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Befehl gegen Hoffnung

Israels Premier Netanjahu ordnet neue Angriffe auf Gazastreifen an

Von Karin Leukefeld *

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat am Dienstag erneut Angriffe auf den Gazastreifen angewiesen. Das erklärte ein Regierungsvertreter in Jerusalem. Nach Angaben der israelischen Armee seien aus dem Gebiet zuvor drei Flugkörper abgeschossen worden, die in der Nähe der Negev-Hauptstadt Beerscheba niedergegangen seien. Zuvor hatten Delegationen Israels und der Palästinenser am Dienstag ihre indirekten Verhandlungen um einen Waffenstillstand fortgesetzt, der am Vortag um 24 Stunden bis Dienstag abend verlängert worden war.

Man müsse nun »jede Minute« nutzen, um eine neue Vereinbarung zu erreichen, hatte der palästinensische Verhandlungsleiter Assam Al-Ahmad da noch gefordert. Die palästinensische Nachrichtenagentur Maan News berichtete unter Berufung auf »palästinensische Quellen in Kairo« gar, daß ein langfristiges Waffenstillstandsabkommen voraussichtlich in 15 Tagen unterschriftsreif sei. Die israelische Verhandlungsführerin, Justizministerin Zipi Livni, forderte derweil eine »neue Ordnung« im Gazastreifen. Die Hamas müsse »einen Schlag erleiden, militärisch und politisch«, so Livni im israelischen Rundfunk. Die palästinensische Autonomiebehörde (PA) müsse dort wieder die Kontrolle übernehmen. Livni forderte zudem erneut die Entmilitarisierung Gazas.

Der Leiter der Kultur- und Informationsabteilung der Palästinensischen Mission in Berlin, Abdullah Hidschasi, sagte auf Anfrage von jW, beide Seiten wollten, »daß die Waffenruhe Bestand hat«. Israel sei in einem Dilemma, weil der Druck der eigenen Bevölkerung zunehme. Auch »die Palästinenser brauchen Ruhe«. Bald beginne an den Schulen wieder der Unterricht, doch die Klassenräume seien mit Vertriebenen gefüllt. Daher müßten Ausweichquartiere gefunden werden, »die Kinder dürfen kein Schuljahr verlieren«.

Das trifft die Stimmung in der Bevölkerung. Der Bürgermeister von Aschkelon, der Hafenstadt im Süden Israels, auf die viele Raketen aus dem Gazastreifen abgeschossen worden waren, hatte an Ministerpräsident Benjamin Netanjahu appelliert, endlich eine Lösung zu finden. Wenn es nicht mit Krieg möglich wäre, die Raketen zu stoppen, dann müsse verhandelt werden. Riyad Abul Sultan Minis, der derzeit mit seinen zehn Kindern und seiner Frau in einer UN-Schule im Gazastreifen lebt, zeigte sich gegenüber Journalisten skeptisch über den Ausgang der Verhandlungen in Kairo. »Vielleicht stoppen sie den Krieg für zwei Stunden, aber vielleicht fängt Israel auch wieder an zu bombardieren.« Die Palästinenser wollten »einen Waffenstillstand für immer, nicht für drei und nochmal drei Tage«, ergänzte seine Frau Wafa. Die Israelis erfreuten sich an der Ruhe, meinte Manal Abu Abed, eine Nachbarin. »Und was ist mit mir? Mein Haus ist zerstört und mein Mann und ich müssen mit unseren Kindern in einer UN-Schule leben.«

Die Palästinensische Autonomiebehörde läßt derzeit beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag prüfen, ob die Palästinenser der Organisation beitreten können. Sie wollen dort untersuchen lassen, ob Israel während des Krieges Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Der britische ­Guardian berichtete am Montag, der Strafgerichtshof versuche die Anfrage auf die lange Bank zu schieben, weil man »unter internationalem Druck« stehe, den Krieg in Gaza nicht zu behandeln. Das Thema spielt laut Guardian auch bei den Verhandlungen in Kairo eine wichtige Rolle.

Hidschasi erklärte gegenüber jW allerdings, der Antrag in Den Haag sei »kein Thema« bei den Gesprächen in Kairo. Er räumte aber internationalen Druck seitens der USA und der EU auf die Palästinenser ein, sich nicht an den Strafgerichtshof zu wenden. Die Autonomiebehörde habe aber die volle Unterstützung der Bevölkerung für den Gang nach Den Haag. »Israel muß endlich eine Lektion erhalten für das, was es getan hat. Sonst haben wir alle zwei Jahre einen neuen Krieg«, so Hidschasi.

Der Konsul Frankreichs im Gazastreifen will ebenfalls gegen Israel juristisch vorgehen. Es sei nicht das erste Mal gewesen, daß Israel sein Haus bombardiert habe, sagte Madschdi Schakkura vor Journalisten. Doch dieses Mal wurde das zweistöckige Haus vollständig zerstört. »Wenn Israel das Haus eines Diplomaten angreift«, so Schakkura, »ist das die Botschaft an die ganze Welt, daß es über jedem steht und über dem Völkerrecht«.

* Aus: junge Welt, Mittwoch 20. August 2014


Ausgefranste Fronten in Kairo

Zerstrittenheit bei den Gaza-Verhandlungen lähmt zunehmend auch die palästinensischen Fraktionen

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv **


Israel und die Palästinenser haben am Dienstag weiter um eine Waffenstillstandsvereinbarung gerungen; eine bis Dienstagnacht geltende Feuerpause brach bereits am Nachmittag zusammen.

GZA – der Traum von Unabhängigkeit und Freiheit lässt sich in drei Buchstaben fassen. Einige Jahre, um die Jahrtausendwende, war dieser Traum Wirklichkeit: Auf dem internationalen Flughafen mit dem Code GZA für Gaza hoben täglich die drei Maschinen der Palestinian Airways ab. Dann begann die zweite Intifada; Israel bombardierte Tower und Rollbahn. Und der Flughafen, dessen Bau einst in den Osloer Übereinkünften vereinbart worden war, geriet in der internationalen Diplomatie in Vergessenheit, während er für die Palästinenser ein Symbol blieb.

Heute steht GZA, der nur noch eine Ruine inmitten einer Wüstenlandschaft ist, wieder im Blickfeld. Im Ringen um einen Waffenstillstand nimmt die Wiedereröffnung des Flughafens ebenso eine zentrale Rolle ein wie der Bau eines Seehafens. Am Dienstag kämpften beide Seiten weiter in Kairo um eine Vereinbarung. Die fünftägige Feuerpause, die am Montagabend um 23 Uhr MESZ zu Ende gegangen war, wurde um einen Tag verlängert, brach aber vor ihrem Ende zusammen: Ab dem Nachmittag wurden wieder Raketen auf Israel abgefeuert; Israels Luftwaffe bombardierte Ziele im Gaza-Streifen. Israels Verhandlungsdelegation wurde aus Kairo zurückgerufen. Unklar war, ob dies das Ende der Gespräche bedeutet: Die Israelis kehren ohnehin allabendlich nach Israel zurück, um die Regierung zu unterrichten.

Über die Chancen auf eine Einigung hatten sich die Beteiligten zuvor widersprüchlich geäußert. Während israelische Regierungskreise darum bemüht waren, die Hoffnungen auf eine Vereinbarung zu dämpfen, äußerte sich der Islamische Dschihad zuversichtlich. Die palästinensische Regierung in Ramallah, die offiziell die Verhandlungen führt, gibt sich verhalten optimistisch. Eine Einigung sei möglich, sagte der palästinensische Botschafter in Kairo, Jamal Schobak. Die Hamas selbst ist pessimistisch. Ohne detaillierten Zeitplan werde es keine Übereinkunft geben.

So will Israel die Blockade nur teilweise aufheben und die Verhandlungen über Flug- und Seehafen auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschieben. Hamas und palästinensische Regierung fordern allerdings, die Gespräche einen Monat nach der Unterzeichnung einer Vereinbarung aufzunehmen. Außerdem möchte man gerne festgelegt haben, dass Israel und Ägypten die Grenzen nicht mehr nach eigenem Ermessen schließen dürfen.

Doch nicht nur zwischen Israel und den Palästinensern wird um den Flughafen gerungen – auch die palästinensischen Fraktionen ringen um die Deutungshoheit darüber, wer ein solches Zugeständnis am Ende für sich beanspruchen darf. So will die palästinensische Regierung die beiden Infrastrukturprojekte im Kontext der Osloer Übereinkünfte sehen: Man hofft darauf, dass dadurch Präsident Mahmud Abbas und seine Regierung gestärkt werden. Dies sei unerlässlich, denn Israel und die internationale Gemeinschaft erwarten von den Sicherheitsdiensten der palästinensischen Regierung, dass sie künftig die Grenzen im Gaza-Streifen sichern und dort wieder hoheitliche Aufgaben wahrnehmen. Doch Khaled Maschal, Chef des Politbüros der Hamas in Katar, scheint bemüht, Flug- und Seehafen als Erfolg für die Hamas zu beanspruchen. Am Sonntag lehnte er einen Entwurf für ein Abkommen ab. Die Forderung müsse sofort erfüllt werden; Israels Delegation änderte daraufhin ihre Haltung von »in einem Monat« in »irgendwann« um. Es dürfe nichts geben, was die Hamas als Erfolg für sie werten kann, sagte Justizministerin Zippi Livni.

Denn in Jerusalem hofft man nach wie vor darauf, die Hamas so weit zerschlagen zu können wie irgend möglich – und in Ramallah teilt man die Hoffnung: Am Montag wurde bekannt, dass sowohl palästinensische als auch israelische Sicherheitskräfte im Westjordanland mehr als 100 Hamas-Mitglieder festgenommen haben: Sie hätten, so die Version auf beiden Seiten, eine dritte Intifada und den Sturz von Abbas geplant.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 20. August 2014


»Kritik wird als Illoyalität gewertet«

Eine palästinensische Abgeordnete der Knesset darf sechs Monate nicht im israelischen Parlament reden. Ein Gespräch mit Hanin Zoabi ***

Ihnen ist nach einem Interview mit Radio Tel Aviv am 18. Juni als Abgeordnete des israelischen Parlaments für sechs Monate das Recht entzogen worden, in der Knesset Reden zu halten und Fragen zu stellen. Wie wurde diese ungewöhnliche Maßnahme begründet?

Das Redeverbot gilt für sechs Monate, das ist die längste Dauer, die die Knesset aussprechen kann. Es war eine politische Entscheidung, keine ethische, wie es die Regeln des Ethikausschusses verlangen. Man versucht, meine politische Redefreiheit einzuschränken. Der Grund war, daß ich mich weigerte, die Entführer der drei israelischen Jugendlichen »Terroristen« zu nennen, obgleich ich ihr Verhalten nicht gebilligt habe und nicht billige. Generell halte ich Widerstand gegen die israelische Besatzung und Unterdrückung für gerechtfertigt.

Der israelische Generalstaatsanwalt Jehuda Weinstein ist übrigens der Ansicht, daß meine Äußerungen durch das Recht der freien Rede gedeckt sind. Ich habe mich geweigert, die israelische Kategorisierung zu übernehmen, nach der die Palästinenser Terroristen und die Israelis die Opfer sind. Das ist eine Kategorisierung mit der kalkulierten Funktion, das israelische Vorgehen gegen die Palästinenser zu rechtfertigen und den Kampf der Palästinenser für Gerechtigkeit und Freiheit zu delegitimieren.

Dem Radioreporter war die Distanzierung von der Entführung offenbar nicht ausreichend …

In arroganter Manier wollte er meine Antworten bestimmen, er wollte die Leute hinter der Tat ohne den Kontext der Besatzung beschreiben. Dieser Kontext rechtfertigt Widerstand gegen inhumane Unterdrückung. In Israel haßt man den gesellschaftlichen Kontext und die Geschichte, da geht es nur um gut oder böse. Dagegen habe ich mich gewehrt.

Noch einmal nachgefragt: Entführungen von Jugendlichen als Mittel des Protests gegen die Besatzung lehnen Sie ab?

Ja.

Hat es schon einmal eine ähnliche Bestrafung eines Mitglieds der Knesset gegeben?

Nein, so etwas hat es in der Vergangenheit nicht gegeben, die höchste Strafe bisher waren zwei Wochen Redeverbot. Das richtete sich ebenfalls gegen mich wegen meiner Beteiligung an der internationale Gaza-Flotille auf der »Mavi Marmara«. Das Höchstmaß gegen ein jüdisches Knesset-Mitglied war ein Tag.

Ob man Jude oder Palästinenser ist, spielt in allen Angelegenheiten eine Rolle, auch im israelischen Rechtssystem. Strafen für Diebstahl, Tötung oder auch bei Demonstrationen fallen bei Palästinensern und Juden in der Regel unterschiedlich aus. In der Knesset ist das ebenso.

Gab es in Israel Widerspruch oder Proteste gegen Ihr Redeverbot?

Sehr wenig. Selbst die, die mich unterstützen wollen und Israel kritisieren, sind verängstigt. Es herrscht die Meinung vor, daß Gewalt und Unterdrückung für Israel legitime Mittel der »Selbstverteidigung« sind. Alle Meinungsumfragen zeigen eine Zunahme von Rassismus zulasten demokratischer Werte in Israel. Seit 60 Jahren wachsen die Isrealis damit auf, daß den Palästinensern ihre Rechte verweigert werden. Israel sieht die Rechte von Palästinensern in ihrer Heimat als Bedrohung. Jede Kritik an Israel wird als Mangel an Loyalität gewertet. Wenn man die Politik der Regierung als palästinensischer israelischer Staatsbürger kritisiert, gilt das als illoyal, wenn Araber das tun, wird von Terrorismus gesprochen, und im Falle von Ausländern heißt es dann »Antisemitismus«. Alles wird als Bedrohung Israels gesehen.

Sie sind in der Knesset wahrscheinlich die am meisten gehaßte Abgeordnete. Hat das 2010 mit Ihrer Teilnahme an der internationalen Gaza-Flotille begonnen?

Ja, das begann nach meiner Teilnahme an der Gaza-Flotille. Damit hatte ich die rote Linie der freien Meinungsäußerung und Aktion überschritten. In Israel werden Rechte von Palästinensern nicht durch das Gesetz bestimmt, sondern durch politischen Konsens und Hegemonie. Die Ideologie des »jüdisches Staates« legalisiert jüdische Privilegien gegenüber Palästinensern.

Interview: Hanin Zoabi

*** Aus: junge Welt, Mittwoch 20. August 2014


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