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Erneut Tote in Gaza

Israel will weiterhin »mit aller Kraft« zuschlagen. Bemühungen um Waffenstillstand offenbar aussichtslos

Von Karin Leukefeld *

Die israelischen Angriffe auf den Gazastreifen wurden auch am Sonntag fortgesetzt, im Gegenzug wurden weiterhin Raketen von dort auf den Süden Israels abgefeuert. Tel Aviv gab an, in Gaza »Terroristenlager« zu bombardieren, dabei wurden mindestens eine Moschee und mehrere Häuser in einem Flüchtlingslager zerstört. Am Wochenende starben auf palästinensischer Seite mindestens 17 Menschen (laut Gesundheitsministerium in Gaza), in Israel wurden zwei Personen verletzt. Die israelische Armee verbot Ansammlungen von mehr als 500 Personen in einer 40-Kilometer-Zone an der Grenze zu Gaza. Kindergärten und Sommerlager für Kinder durften nur öffnen, wenn sie über einen Bunker verfügen. Bei Protesten gegen die israelische Militäroperation starben im besetzten Westjordanland zwei Menschen durch Schüsse und Gummigeschosse der Armee.

In Kairo gingen die Bemühungen weiter, beide Seiten wieder zu Gesprächen und einer Waffenruhe zu bewegen. Man habe am Freitag kurz vor einer Einigung gestanden, hieß es in einer Erklärung des ägyptischen Außenministeriums. Ein Vertreter der Palästinenser erklärte die Bereitschaft seiner Delegation, bis zum Erreichen eines Waffenstillstandabkommens in Kairo zu bleiben. Kehre Israel allerdings nicht zurück, werde man am Sonntag abreisen. Aus Israel hieß es, daß man »unter Feuer« nicht verhandeln werde.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte an, gegen die Raketen aus dem Gazastreifen mit »aller Kraft« zurückzuschlagen. Regierung und Streitkräfte würden sich weiter »für Ruhe für alle Bürger einsetzen«, das werde dauern. Kommunikationsminister Gilad Erdan erklärte, man berate über eine »Ausweitung der Bodenoffensive und den Sturz der Hamas«. Die israelische Justizministerin Tzipi Livni erklärte: »Wir müssen jetzt weiter Stärke zeigen. Die Palästinenser feuern auf uns, und wir zahlen das im Gegenzug zurück. Aber nicht im gleichen Ausmaß, sondern mit größerer Härte.« Livni legte israelischen Medien zufolge einen »Friedensplan« vor, der in dieser Reihenfolge folgende Punkte enthält: Waffenstillstand, humanitäre Hilfe für Gaza, Schritte zur Erfüllung der israelischen Sicherheitsbedürfnisse sowie zur Lösung der wirtschaftlichen Nöte in Gaza. Die palästinensische Autonomiebehörde solle – unter Führung von Mahmud Abbas – die Macht in Gaza übernehmen, dann könnten dort Grenzübergänge geöffnet und ein Sicherheitssystem installiert werden. Wenn alles umgesetzt sei, könne Israel auch wieder Friedensgespräche mit der Autonomiebehörde aufnehmen.

In einer gemeinsamen Erklärung teilten am Samstag die Außenminister Frankreichs, Laurent Fabius, Großbritanniens, Philipp Hammond und Deutschlands, Frank-Walter Steinmeier, mit, man habe Vorschläge für die »Herstellung eines dauerhaften Waffenstillstandes« unterbreitet und sei bereit, dabei »Unterstützung zu leisten«. Man stehe hinter der Initiative Ägyptens, Israel und die Hamas sollten »unverzüglich zur Waffenruhe zurückkehren«. Sowohl »die Sicherheitsinteressen Israels als auch die palästinensischen Anforderungen für eine Aufhebung der Blockade« müßten »gleichermaßen« berücksichtigt werden. Übergeordnetes Ziel müsse eine »Rückkehr zu Gesprächen über eine Zweistaatenlösung bleiben«. Nur so könne der Konflikt gelöst und das »humanitäre Leid ein für alle Mal« beendet werden. Die drei EU-Staaten planen offenbar eine EU-Polizeimission an den Grenzübergängen zu Gaza. Eine solche Mission war bereits 2005 eingesetzt worden, wurde aber nach dem Wahlsieg der Hamas bei den Parlamentswahlen 2006 auf Drängen Israels wieder ausgesetzt.

Der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) sagte in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung, Deutschland werde letztmalig Wiederaufbauhilfe in Gaza leisten und wolle das zügig tun. Laufende Infrastrukturvorhaben werden von der Bundesregierung mit 120 Millionen Euro unterstützt. Die Abwasserpumpstation und ein mit deutscher Hilfe errichtetes Klärwerk seien beschädigt worden, so Müller, ohne den Verursacher der Zerstörungen beim Namen zu nennen. Die jungen Palästinenser bräuchten eine Perspektive: »Wir dürfen nicht aufgeben, sonst gewinnen die Radikalen.«

In Venezuela wurden am Wochenende Kinder erwartet, die bei den israelischen Angriffen verletzt wurden oder ihre Familien verloren haben. Außenminister Elias Jaua sagte, Waisenkinder aus Gaza sollten im Hugo-Chávez-Zentrum aufgenommen werden. Die Hilfe zur Ausreise der Kinder und deren Begleitung habe er mit Hilfe des UN-Kinderhilfswerks (UNICEF) über Ägypten organisiert. Flugzeuge der venezolanischen Luftwaffe werden Anfang der Woche sechs Tonnen Hilfsgüter für Gaza liefern.

Zu Demonstrationen mit Zehntausenden kam es am Wochenende in Paris und London. Auch in Deutschland wurde in vielen Städten für Frieden in Palästina demonstriert. In Tel Aviv versammelten sich trotz Verbotes einige hundert Kriegsgegner.

* Aus: junge Welt, Montag 11. August 2014


Für den Krieg, aber gegen die Hamas

Große Teile der Bevölkerung im Gaza-Streifen haben Blockade und ihre Regierung satt

Von Oliver Eberhardt, Gaza-Stadt **


Waffenpause, Waffengang, Waffenpause: Die Palästinenser haben am Sonntag einen Vorschlag Ägyptens angenommen, eine erneute dreitägige Feuerpause im Gazakrieg einzulegen.

Das Tor zur Freiheit ist nur wenige hundert Meter weit weg: »Ägypten«, sagt der sechsjährige Junge, während er am Fenster steht, und ungefähr in Richtung Süden zeigt. »Schönes Land.« Doch draußen ist nur ein Straßenzug zu sehen, in dem einzelne Häuser aussehen, als seien sie in sich zusammengefallen, während in der Ferne das Donnern von Flugzeugen, das Surren von Drohnen und immer mal wieder das dumpfe, etwas metallisch-spitze Donnern zu hören ist, das entsteht, wenn Israels Luftwaffe ein Haus zerstört.

Die Familie hat einige Jahre in Ägypten gelebt: »Wir hatten nur wenig Geld«, erinnert sich Mahmud, der Familienvater, »aber es gab Arbeit und Ruhe. Wir konnten mit den Kindern an den Strand fahren.« Doch dann wurde, vor etwas mehr als einem Jahr, in Kairo die Regierung von Mohammad Mursi gestürzt, und die Übergangsregierung wollte Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen sehen, und jeder, der keine hatte, musste zurück in den Gaza-Streifen.

Ja, sagt Mahmud, ja, er sei für den Krieg: »Wir haben Jahre lang still gehalten und nichts dafür bekommen. Die Grenzen sind geschlossen, es gibt keine Arbeit, wir leben von Almosen.« Der Krieg hat im Gaza-Streifen Hoffnungen geweckt: Zum ersten Mal seit vielen Jahren wird nicht mehr nur von einem Waffenstillstand gesprochen, der Ruhe erzeugt – in den Verhandlungen über eine dauerhafte Waffenruhe ist die soziale Lage in dem übervölkerten, stark verarmten Landstrich ein integrales Thema.

Denn diese Lage ist komplex: Viele Menschen im Gaza-Streifen stehen hinter dem Krieg. Aber sie stellen sich, wenn man mit ihnen alleine ist, sicher gestellt ist, dass niemand von der Hamas in der Nähe ist, nicht hinter die Hamas. Denn die Unfreiheit existiert nach außen und nach innen. Es gebe keine transparenten Entscheidungsprozesse: Alles, von der Schulbildung bis hin zur Kriegserklärung werde im stillen Kämmerlein entschieden. »Wenn hier morgen die palästinensische Regierung wieder die Macht übernehmen würde, dann wäre das für mich auch in Ordnung«, sagt Mahmud: »Ich will, dass meine Kinder noch eine Chance im Leben bekommen. Schauen Sie sich die Kleinen an.«

Die Gesichter der Kinder, dem Jungen und zwei Mädchen im Alter von zehn und zwölf Jahren, sind seit dem ersten Treffen 2005 hart geworden; sie haben im Laufe ihres Lebens bereits viele Kriege miterlebt: Im Juni 2006 zerstörte Israels Militär entlang der Grenze zu Ägypten Häuser, um eine Sicherheitszone einzurichten, bis man dann doch wieder abzog. Ende 2008 folgte dann der nächste Krieg. Und im November 2012 dann der Nächste. Jedes Mal wurde der Krieg mit einem Waffenstillstand beendet, der der einfachen Formel folgte: »Ruhe für Ruhe«.

Zurück blieben jedes Mal viele Tote, eine noch sehr viel weniger funktionsfähige Infrastruktur und damit auch ein noch besserer Nährboden für die Hamas, die traditionell über soziale Arbeit den Zugang zu den Menschen sucht. In Israel legten die Regierungen indes Statistiken vor, denen zufolge die Bevölkerung im Gaza-Streifen über Hilfslieferungen die täglichen Kalorien bekam, die sie braucht.

Dass Ägypten im Frühjahr die Hamas zur terroristischen Vereinigung erklärte, und sie von ihren Finanzflüssen abschnitt, nachdem zuvor bereits die iranische Regierung die Zahlungen an die Hamas kräftig gekürzt hatte, hat die Parameter des Gaza-Konflikts verändert: Die Organisation konnte keine sozialen Leistungen mehr zur Verfügung stellen, Löhne nicht mehr bezahlen. Zumindest im weiteren Umfeld der Hamas ist davon die Rede, dass man darauf hoffte, sich durch den Krieg der Unterstützung der Bevölkerung zu versichern. Ausländische Diplomaten sprachen indes bereits vor Ausbruch des Krieges davon, dass die internationale Gemeinschaft einspringen müsse, um das Vakuum zu füllen. Nur: Mit Israels Regierung war das nicht machbar.

Bis jetzt. Der Waffenstillstand ist zwar fürs Erste zu Ende. Doch da die Palästinenser am Sonntag einen Vorschlag Ägyptens angenommen haben, eine erneute dreitägige Feuerpause im Gaza-Krieg einzulegen, ist auch der Weg für weitere Verhandlungen frei. In Ägypten wurde über die Umsetzung von Dingen diskutiert, die noch vor Wochen nicht auf der Tagesordnung standen. Die Einrichtung eines sicheren Geleits zwischen dem Gaza-Streifen und dem Westjordanland, beispielsweise. Die Öffnung des Grenzübergangs Rafah. Und über eine internationale Geberkonferenz.

Sehr konservativen Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge wird es um die vier Milliarden Euro kosten, die zerstörte Infrastruktur im Gaza-Streifen wieder aufzubauen. Zum Vergleich: Der Haushalt der palästinensischen Regierung in Ramallah umfasste 2013 umgerechnet rund drei Milliarden Euro, von denen 2,2 Milliarden durch Einnahmen gedeckt waren. Das Etatvolumen der Hamas-Regierung ist unbekannt.

Auf dem Rückweg zum Grenzübergang sind für einen Moment junge Männer in Zivilkleidung zu sehen, die Menschen auf die Ladefläche von Pickups zwingen, die Waffe im Anschlag. Immer wieder werden Kritiker der Hamas als Kollaborateure erschossen. In den vergangenen beiden Wochen waren es mindestens 34, gaben die Essedin al-Kassam-Brigaden bekannt. Selbst bei einer erneuten Waffenruhe ist keine echte Entspannung in Sicht.

** Aus: neues deutschland, Montag 11. August 2014


Mehr Vertriebene in Gaza wie 2009

Von Karin Leukefeld ***

Nach Angaben des »Zentrums zur Überwachung der internen Vertreibung« (IDMC) im Gazastreifen mußten mindestens 339600 Menschen durch die Angriffe der israelischen Streitkräfte ihre Wohnungen und Häuser verlassen. 2008/09, bei der Operation »Gegossenes Blei«, betrug die Zahl 120000 Palästinenser, also weniger als halb so viele wie bei dem aktuellen Angriff. 17000 der damals Vertriebenen haben bis heute keinen Ersatz für ihre zerstörten Häuser gefunden.

Die Operation »Fels in der Brandung« (Protective Edge) begann am 8. Juli und wurde seitdem nur für kurze Waffenruhen unterbrochen. Auch palästinensische Kampfverbände schießen wieder Raketen auf den Süden Israels. Die Gefährdungssituation auf israelischer und palästinensischer Seite ist nicht vergleichbar. In Israel warnen Sirenen vor Angriffen, ein hocheffektiver Abwehrschirm (»Eiserne Kuppel«) fängt die meisten palästinensischen Raketen ab, der Zivilbevölkerung stehen Bunker zur Verfügung, viele Bewohner sind in den Norden Israels geflohen, der außerhalb der Reichweite der palästinensischen Raketen liegt. In Gaza gibt es weder ein Sirenenwarnsystem noch einen Abwehrschirm gegen die von der israelischen Luftwaffe, Artillerie und Marine auf alle Teile des Landstreifens gefeuerten modernen Raketen. Es gibt keine Schutzbunker. Verlassen können die Menschen das Territorium nicht, da es auf allen Seiten, auch von See her, hermetisch abgeriegelt ist.

Die UN-Hilfsorganisation für die palästinensischen Flüchtlinge (­UNRWA) hat 90 ihrer Schulen für 187000 der Kriegsvertriebenen geöffnet, sieben dieser Schulen wurden von den israelischen Streitkräften bombardiert. 29000 Menschen fanden Zuflucht in öffentlichen Schulen oder anderen Institutionen. Das palästinensische Sozialministerium hat 123000 Menschen registriert, die Hilfe benötigen, etwa 93000 fanden Zuflucht bei Verwandten oder Freunden.

In allen besetzten palästinensischen Gebieten (Westjordanland, Gazastreifen und Ostjerusalem) hat IDMC seit dem israelischen Eroberungskrieg 1967 fast eine halbe Million – genau gesagt 497000 – Menschen als Vertriebene registriert. Von den 1,8 Millionen Menschen, die im Gazastreifen leben, sind 72 Prozent Flüchtlinge, im Westjordanland sind es 28 Prozent. Als Flüchtlinge gelten die Palästinenser und ihre Nachfahren, die bei der gewaltsamen Staatsgründung Israels 1948 aus ihren ursprünglichen Wohngebieten vertrieben worden waren.

Seitdem hält die Vertreibung der Palästinenser an. Sie wird verursacht durch die israelische Besatzungspolitik, Landenteignung, Militäroperationen, durch die völkerrechtswidrige Erweiterung von Siedlungen und den Siedlungsbau allgemein, den illegalen Bau der Mauer, Entzug von Aufenthaltstiteln in Ostjerusalem, Verweigerung von Baugenehmigungen und durch Hauszerstörungen. Nach Angaben des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen (ICAHD) hat Israel zwischen 1967 und 2009 mehr als 24145 von Palästinensern bewohnte Gebäude zerstört. Zwischen 2009 und 2014 wurden 5101 Palästinenser aus dem Westjordanland und Ostjerusalem durch Hauszerstörungen und Ausweisung vertrieben. Weitere 6600 Personen flohen vor Angriffen jüdischer Siedler aus Hebron.

Eine Organisation, die die Zerstörung des aktuellen Gazakrieges sichtbar macht, ist das von den UN geführte Operationelle Satellitenprogramm UNOSAT. Auf Satellitenkarten vergleicht UNOSAT Gebiete im Gazastreifen vor Beginn des Krieges am 6. Juli und einen Monat später am 1. August. Demnach wurden in den Gebieten von Khuzaa und Al-Kararra in dieser Zeit 2493 völlig zerstörte Gebäude dokumentiert, 1243 Häuser wurden schwer, 1652 leicht beschädigt. 2014 Krater wurden auf Straßen, in unbewohnten und landwirtschaftlich genutzten Gebieten registriert. Ähnlich sieht es in dem Nachbargebiet von Jarara aus. Die vergleichenden Satellitenbilder finden sich unter den folgenden Adressen.

*** Aus: junge Welt, Montag 11. August 2014


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