Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Gaza unter Dauerbeschuss

Impressionen aus einer sterbenden Stadt

Von Martin Lejeune, Gaza-Stadt *

Eine Spielzeugpistole schwimmt in einer Blutpfütze. In einer anderen Blutlache liegen Sandalen, die einem der acht Kinder gehörten, die bis vor wenigen Minuten noch lebten. Acht Kinder und drei Erwachsene wurden am Montagnachmittag gegen 17 Uhr Ortszeit Opfer einer starken Explosion am Eingang des Parks nahe eines Flüchtlingslagers am Meeresstrand. Mindestens weitere 40 Personen wurden zum Teil sehr schwer verletzt.

Der Ort der Explosion ist ein Ort des Grauens. Die Palästinenser machen einen israelischen Luftangriff für die Explosion am Park verantwortlich, ein Sprecher des israelischen Militärs bestreitet dies und macht eine fehlgeleitete Rakete der Hamas für das Massaker verantwortlich.

Wenige Stunden später: eine derzeit ganz normale Nacht in Gaza-Stadt. Kampfjets donnern mit gewaltigem Lärm im Tiefflug über Gaza-Stadt, ihr Schall findet seinen Widerhall zwischen den Wänden der Hochhäuser, die noch stehen. Etwa alle 30 Sekunden feuern sie eine Rakete ab. Das omnipräsente Sirren der Kampfdrohnen, die über jedem Viertel des Gaza-Streifens kreisen, klingt wie das Motorengeheul im TV bei einer Formel-1-Übertragung.

Es ist eine erschreckende Darbietung militärischer Zerstörungskraft, deren Dauerbeschuss aus der Luft, vom Land und von der See die Bevölkerung des Gaza-Streifens in dieser Nacht kollektiv in Todesangst versetzt.

Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich nicht im Al-Deira Beach Hotel am Strand von Gaza, in dem die ausländischen Korrespondenten Schutz suchen, sondern im Wohnhaus einer muslimischen Familie im Zentrum von Gaza-Stadt. Ich höre, wie in den Nachbarwohnungen kleine Babys ohne Unterbrechung schreien, verängstigte Kinder in den Armen ihrer Mütter weinen, die Erwachsenen fluchen.

Die Bombardierungen begannen um 23.30 Uhr Ortszeit mit heftigen Fliegerangriffen auf das Flüchtlingslager Bureji im Zentrum des Gaza-Streifens. Der Beginn eines Dauerbeschusses einer kleinflächigen Stadt, die mit ihren Hunderttausenden Einwohnern zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Welt gehört.

Was ich später vom Balkon sehe, sind nicht mehr die Straßen von Gaza-Stadt, wie ich sie kenne. Vor meinen müden Augen erstreckt sich eine Trümmerlandschaft, breitet sich das Panorama eines Infernos aus.

Am Dienstagmorgen, auf dem Weg in das Al-Deira Beach Hotel, um diesen Text zu senden, wird das Ausmaß der Zerstörung dieser Nacht deutlich. Überall auf den Straßen liegen Scherben und Trümmern. Jetzt sehe ich auch die völlig zerstörte Al-Amin-Moschee.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. Juli 2014


Gaza: deadly shelling of another UN school draws condemnation, calls for ceasefire **

30 July 2014 – As another United Nations school serving as a shelter for Palestinians in Gaza was hit by shells this morning, killing children, senior UN officials strongly condemned the attacks and warned against the targeting of civilians.

“This is an affront to all of us, a source of universal shame. Today the world stands disgraced,” said the UN Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) Commissioner General, Pierre Krähenbühl.

According to an initial assessment, Israeli artillery on at least three occasions hit an UNRWA school where 3,300 people were seeking refuge. While the agency says it is too early to provide a death toll, there are multiple civilian deaths and injuries, including to women and children, and to UNRWA guards trying to protect the site.

“The precise location of the Jabalia Elementary Girls School and the fact that it was housing thousands of internally displaced people was communicated to the Israeli army seventeen times, to ensure its protection,” Mr. Krähenbühl said, “the last being at ten to nine last night, just hours before the fatal shelling.”

“I call on the international community to take deliberate international political action to put an immediate end to the continuing carnage,” he underscored.

On Tuesday, a compound housing the Office of the UN Special Coordinator for the Middle East Peace Process (UNSCO) and the Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) was hit five times over a period of one hour, according to UN sources.

A preliminary investigation shows that there were also two projectiles that hit the ground just outside the compound. One of which is believed to have hit Gaza’s sole power plant. Pending a more formal investigation to ascertain the responsibilities for the shelling of its compound, UNSCO reminded the relevant parties to the conflict of their responsibility to protect UN operations.

The Special Coordinator, Robert Serry, “is deeply concerned about this incident and other violations of United Nations premises during the conflict and condemns the loss of civilian lives, including United Nations personnel.”

Of the quarter million people displaced in Gaza, an estimated 200,000 are in 82 schools serving as UNRWA shelters, according to OCHA, the equivalent of 10 per cent of Gaza’s population.

“Our capacity is stretched to the limit,” said Valeria Amos, Under-Secretary-General for Humanitarian Affairs and Emergency Relief Coordinator.

The UN World Food Programme (WFP) is providing emergency food assistance to 204,000 people, in addition to the regular food programmes, and shortages in the markets are reported.

“Given the deteriorating humanitarian situation, peoples’ needs will continue to grow,” Ms. Amos said, echoing calls for a ceasefire that would end the conflict. “Let’s put people first.”

** UN News Centre, 30 July 2014, http://www.un.org


Nacht des Schreckens

Israel verstärkt Bombenangriffe auf Gazastreifen. Mehr als 100 Tote in 14 Stunden. Hunderttausende auf der Flucht

Von Karin Leukefeld ***


Nach einer kurzzeitigen trügerischen Einschränkung der Angriffe auf den Gazastreifen haben die israelischen Streitkräfte den Beschuß am Montag abend wiederaufgenommen. Innerhalb weniger Stunden feuerten die israelischen Streitkräfte auf 150 Ziele. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden dabei in nur 14 Stunden mehr als 100 Menschen getötet. Die Gesamtzahl der Toten stieg damit auf mehr als 1200 seit Beginn der israelischen Offensive, fast 300 von ihnen sind Kinder. Die Zahl der komplett zerstörten Wohnungen und Häuser wurde mit fast 5000 angegeben, mehrere zehntausend weitere wurden zum Teil schwer beschädigt. Die Vereinten Nationen, deren Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge UNWRA in Gaza selbst wiederholt Ziel israelischer Angriffe geworden ist, gab die Zahl der Flüchtlinge mit 215000 an, mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung im Gazastreifen. Mehr als 170000 von ihnen seien in 82 UNWRA-Schulen untergebracht, den einzigen Orten, die den drangsalierten Menschen als Zuflucht bleiben. Doch vier solche Schulen wurden während der Offensive bereits bombardiert, dabei starben 20 Menschen. Am Montag abend hatte Israel weitere 400000 Einwohner aus fünf Bezirken des Gazastreifens aufgefordert, ihre Wohnungen zu verlassen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon warnte, die UN-Organisationen in Gaza seien überfordert und könnten keine weiteren Menschen mehr versorgen. Er zeigte sich angesichts des Geschehens in dem abgeriegelten Küstenstreifen geschockt und hilflos. »Die Gewalt muß aufhören, im Namen der Menschlichkeit«, forderte er nach einem ausführlichen Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Dieser gab kurz darauf die gegenteilige Parole aus. Die Militäroperation werde ausgeweitet und andauern, sagte er in einer Fernsehansprache am Montag abend. Israel werde erst dann aufhören, wenn alle Tunnel zerstört seien.

Ein Korrespondent der Nachrichtenagentur dpa in Gaza sprach von einer Nacht »voller Horror, Angst und Panik«. Bei einem Angriff auf einen Spielplatz im Flüchtlingslager Al-Schati wurden acht Kinder und zwei Erwachsene getötet. Ein israelischer Armeesprecher behauptete, die Menschen seien durch eine fehlgeleitete Rakete aus dem Gazastreifen getötet worden. Erste Untersuchungen vor Ort wiesen allerdings auf israelischen Beschuß hin. Unmittelbar darauf schlug eine weitere Rakete, die von einem F-16-Kampfjet abgeschossen worden war, im Schifa-Krankenhaus ein. Die israelische Armee dementierte, dieses angegriffen zu haben. Kurz darauf wurden vier Soldaten unweit eines Kibbuz in Südisrael getötet, als eine Rakete aus dem Gazastreifen in ihren Stützpunkt einschlug.



Israel setzte Kampfjets, Marine und Artillerie ein. Neben Wohnhäusern, Fabriken, Moscheen wurde auch das einzige Kraftwerk in Gaza zerstört, das für ein Drittel der dortigen Stromversorgung zuständig war. Es war schon in der vergangenen Woche getroffen worden und hatte seither nur noch mit 20 Prozent Leistung arbeiten können. Nun mußte es den Betrieb völlig einstellen Eine weitere Rakete zerstörte das Haus des Vorsitzenden der Hamas, Ismail Hanije, im Flüchtlingslager Schati.

Mehr als 100 spanische Künstler haben Israel in einer Erklärung Völkermord an der palästinensischen Zivilbevölkerung vorgeworfen. Die Schauspieler und Regisseure, unter ihnen Penélope Cruz und Pedro Almodóvar, forderten ihre Regierung auf, den spanischen Botschafter aus Israel abzuziehen.

*** Aus: junge Welt, Mittwoch 30. Juli 2014


Rätselhaftes Kriegsziel

< Israels Premier will Demilitarisierung des Gaza-Streifens / Strategie bleibt unklar

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv ****


Israels Militär soll den Gaza-Streifen demilitarisieren. Was das bedeutet, wie es umgesetzt werden soll, lässt die Regierung offen – sie könnte am eigenen Ziel scheitern.

Mohammad Malakeh, zwei Jahre alt. Sirash al-Al, acht. Basem Kaare, zehn. Amal al-Batsch, zwei Jahre alt. Saher Abu Namus, vier. Dies sind die Namen von fünf der mehr als 170 Kinder unter 14 Jahren, die im Laufe der vergangenen Wochen im Gaza-Streifen starben: bei Luftangriffen, Gefechten zwischen israelischen Soldaten und palästinensischen Kämpfern.

Die israelische Menschenrechtsorganisation BeTselem hätte gerne, dass die israelische Öffentlichkeit diese Namen und ihr Schicksal erfährt. Doch ob dies geschehen wird, abends, zur besten Sendezeit, zwischen den neuesten Berichten über das Schicksal von Israelis im Raketenfeuer in den Hauptnachrichten und den Analysen der Kommentatoren zu Kriegszielen und -erfolgen, das wird in den kommenden Tagen der Oberste Gerichtshof in Jerusalem entscheiden müssen. Denn BeTselem würde gerne im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Werbespots schalten, in denen sie die Geschichte dieser fünf Kinder erzählt, und klagt deshalb seit Dienstag vor dem Höchstgericht. Man wolle damit ein Gegengewicht zur Berichterstattung des Senders setzen, die die Menschen auf der anderen Seite nahezu komplett ausblendet, so die Begründung.

Doch die öffentlich-rechtliche Rundfunkbehörde lehnte die Ausstrahlung des Spots ab: »Das Thema des Werbespots allein könnte der Behauptung Nachdruck verleihen, dass Israel für den Tod der Opfer verantwortlich ist, und dies in einer Zeit, in der Israel erklärt hat, dass die Hamas für zivile Opfer verantwortlich ist, weil sie Raketen und Sprengstoff mitten unter Zivilisten lagert«, schreibt der Sender, per Gesetz eigentlich zur Neutralität verpflichtet.

Aber ein Ziel hat die Organisation auch so erreicht: Sie hat Aufmerksamkeit erzeugt. Ein Ausschnitt des Clips wurde bei Youtube bereits mehr als 300 000 Mal aufgerufen; eine ganze Reihe von unabhängigen Medien haben ihn zudem auf ihren Webseiten verlinkt. Und in ziemlich vielen der Kommentare unter dem Video und den Berichten darüber bringen Israelis ihre Sorge über die hohe Opferzahl zum Ausdruck, aber auch über die Zukunft der Redefreiheit, die in Israel auch sehr drastische Aussagen umfasst.

Immer wieder wird in Gesprächen auch mit konservativen oder rechtsgerichteten Israelis die Frage aufgeworfen, wie die Kriegsziele überhaupt erreicht werden sollen. Bislang sollte der Militäreinsatz nach Aussage von Regierung und Militär die Zerstörung von Tunneln mit Ausgang auf israelischem Gebiet sowie eine Schwächung der Hamas durch die Zerstörung von militärischer Infrastruktur sein. Immer wurde die Öffentlichkeit darauf hingewiesen, dass man es wohl nicht schaffen werde, alle Tunnel und alle Raketen zu zerstören.

Am Dienstag erklärte Israels Regierung aber nun die Demilitarisierung des Gaza-Streifens zum Kriegsziel. Bereits in der Nacht war die Luftwaffe eine Vielzahl von Angriffen geflogen, hatten sich Bodentruppen schwere Gefechte mit Kämpfern von Essedin-al-Kassam-Brigaden und Islamischem Dschihad geliefert. Die Gegenwehr überrasche ihn, sagt Juwal Diskin, der einst Chef des auch für den Gaza-Streifen zuständigen Inlandsgeheimdienstes Schin Beth war. Er bezweifelt, dass es gelingen werde, die Milizen im Gaza-Streifen zu entwaffnen: »Ich habe ganz ehrlich auch Schwierigkeiten, mir vorzustellen, was damit gemeint ist.«

Womit er nicht allein ist. Allerorten wird im politischen Jerusalem darüber gerätselt, ob das Militär nun im gesamten Gaza-Streifen von Haus zu Haus gehen soll, um von der Handfeuerwaffe bis zur Rakete alles einzusammeln, oder ob nur Raketen und Sprengstoff gemeint sind. »Israel fällt es schon jetzt schwer, sich in den relativ begrenzten Gebieten, in denen das Militär im Einsatz ist, durchzusetzen«, sagt Jitzhak Herzog, Chef der Arbeitspartei, der erneut, wie er es schon seit Wochen vergeblich tut, von der Regierung die Vorlage von Auswegsstrategien und Zukunftsplänen forderte. Natürlich wieder vergeblich. Im Hause Netanjahu hält man sich wie immer bedeckt, verweist darauf, dass es einen Waffenstillstand nur mit Demilitarisierung geben wird, und beharrt, dass die Eigeninitiative erforderlich geworden sei, weil die internationale Gemeinschaft keine gemeinsame Gangart entwickelt.

Als vorerst Letzter scheiterte am Dienstag Palästinas Mahmud Abbas: Er hatte versucht, die Hamas mit Verweis auf seine Rolle als Präsident zu einer humanitären Waffenruhe und Gesprächen mit Israel zu bewegen. Die Hamas ignorierte ihn einfach.

**** Aus: neues deutschland, Mittwoch 30. Juli 2014


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