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Die Ketten des Prometheus

Georgien: Der Preis ist hoch, den Hunderttausende von Flüchtlingen seit einem Jahrzehnt für den Separatismus Abchasiens zahlen müssen

Von Andrea Strunk

1992 verkündete das kleine nordkaukasische Abchasien seine Unabhängigkeit und wollte nach dem Zerfall der UdSSR nicht länger Teil des georgischen Staates sein. Der daraufhin beginnende Bürgerkrieg dauerte zwei Jahre und köchelt bis heute, auch wenn ihn die Abchasen mit Hilfe Russlands und nordkaukasischer Freischärler gewonnen haben. 260.000 Georgier sind seither aus Abchasien geflohen, die meisten strandeten in der georgische Kapitale Tbilissi. Ein Exil, höchstens für ein paar Monate, glaubten viele.

Das letzte Foto von Akaki Damelia ist im Herbst 1995, ein Jahr vor seinem Tod, entstanden. Das Bild zeigt einen lachenden 25-jährigen Georgier mit dunklen Haaren und gebräuntem Gesicht in einem Straßencafé, es zeigt einen frisch diplomierten Ingenieur und mittellosen Flüchtling aus Abchasien, aufgewachsen im grünen Suchumi an der Riviera des Schwarzen Meeres. Aber die Küste hat er nie wieder gesehen, auch nicht die Berge mit den Wasserfällen, nicht das Haus seiner Eltern, das am Rande Suchumis steht, ein verlassenes Gebäude zwischen anderen verlassenen Gebäuden.

"Alles wird gut", sagt Akaki zu seinem Vater an jenem Tag, als das Foto gemacht wird und er sein Diplom in der Tasche hat. Es ist der Tag, an dem wieder eine Zukunft beginnen soll. Schluss mit dem Leben im neun Quadratmeter großen Zimmer und dem grauen Betonhaus in Tbilissi. Dem ehemaligen Polytechnikum mit seinem bis in den letzten Winkel gefegten und geschrubbten Treppenhaus und den fast 2.000 Bewohnern, die im größten Emigrantenheim Tbilissis Zuflucht gefunden haben.

Doch Akaki findet keine Arbeit, das heißt kein Geld, keine Wohnung, dann wird seine Frau schwanger - im selben Monat ermorden abchasische Paramilitärs georgische Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehren wollten. Suchumi ist endgültig verloren, sagt er zu seinem Vater. Am nächsten Tag stürzt er sich aus dem siebten Stock auf den Hof und ist sofort tot. Tage später springt seine Mutter aus dem gleichen Fenster. Sie überlebt mit zerschmetterten Beinen.

Das war vor sechs Jahren. Seitdem haben viele Flüchtlinge in Tbilissi ein Leben ohne Heimat und Hoffnung selbst beendet. Abchasien schien ihnen immer unerreichbarer. Die Vertriebenen hatten Bücher mit Augenzeugenberichten über abchasische Gräuel, mit Geschichten von abgeschnittenen Köpfen, Vergewaltigungen, Massenexekutionen gefüllt - und mussten wütend und ohnmächtig erleben, dass die Länder des Westens ihnen nicht einen Bruchteil der Aufmerksamkeit schenkten, wie sie Bosnien oder später der Kosovo auf sich zogen. Je mehr sie ignoriert wurden, desto detaillierter hielten die Flüchtlinge alles fest, desto lauter riefen sie nach Gerechtigkeit. Schließlich sei es ihr Land. Von georgischer Schuld gegenüber Abchasien war nie die Rede, wohl aber von Revanche.

Wer den ersten Schuss abgegeben hat ...

Seit dem Waffenruhe von 1994 (s. Übersicht) vergeht kaum ein Tag, an dem die Waffen wirklich ruhen. Bewaffnete Abchasen töten georgische Rückkehrer. Georgische Partisanen ermorden abchasische Männer. Die UN vermittelt, und Russland schürt den Konflikt, um sich seinen Zugang zum Kaukasus nicht verrammeln zu lassen. Wer einmal den ersten Schuss abgegeben, wer wen auf dem Gewissen hat, wer im Recht und wer im Unrecht ist - keiner weiß es mehr genau.

Schon in der Kolchis*, die Jason mit seinen Argonauten besuchte, um das Goldene Vlies und die Königstochter Medea zu stehlen, lebten Georgier und die Vorfahren der heutigen Abchasen zusammen, gemeinsame Dynastien erstanden, Feinde wurden vertrieben. Den Keil trieb schließlich Stalin zwischen sie: Mal drangsalierte er die Georgier, mal die Abchasen, machte stets abwechselnd die einen zu Herrschern über die anderen. Als die Sowjetunion 1991 kollabierte und Georgien die Eigenstaatlichkeit wählte, begannen Krieg, Vertreibung und Elend. Das wohlhabende, paradiesische Abchasien mit seinen weißen Stränden, luxuriösen Hotels, seinen Promenaden und dem Geruch der Orangenhaine wollte ebenfalls unabhängig sein - geblieben ist ihm eine arme, entvölkerte, eine entseelte Landschaft.

Ihren Sohn Akaki haben die Damelias 1996 in Tbilissi begraben, Mutter Damelia liegt seit ihrem Sturz im Bett und kann nicht mehr allein aufstehen. Tag für Tag sieht sie auf jenes Fenster, von dessen Sims sie und der Sohn einst sprangen und auf dem nun das Photo des lachenden, gebräunten Akaki vom Tag der Diplomprüfung steht. In ihrem Neun-Quadratmeter-Zimmer wohnen die Damelias jetzt nur noch zu zweit. Kürzlich haben sie für die Schwiegertochter und den Enkel, der geboren wurde, als sein Vater schon tot war, ein eigenes Zimmer gekauft. Für 500 Lari. Ein rein fiktiver Kauf. Die Häuser gehören dem georgischen Staat, und die Flüchtlinge sind Besetzer, nicht Besitzer. Doch wer zu Verwandten aufs Land geht oder gar nach Abchasien zurück, der gibt sein Zimmer demjenigen, der ihm das meiste bietet. Woher die Damelias das Geld hatten? Natürlich aus Abchasien. Drei Häuser besaßen sie dort. "Zeig die Photos", ruft die Frau aus ihrem Bett. "Die von den Häusern. Und die von Akaki, als er ein kleiner Junge war."



Wenn sich einer in die alte Heimat wagt ...

Vom Hotel Iweria hat man einen der schönsten Ausblicke auf Tbilissi und das landschaftliche Relief, in das die Stadt eingegraben ist. Das 20-stöckige Gebäude mit seiner Fassade aus blaugrünen Natursteinen ist das höchste Haus der Stadt - in der Ferne sieht man die Gipfel des Kaukasus, bei schönem Wetter sogar den Berg Kasbek, an dessen Felsen die Götter Prometheus angekettet haben.

Während der Sowjetzeit war das Iweria das beste Intourist-Hotel Georgiens, heute leben in 19 der 20 Stockwerke Flüchtlinge aus Abchasien, nur die dritte Etage bleibt Touristen vorbehalten. Kein Bildband über das Georgien der neunziger Jahre, in dem das Iweria und seine Metamorphosen nicht abgebildet wären: anfangs mit flatternden Wäschestücken auf den Balkonen, mit Menschen, die sich über die Brüstung lehnen und auf den Rustaweli-Boulevard unter ihnen schauen. Später verschwinden die Balkone, sind mit Planen zugehängt, verbrettert, überdacht, um mehr Wohnraum zu schaffen, einen Platz zum Kochen, der das Ausweichen auf den Flur vermeiden lässt. Inzwischen ist das Hotel Hoffnungslos bunt wie ein Flickenteppich, chaotisch, banal und trostlos.

Auf den Ansturm der Vertriebenen war 1993/94 niemand vorbereitet. 260.000 kamen aus Abchasien** - weitere 50.000 aus dem ebenfalls abtrünnigen Südossetien (s. Karte oben). Jeder neunte Bewohner Tbilissis ist heute ein Vertriebener. Als alle verfügbaren Gebäude belegt waren, besetzten die Flüchtlinge eben Häuser. Verwundete, die man in den Hospitälern untergebracht hatte, weigerten sich, nach ihrer Genesung wieder zu gehen, holten ihre Familien nach und verhängten die Fenster. Man ließ sie bleiben. Es sei ja nur für wenige Monate, glaubte damals jeder. Dann aber vergingen Jahre - Kinder wurden geboren, und Alte sind gestorben, ohne Abchasien je wieder gesehen zu haben. Wenn sich doch einer in die alte Heimat wagte, kam er mit traurigen Nachrichten zurück. Dein Haus steht nicht mehr, deines auch nicht, eure Nachbarn sind verschollen.

Je länger Abchasien verloren bleibt, desto größer wird die Verzweiflung. Mancher fordert in seiner Verbitterung einen neuen Krieg, denn kaum jemand hat Arbeit. Viele versuchen es in den Hilfsorganisationen, als fliegende Händler oder Taxifahrer, wie Tamaz Pataraia, der einmal Justizminister Abchasiens war.

Auch Malkhaz und Georgi gehören zu denen, die noch immer im Hospital wohnen, im rechten Flügel, während im linken der Krankenhausbetrieb weitergeht - auf grauen, nackten Betonfußböden, zwischen feuchten, kahlen Wänden, aus denen die Kabel hängen. Weil keiner von den Männern Arbeit hat und die Zeit nicht vergeht, treffen sie sich fast täglich. Meist im Zimmer von Georgi. Sie spielen Karten, reden manchmal über Abchasien oder darüber, dass ihr Schicksal dem Rest der Welt und der georgischen Regierung egal ist. Sie verfluchen die Toleranz des Westens gegenüber den Russen. Und sammeln weiter Augenzeugenberichte, um zu beweisen, dass es in Abchasien ethnische Säuberungen gegeben hat. Aber Suchumi ist nicht Srebrenica. Nein, einen neuen Krieg wollen sie nicht. "Das Volk trifft keine Schuld an diesem Konflikt", sagt Malkhaz, "die Regierungen sind es gewesen. Aber dann ist soviel Blut geflossen, dass wir einander nicht mehr in die Augen schauen können."

* Fruchtbares Schwemmland in Georgien
** Bis zu den Vertreibungen hatten die Georgier in Abchasien einen Bevölkerungsanteil von 49 Prozent, ethnische Abchasen von 19 Prozent.

Aus: Freitag 41, 4. Oktober 2002



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