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Israel weist internationale Kritik zurück

Bereits über 500 Todesopfer auf palästinensischer Seite / Fragen um gefangenen israelischen Soldaten

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Israel will seine Bodenoffensive im Gaza-Streifen ausweiten, ein Ende ist nicht in Sicht. Die Kassam-Brigaden behaupten, sie hätten einen israelischen Soldaten gefangen genommen.

Im Norden an der Grenze, östlich von Gaza-Stadt, im Zentrum des dicht bevölkerten Landstrichs: Ohne Pause wurde am Montag gekämpft, während auch an diesem Tag immer wieder über dem Großraum Gaza die Schweife von Raketen zu sehen waren und jenseits der Grenze die Sirenen aufheulten. Der Einsatz werde weitergehen, »so lange, bis alle Israelis sicher leben können«, sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu während eines Besuchs von Militärposten an der Grenze zum Gaza-Streifen.

Damit widersprach er öffentlich der Einschätzung von Verteidigungsminister Mosche Ja'alon. Dieser hatte am Rande eines Sicherheitsbriefings erklärt, der Einsatz werde »innerhalb von Tagen« beendet und ein Großteil der Raketen und Tunnel dann wohl zerstört sein. Innerhalb des Kabinetts ist das nun eine Einzelmeinung: Viele der Minister, und auch solche aus dem politischen Zentrum, das einer Bodenoffensive bislang kritisch gegenüberstand, sagen mittlerweile, die Offensive müsse ausgeweitet werden. Sie müsse so lange weitergehen, bis klar sei, ob der Gaza-Streifen demilitarisiert werden könne; wobei letzteres nach israelischer Lesart bedeutet, dass es im Gaza-Streifen künftig weder Raketen noch Tunnel gibt, über die man nach Israel eindringen könnte.

Mit Nachdruck weist Israel die internationale Kritik von sich, die angesichts der Zahl der Todesopfer, mittlerweile mehr als 500 auf der palästinensischen Seite, lauter wird. So verurteilte UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon am Sonntag das israelische Vorgehen: Die Gewalt müsse sofort beendet werden.

Doch die Spannungen haben sich weiter verstärkt, seit Ezzedin-al-Kassam-Brigaden am Sonn- tagabend bekannt gaben, sie hätten einen israelischen Soldaten gefangen genommen. Als Nachweis wurde eine militärische Identifikationsnummer vorgelegt. Bilder auf pro-palästinensischen Webseiten, die die Entführung zeigen sollen, sind allerdings mehrere Jahre alt und zeigen nur eine vermummte Person in einer Uniform, wie sie vom israelischen Militär nicht mehr genutzt wird. Dem gegenüber steht, dass Israels Militär nicht direkt reagiert; es gibt nur Dementis von Diplomaten in den USA. Israels Medien schweigen zu dem Vorfall nahezu komplett.

Die Nachricht verfehlte ihre Wirkung allerdings: Im Gaza-Streifen und im Westjordanland jubelten die Menschen; Tausende versammelten sich zu spontanen Demonstrationen. Dort hofft man darauf, dass ein Soldat in Gefangenschaft die palästinensische Verhandlungsposition stärkt – in der Vergangenheit war es so, dass Israel bereit war, viel zu geben, um Soldaten tot oder lebendig zurück zu holen. Die Verhandlungen über einen Waffenstillstand sind allerdings festgefahren: Die Hamas möchte lieber heute als morgen die Kämpfe beenden, während Israel weiterhin nach einem Plan für die Zeit nach dem Krieg sucht.

* Aus: neues deutschland, Dienstag 22. Juli 2014


Willkürliches Töten

Die israelische Armee setzt ihre Bodenoffensive in Gaza fort. Keine Rücksicht auf Zivilisten

Von Karin Leukefeld **


Angesichts der eskalierenden Konfrontation zwischen den israelischen Streitkräften und bewaffneten Gruppen im Gazastreifen ist der UN-Sicherheitsrat am späten Sonntag abend zu einer nicht öffentlichen Dringlichkeitssitzung zusammengetroffen. Die Sitzung war von der Türkei und Jordanien beantragt worden. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyib Erdogan hatte am Wochenende Israel vorgeworfen, »schlimmer als Hitler« gegen die Bevölkerung im Gazastreifen vorzugehen. Die türkische Regierungspartei AKP steht der Hamas religiös-ideologisch nahe. Die Hamas gehört der panarabischen Organisation der Muslimbruderschaft an. Jordanien ist bereits an den Grenzen zu Syrien und zum Irak massiv destabilisiert. Das Land fürchtet offenbar eine weitere Eskalation, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung Jordaniens sind Palästinenser, die 1948 und 1967 von Israel aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

Die Kampfparteien seien zu einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza aufgerufen worden, erklärte der amtierende Präsident des Sicherheitsrates, Botschafter Eugene Richard Gasana aus Ruanda, nach der Sitzung. Man fordere den Schutz der Zivilbevölkerung und Respekt für das internationale Völker- und Menschenrecht. Dringend seien »humanitäre Waffenpausen« erforderlich, damit die Zivilbevölkerung versorgt werden könne.

Trotz der Aufforderung des UN-Sicherheitsrates gingen die Kämpfe auch am Montag mit großer Härte weiter. Die israelische Armee meldete die Tötung von 15 palästinensischen Kämpfern im Süden Israels, die durch eine Tunnelanlage vorgerückt waren. Die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite seit Beginn der Militäroffensive vor etwa zwei Wochen wurde am Montag morgen mit 529 angegeben. Auf israelischer Seite wurden allein am Sonntag 18 Soldaten getötet und 53 verletzt. Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu wandte sich angesichts der hohen Verluste am Sonntag abend in einer live übertragenen Pressekonferenz aus dem Verteidigungsministerium an die israelische Öffentlichkeit. Die Armee genieße bei ihrer Operation im Gazastreifen eine »sehr starke Unterstützung der internationalen Gemeinschaft«, sagte er. »Als demokratischer Staat hat Israel das legitime Recht darauf, alle Mittel der Selbstverteidigung einzusetzen, um denjenigen zu schaden, die Raketen auf uns abfeuern.« Das sei den meisten Führern der Welt klar. Verteidigungsminister Mosche Jaalon sagte, er gehe davon aus, daß die Bodenoffensive in den nächsten zwei bis drei Tagen beendet sei. Dann werde man »den Löwenanteil der Tunnel zerstört« haben und abziehen können. Im Gegensatz zum Einmarsch in den Gazastreifen wird der Rückzug militärisch als sehr problematisch eingestuft.

Die Hamas teilte mit, sie habe einen israelischen Soldaten gefangengenommen, seitens der israelischen Armee wurde diese Information weder bestätigt noch dementiert. Nach israelischen Armeeangaben wurden aus dem Gazastreifen seit Sonntag 70 Raketen auf Israel abgefeuert.

Im Gazastreifen wurden seit Sonntag mehr als 100 Menschen durch Angriffe der israelischen Streitkräfte getötet. Acht Personen starben, als ein Wohnhaus in Al-Ramal gezielt zerstört wurde. An der Grenze zu Ägypten starben 28 Angehörige der Familie Abu Dschamea, als ihr Haus bei einem Luftangriff getroffen wurde. Zehn Mitglieder einer anderen Familie wurden auf der Flucht von einer Panzergranate getötet. Vier Menschen kamen bei einem Angriff auf das Al-Aksa-Krankenhaus ums Leben, mehr als 50 Personen wurden dabei verletzt. In einer Stellungnahme der französischen Sektion der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« hieß es, der offizielle Grund für die Bodenoffensive sei zwar die Zerstörung von Tunneln. »Was wir aber hier vor Ort sehen, ist willkürliches Bombardement, und die Opfer sind Zivilisten.«

Nach Angaben der UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge (­UNWRA) haben mittlerweile mehr als 81000 Menschen in den 61 UNWRA-Unterkünften in Gaza Zuflucht gesucht. Die Zahl sei »bei weitem höher als die Zahl der Menschen, die in dem Konflikt 2008/09 (Operation ›Gegossenes Blei‹, K.L.) bei uns Zuflucht suchte«, teilte UNWRA-Sprecher Chris Gunness in einer schriftlichen Stellungnahme mit. »Die Zahl steigt weiter an.«

** Aus: junge Welt, Dienstag 22. Juli 2014


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