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Wohin man in Gaza schaut: Trümmer

Die lang ersehnte Ruhe in dem geschundenen Palästinensergebiet wird überschattet von der Zukunftsfrage

Von Martin Lejeune, Gaza-Stadt *

Die Menschen im Gaza-Streifen atmen nach Inkrafttreten der Feuerpause auf. Sehr viele aber stehen fassungslos vor Trümmern ihrer Häuser. Die Schäden sind riesig.

Es ist ruhiger geworden in Gaza. Die Drohnen kreisen zwar noch über unserem Viertel, stören Mahers, meines Gastgebers Mittagsschlaf, aber es wird nicht mehr bombardiert. »Gott sei Dank finden wir jetzt, nach den vier Wochen der ständigen Explosionen um uns herum, endlich wieder etwas Ruhe«, sagt Ahmad (16), der in unserer Straße wohnt. Ruhe, endlich etwas lang ersehnte Ruhe vor Bomben und Raketen, um zumindest für drei Tage so etwas wie den Anschein eines normalen Alltags leben zu können. »Ich kann endlich wieder meine Freunde treffen«, freut sich Ahmad, der die Feuerpause nutzt, um auf der Straße vor unserem Haus mit ihnen Fußball zu spielen.

Fußballspielen – das war zuletzt etwas Lebensgefährliches geworden, weil man dafür auf die Straße gehen musste und weil jeder, der sich auf der Straße bewegt, von den Aufklärungsdrohnen der israelischen Luftwaffe als Kämpfer der Hamas hätte identifiziert werden können. Natürlich versehentlich, wie israelische Armeesprecher nicht müde werden zu betonen. So geschehen Mitte Juli, als Bakr (9) und seine drei Cousins Ahed (10), Zakariya (10) und Mohammad (11) vor einem mit Journalisten voll besetzten Hotel in Gaza-Stadt von den Bomben der Israelis getötet wurden, während sie am Strand Fußball spielten.

»Spätestens seit diesem Vorfall hat die israelische Armee in meinen Augen ihre Unschuld verloren«, kommentiert ein bis dahin als proisraelisch bekannter Journalist, der kurz zuvor noch selber mit den Jungs Fußball gespielt hatte und die Bombardierung von der Terrasse seines Hotels mit eigenen Augen verfolgte.

Viele der 600 000 Binnenvertriebenen nutzen jetzt die Zeit des Rückzugs der israelischen Armee, um in ihre Häuser im zuvor heftig umkämpften Norden und Süden des Gaza-Streifens zurückzukehren. Dort angekommen, schauen sie fassungslos auf das, was von ihren Häusern übrig geblieben ist. Manchmal ist es nicht mehr als ein zerfetztes Kleidungsstück, das zwischen den Trümmern im Wind hin und her weht.

Trümmer, wohin man schaut. Man traut sich ob dieses Anblickes kaum zu atmen. Es bricht einem das Herz. Shijaiya, Bureij, Khan Yunis, Rafah – das waren einmal Städte, in denen Menschen in Fabriken und in Behörden arbeiteten, Kinder zur Schule gingen. Städte, in denen Muslime fünf Mal am Tag zum Beten in ihre Moscheen gingen. Das war das Leben von 1,8 Millionen Menschen im Gaza-Streifen vor dem 8. Juli.

Es war kein gutes Leben, denn sie leiden seit acht Jahren unter Abriegelung und Blockade seitens der einzigen Nachbarn Israel und Ägypten. Aber es war ein Leben zumindest mit Wasser, Strom und Telefon. Das alles gibt es nicht mehr seit der Bombardierung in der Nacht vom 28. auf den 29. Juli, als das einzige Elektrizitätskraftwerk des Gaza-Streifens zerstört wurde, das Finanzministerium, viele Moscheen, Wohnhäuser und Geschäfte. Die zivile Infrastruktur ist durch die israelischen Streitkräfte komplett zerstört worden, Straßen sind nicht mehr befahrbar, Brunnen verschüttet, Schulen bombardiert, Strommasten umgekippt.

»Wie lange wird es dauern, bis ihr all die Trümmer, all den Schutt weggeräumt haben werdet?«, frage ich Maher. »Wohin überhaupt sollen wir denn die Trümmer und den Schutt karren?«, entgegnet er mir. »Wir haben keine freien Flächen und auch nicht genug Bagger und Lastwagen, um alles einzusammeln.« Die Menschen schaffen derweil mit ihren bloßen Händen die Trümmer beiseite, ohne Werkzeug, ohne Schaufeln, ohne Handschuhe. Bei 36 Grad.

Sie versuchen, sich einen Weg zu bahnen durch die Trümmer, um irgendwie, irgendwann einen Neuanfang zu wagen. »Neu anfangen wofür?«, fragt mich Maher, als ich von ihm wissen will, wie lange das dauern werde unter den Bedingungen des Embargos. Bisher konnten Steine, Zement, Ziegel nur durch Schmugglertunnel aus Ägypten in den Gaza-Streifen gelangen. Tunnel, die jetzt laut Aussagen der israelischen Armeesprecher alle zerstört worden sind. »Wie also und wofür?«, fragt Maher müde, dem wie allen hier in Gaza die Erschöpfung infolge schlafloser Bombennächte anzusehen ist. »Damit uns die Israelis in zwei Jahren wieder alles kaputt bombardieren können?«

* Aus: neues deutschland, Donnerstag 7. August 2014


Kein Licht in Gaza

Kraftwerk und Fabriken zerstört. Tausende traumatisierte Kinder

Von Karin Leukefeld **


Während die Waffen in Gaza schweigen, wird in diesen Tagen das furchtbare Ausmaß der Zerstörung deutlich. Menschen haben Augen und Gliedmaßen verloren, andere sind verbrannt. Kinder sind traumatisiert, haben ihre Familien verloren. Magere Esel und Maultiere ziehen Holzkarren, mit denen Überlebende zu ihren Häusern gehen, um in den Trümmern nach Überbleibseln zu suchen. Ein Mann hält sechs Hühner in die Kamera von Pressefotografen und ruft: »Das ist alles, was mir geblieben ist.« Das Elektrizitätswerk wurde von Israel zerstört, daher gibt es keinen Strom. Ohne den läuft kein Kühlschrank, um Lebensmittel in der Sommerhitze aufzubewahren. Keine Pumpe funktioniert, um Wasser in die Tanks zu pumpen.

Mindestens 134 Betriebe und kleine Fabriken wurden zerstört. Durch die Aussetzung der Produktion wegen des 30tägigen Krieges verlor die Wirtschaft des Gazastreifens 70 Millionen US-Dollar, 30000 Beschäftigte waren ohne Arbeit. Es seien Fabriken angegriffen worden, die »für die Besatzungsmacht keine Sicherheitsgefahr darstellten«, heißt es in einer Erklärung der Industrieunion von Gaza. »Die israelische Kriegsmaschinerie hat absichtlich die Infrastruktur der nationalen palästinensischen Industrie zerstört.«

Vier Tage lang hatte Mohammed Dschabir Abu im Al-Bureidsch Flüchtlingslager in den Trümmern des Hauses seines Cousins nach der Leiche von dessen dreijährigem Sohn Jamin gesucht – erfolglos. Die ganze Familie – 22 Personen – war durch einen Raketenangriff der israelischen Luftwaffe am Eid Al-Fitr, dem Fest zum Ende des Fastenmonats Ramadan, getötet worden. Sie hatten sich getroffen, um gemeinsam die Angst und Traurigkeit über den Krieg zu zerstreuen, als die Rakete das Haus zerstörte. Mohammed war schließlich von Krankenhaus zu Krankenhaus gezogen, wo die Leichen gesammelt und aufgebahrt werden, bevor man sie zur Grabe trägt. Endlich fand er den Jungen schwer verletzt auf der Intensivstation des Schifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt. Sein Gesicht und eine Schulter sind durch Verbrennungen verunstaltet, seine Hand ist eingegipst. Wie durch ein Wunder hatte er den Raketenangriff überlebt. Nachbarn hatten den Jungen mit einem Rettungssanitäter in ein nahegelegenes Krankenhaus in Deir Al-Balah gebracht, als sie bei der Bergung der Leichen merkten, daß er noch lebte. Nachdem auch das Krankenhaus bombardiert worden war, brachte ihn ein junger Freiwilliger ins Schifa-Hospital. Weil sich zunächst niemand nach dem Jungen erkundigte, schrieben die Ärzte »unbekannt« auf seine Krankenakte.

Wenn Jamin seine Verletzungen überlebt, wird Mohammed ihm ein neues Zuhause geben. Doch viele andere Kinder werden nach diesem Krieg ohne Familien bleiben, Tausende werden verkrüppelt und mit schweren psychischen Schäden aufwachsen. Unter den 9500 von den UN registrierten Verletzten sind 2877 Kinder. In einer Schule in Dschabalija arbeiten Therapeuten mit Kindern, von denen viele Raketenangriffe unmittelbar miterlebten. Für jede Gruppe ist eine halbe Stunde Zeit, dann kommen die nächsten. Ein Junge malt seinen getöteten Großvater, ein anderer malt seinen Großvater, dem beide Beine abgerissen wurden. Alle Kinder sagen, daß sie Angst vor den Kampfjets und Raketen haben, alle mußten aus ihren Häusern fliehen. Für rund 100000 traumatisierte Kinder stehen 100 Therapeuten zur Verfügung. Nach Schätzungen des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF) sind im Gazastreifen heute etwa 326000 Kinder auf psychologische Hilfe angewiesen.

Für die Helfer, Therapeuten und Ärzte ist die Lage schwer zu ertragen. Der Chirurg Ghassan Abu Sitta von der Amerikanischen Universität von Beirut ist zum wiederholten Mal zu einem Kriegseinsatz in Gaza. Nach seiner Einschätzung werden 70 Prozent der Verletzten ganz oder teilweise verstümmelt bleiben. Abu Sitta bestätigte den Einsatz großer Mengen von DIME-Munition (Dense Inert Metal Explosive), die schon im Krieg 2008/09 von der israelischen Armee eingesetzt worden war. Die Munition enthält hochexplosives Material, das mit krebserregendem Wolfram und anderen Metallen gemischt ist. Die Waffe wirkt auf engem Raum absolut tödlich, kleinste Splitter dringen in den ganzen Körper und in die Organe ein.

Von Journalisten gefragt, was das Schlimmste sei, was er bisher gesehen habe, beschrieb Abu Sitta den Fall eines achtjährigen Waisenjungen, der sein halbes Gesicht und beide Augen verloren hat: »Er ist blind, er hat seine Familie verloren und kann sich selber nicht versorgen. Es gibt keine Zukunft für ihn. Ständig fragt er, warum man das Licht ausgemacht habe.«

** Aus: junge Welt, Donnerstag 7. August 2014


Moralische Grenze überschritten

Konservative Staatsministerin im britischen Außenministerium tritt wegen Krieg in Gaza zurück

Von Christian Bunke ***


Der Krieg im Gazastreifen hat Auswirkungen auf die britische Innenpolitik. Am Dienstag legte Sayeeda Warsi, Staatsministerin im Außenministerium, ihr Amt nieder. Warsi begründete ihren Rücktritt in einem Schreiben an Premierminister David Cameron mit dem Verhalten der britischen Regierung im Krieg gegen Gaza, welches »moralisch nicht zu verteidigen« sei. »Cameron hat seine moralische Autorität verloren und das nationale Interesse Großbritan­niens sowie die Rolle Großbritanniens als ehrlicher Makler im Nahen Osten untergraben, weil er die aggressive Antwort Israels auf die Raketenangriffe der Hamas nicht als unverhältnismäßig verurteilt hat. Dieses Verhalten könnte die Basis für eine Radikalisierung in der muslimischen Bevölkerung mit Konsequenzen für die kommenden Jahre sein«, kritisierte die Politikerin, die wie Cameron der Conservative Party angehört.

Ob die Rolle Großbritanniens im Nahen Osten jemals die eines »ehrlichen Maklers« war, ist mindestens zweifelhaft. Doch Warsis Rücktritt wirft ein Schlaglicht auf unterschiedliche Auffassungen in der Regierungskoalition, wie mit dem Palästina-Konflikt umzugehen ist. Cameron hat seinen Ministern verboten, Israel zu verurteilen. Doch einen Tag nach Warsis Rücktritt machte der konservative Londoner Bürgermeister Boris Johnson genau das und bezeichnet Israels Verhalten als »unverhältnismäßig, unnötig und tragisch«. Gleichzeitig hat in der Koalition eine Debatte über die britischen Waffengeschäfte mit Israel begonnen. Die Liberaldemokraten wollen, daß die Lieferungen ausgesetzt werden – eine Forderung, die auch Warsi teilt. Bei den Konservativen ist der Ruf nach einem Aufrüstungsstopp Israels jedoch nicht populär. Großbritannien macht mit Israel Waffengeschäfte in Milliardenhöhe.

Am Dienstag besetzten Friedensaktivisten eine Fabrik des israelischen Konzerns Elbit Systems in der Nähe von Birmingham. Die Aktion wurde per Video-Livestream im Internet übertragen. Elbit Systems läßt in Birmingham Motoren für Kampfdrohnen herstellen, die vom israelischen Militär in Palästina eingesetzt werden, und produziert auch Kampfdrohnen für das britische Militär. Dort weiß man zu schätzen, daß israelische Waffen in der Regel durch Einsätze in den Palästinensergebieten »kampferprobt« sind. Daß dabei Zivilisten getötet werden, wird in Kauf genommen. Auch Teile für israelische Kampfjets und Helikopter werden in Großbritannien produziert. Die Rüstungsbranche ist eine der wenigen Industrien, die Thatchers De-Industrialisierung überlebt haben.

Bei den Konservativen geht derweil die Angst um, Warsi könnte in Zukunft zu unpassenden Momenten aus dem Nähkästchen über das Innenleben der Parteispitze plaudern. Gerüchteweise soll sie ein politisches Tagebuch geführt haben. Sie hätte sicher einiges zu erzählen. 2005 trat die Tochter pakistanischer Einwanderer für die Konservativen zu den Parlamentswahlen in Dewsbury an. Die Stadt im nordostenglischen Yorkshire hat eine große muslimische Gemeinde, und Warsi wurde zur Wahl aufgestellt, um bei ethnischen Minderheiten zu punkten, scheiterte aber. Deshalb wurde sie 2007 zur Baronin ernannt und zog somit in das größtenteils nicht gewählte britische Oberhaus ein. 2010 wurde sie Parteivorsitzende, ebenfalls ein ernannter, nicht gewählter Posten. Das half auch nichts. Bei den Parlamentswahlen 2010 wählten nur 16 Prozent der ethnischen Minderheiten die Konservativen. 2012 wurde sie als Parteivorsitzende abgewählt und als Religionsspezialistin ins Außenministerium abgeschoben.

Das hatte unvorhergesehene Konsequenzen, denn ihr neuer Posten führte dazu, daß sie sich im Oberhaus oft zu Fragen des Islam und zum Palästina-Konflikt äußern mußte. Warsi spürte den Druck der muslimischen Gemeinden Großbritanniens und war deshalb wiederholt nicht auf Regierungslinie.

*** Aus: junge Welt, Donnerstag 7. August 2014


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