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Zurück in die Zerstörung

Nach 50 Tagen Krieg in Gaza: Israels Regierungschef Netanjahu verständigt sich mit Palästinensern auf Waffenstillstand. Ägypten will Grenzübergang Rafah öffnen

Von Karin Leukefeld *

Nach einer Nacht voller Freudendemonstrationen und Feiern haben sich Tausende Palästinenser in Gaza am Mittwoch morgen auf den Heimweg gemacht. Viele werden dort, wo sie einst gewohnt haben, nur Trümmer vorfinden. In Israel wurde ein Mann beerdigt, der kurz vor dem am Dienstag vereinbarten Waffenstillstand von einer im Gazastreifen abgefeuerten Rakete getötet worden war.

Den ganzen Dienstag hatte die israelische Luftwaffe noch massive Angriffe auf den Küstenstreifen geflogen. Umgekehrt waren aus dem Gazastreifen mehr als 70 Raketen auf Israel abgeschossen worden. Gleichzeitig hatten Medien darüber spekuliert, daß es einen Waffenstillstand geben könnte. Als am Abend der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), Mahmud Abbas, einen dauerhaften Waffenstillstandes ab 19 Uhr Ortszeit verkündete, schwieg Israel zunächst.

Am Mittwoch morgen schließlich bestätigte eine Armeesprecherin, daß der Waffenstillstand halte: »Seit Beginn des Waffenstillstandes haben die israelischen Streitkräfte keinen Angriff in Gaza gestartet, und es gibt keinen Raketenbeschuß auf Israel aus Gaza«, sagte sie.

Der stellvertretende Hamas-Vorsitzende Mssa Abu Marsuk sagte der palästinensischen Nachrichtenagentur Maan News, Israel habe zugestimmt, alle Grenzübergänge nach Gaza zu öffnen, damit humanitäre und Wiederaufbauhilfe den Küstenstreifen erreicht. Auch Rafah, der Grenzübergang nach Ägypten, solle dauerhaft wieder geöffnet werden. Einzelheiten über den Wiederaufbau würden bei einer Geberkonferenz in Ägypten im September besprochen, so Marsuk. Die Palästinenser würden dort durch die Regierung der nationalen Einheit vertreten sein. Weiterhin habe Israel zugesagt, daß die Fischer von Gaza nun bis zu sechs Seemeilen auf das Meer fahren dürften, diese Zone solle bis Ende 2014 auf zwölf Seemeilen ausgeweitet werden. Auf die von Israel angeordnete Pufferzone im gemeinsamen Grenzgebiet werde verzichtet. Weiterhin würden alle Beschränkungen für Geldtransfer gestoppt. Damit könnten die Gehälter aller Angestellten in Gaza bezahlt werden. Israel habe zugesagt, gezielte Tötungen von Widerstandskämpfern einzustellen. Weitere Punkte, so auch die Freilassung von Gefangenen und die Übergabe sterblicher Überreste von israelischen Soldaten, sollten in vier Wochen in einer nächsten Verhandlungsrunde besprochen werden. Ägypten sei Garant des Waffenstillstands.

Israel will die vollständige Entwaffnung der Hamas und anderer bewaffneter palästinensischer Gruppen erreichen. Doch Mahmud Al-Zahar, hochrangiger Hamas-Politiker im Gazastreifen, erklärte, daß der militärische Flügel der Hamas sich »weiterhin bewaffnen und die Fähigkeiten des Widerstandes ausbauen« werde. Ein Sprecher des militärischen Flügels der Volkswiderstandskomitees sagte, die Vereinbarung basiere auf dem Abkommen von 2012. Die Öffnung der Grenzübergänge bedeute das »Ende der Belagerung« und einen umfassenden Wiederaufbau. Der palästinensische Präsident Abbas räumte ein, daß »Katar eine Rolle dabei gespielt« habe. Dort habe er sich mit dem Hamas-Exilführer Khaled Meschal getroffen, um das Vorgehen abzustimmen.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu äußerte sich am Mittwoch bis jW-Redaktionsschluß nicht, allerdings verzichtete er Medienberichten zufolge darauf, das Sicherheitskabinett über den Waffenstillstandsvorschlag Ägyptens abstimmen zu lassen. In etlichen Kommentaren hieß es, vermutlich habe er von dem Gremium keine Zustimmung erhalten. Regierungssprecher Mark Regev meinte lediglich: »Hoffen wir, daß dieser Waffenstillstand hält.«

Israelische Medien zeigten sich kritisch. Nach 50 Tagen Krieg und dem Tod Dutzender Soldaten und Zivilisten »durch eine Terrororganisation« habe man »sehr viel mehr als die Erklärung eines Waffenstillstandes erwartet«, hieß es in der Zeitung Yedioth Ahronoth. Der Konflikt habe für Israel keinen Sieg, sondern den »Kollaps der Tourismusindustrie und einer Wirtschaftsrezession« gebracht, hieß es in der Tageszeitung Maariv.

US-Außenminister John Kerry bezeichnete den Waffenstillstand als »Möglichkeit, keine Gewißheit«. Sein deutscher Amtskollege Frank-Walter Steinmeier brachte erneut die seit 40 Jahren erfolglosen »Verhandlungen über eine Zweistaatenlösung« ins Spiel. Die Idee basiert auf der UN-Resolution 194 aus dem Jahr 1948, wird aber von Israel systematisch boykottiert.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon warnte angesichts der »schweren menschlichen Verluste« und der »vernichtenden materiellen Zerstörung« in Gaza vor einer Wiederaufnahme der Kämpfe. »Jeder Bruch des Waffenstillstandes wäre absolut unverantwortlich«, sagte er.

* Aus: junge Welt, Donnerstag 28. August 2014


Beide Seiten sehen sich als Sieger

Die neue Waffenruhe zwischen Israel und Palästinensern bietet Chancen

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv **


Israel und die Palästinenser haben sich auf eine dauerhafte Waffenruhe geeinigt. Im Gaza-Streifen feiert sich die Hamas als Siegerin; in Israel herrscht ein Gefühl der Niederlage.

Am Tag nach dem Kriegsende beginnt das Aufräumen. Im Gaza-Streifen wühlen die Menschen durch die Trümmer der Häuser auf der Suche nach Verwertbarem, während sich die Hamas, die Essedin-al-Kassam-Brigaden als große Sieger dieses 50-tägigen Konflikts in Szene setzen. »Wir haben es geschafft, Israel die Stirn zu bieten, uns nicht zurückdrängen zu lassen«, sagt ein Sprecher der politischen Führung der Hamas in Gaza.

In Israel schlug mit dem Beginn der Waffenruhe am Montag um 18 Uhr MESZ auch die Stunde der Abrechnung. Quer durch das politische Spektrum wirft man Regierungschef Benjamin Netanjahu vor, am Ende nichts erreicht zu haben »als eine Rückkehr zum Status quo«. So Naftali Bennett von der rechten Partei »Jüdisches Heim«. Israels Militär müsse die Hamas vollständig zerstören, fordert er.

Zehawa Gal-On, Vorsitzende der linksliberalen Partei Meretz, kritisiert derweil, es habe bereits vor Wochen die Chance gegeben, einen diplomatischen Prozess zu beginnen; die mehr als 2100 Toten seien vermeidbar gewesen. »Nur ein echter Friedensvertrag kann echten Frieden bringen«, erklärt der Politiker entschieden.

Denn das, was Israels Regierungschef und die Palästinenser am Montag vereinbart haben, ähnelt dem, was man bereits 2012 zum Ende des vorangegangenen Krieges vereinbart hatte: Israel wird die Grenzen teilweise und unter strenger Kontrolle öffnen; eingeführt werden dürfen nur Güter, die nicht auch für den Waffenbau verwendet werden können. Die Fischereizone wird von drei auf sechs Seemeilen ausgeweitet, und Ägypten wird den Grenzübergang Rafah aufmachen. Die von Israel vorgeschriebene Pufferzone entlang der Gaza-Seite der Grenze wird von 300 auf 100 Meter verringert. Neu ist hingegen, dass anders als 2012 die palästinensische Regierung in Ramallah eine größere Rolle im Gaza-Streifen spielen soll. Sie soll die von der internationalen Gemeinschaft zur Verfügung gestellten Gelder für den Wiederaufbau verwalten und die Sicherheitskräfte stellen, die die Grenzen sichern.

Im Büro des israelischen Premierministers feiert man das als Erfolg. Wenn man sich das Ganze anschaue, dann könne man sehen, dass Israel den Krieg doch gewonnen habe. Zwar werde der Gaza-Streifen nicht demilitarisiert, doch die Hamas und die Kampfgruppen dort seien stark geschwächt. Trotz der Freudenfeiern, die unmittelbar nach dem Beginn des Waffenstillstandes begannen, sei es so, dass man auf keine der Forderungen der Hamas eingegangen sei.

Und tatsächlich ist es so, dass die meisten Dinge, die dem Forderungskatalog der Palästinenser nahekommen, auf später verschoben worden sind. In einem Monat sollen beide Seiten darüber verhandeln, ob palästinensische Gefangene – sowohl jene, die ab Juni festgesetzt wurden, als auch jene, die ursprünglich im April frei gelassen werden sollten – aus israelischen Gefängnissen entlassen, ob Flug- und Seehafen gebaut werden. Dann soll auch über die Übergabe von Leichenteilen und Besitz getöteter israelischer Soldaten gesprochen werden. Auf der Liste steht zudem, und das ist neu, die Freigabe von bislang eingefrorenen Konten der Hamas in Ägypten. Denn trotz der öffentlichen Unterstützung in diesen Tagen: Die Organisation hat auch im Inneren zu kämpfen. Die gut 40 000 Beschäftigten von Polizei und öffentlichem Dienst wurden bereits seit Monaten nicht mehr bezahlt.

Doch es ist auch so, dass sich der Konflikt nun zu den Vereinten Nationen in New York verlagern wird. Dort wird im Verlauf des kommenden Monats um den Inhalt einer UNO-Resolution gerungen werden, von der Jordaniens Regierung (die den Entwurf ursprünglich eingebracht hatte) und mehrere europäische Regierungen (die dazu in der vergangenen Woche Ergänzungsvorschläge vorgelegt hatten), darunter Deutschland, hoffen, dass sie den Konflikt dauerhaft beenden wird. Die USA haben nach Angaben einer Sprecherin des dortigen Außenministeriums zugesagt, dafür sorgen zu wollen, dass die Sicherheitsinteressen Israels berücksichtigt werden. Aber verhindern will man eine Resolution nicht.

** Aus: neues deutschland, Donnerstag 28. August 2014


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