab wird es nicht einfach haben, diese Gratwanderung zu
bestehen.
* Unser Autor war als Gast der abchasischen Zentralen Wahlkommission Beobachter der Wahlen am
26. August.
Aus: Neues Deutschland, 26. September 2011
Zurück zur Georgien-Seite
Zurück zur Homepage