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Fabrik zerstört – Arbeiter entlassen

Der Wiederaufbau der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur im Gaza-Streifen ist eine Mammutaufgabe

Von Martin Lejeune, Gaza-Stadt *

Bei den Friedensverhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern geht es auch um den Import von Zement in den Gaza-Streifen. Dieser wird in großen Mengen für den Wiederaufbau benötigt.

Jamal Abdallah al-Hurani steht vor einem Trümmerfeld. Niedergerissene Wände, zerbrochene Fensterscheiben und verkohltes Sandelholz liegen dort, wo bis vor kurzem noch sein Tischlereibetrieb stand. In der Nacht vom 27. auf den 28. Juli warf die israelische Luftwaffe drei Bomben über dem Gebäude in der Salah-al-Din-Straße in Jabalya, einer 100 000-Einwohner-Stadt im Norden des Gaza-Streifens, ab. Al-Hurani zeigt auf die Überreste von Tischen, Stühlen, Sesseln und Betten. »Alle exakt nach Maß angefertigt, mit den besten Hölzern liebevoll verarbeitet und aufwendig verziert, so wie es unsere Kunden von uns erwarten«, bedauert der dreifache Familienvater.

Die Tischlerei ist im ganzen Gaza-Streifen bekannt und geschätzt. Neben den Familienmitgliedern beschäftigte al-Hurani 25 Arbeiter. »Sie sind jetzt arbeitslos und wissen nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Wir alle wissen nicht, wie es weitergehen soll«, klagt al-Hurani. Rücklagen für den Wiederaufbau habe er nicht und eine Klage auf Entschädigung vor einem Zivilgericht in Israel ist auch nicht mehr möglich, seit ein Gesetz 2007 den Gaza-Streifen als feindliches Gebiet definierte.

Angesichts der Zerstörungen kommt auf die Baufirmen eine riesige Aufgabe zu. Eine von ihnen, Abu Eida, hat ihren Hauptsitz im Industriegebiet östlich von Jabalya. Aber auch hier bietet sich ein Bild der Verwüstung: Die drei Betriebsstätten, die Lagerhalle für Zement und Bausteine sowie der Fuhrpark mit den Baumaschinen sind zerstört. Geschäftsführer Abed Rabou Abu Eida schätzt die Schadenssumme auf 7,5 Millionen US-Dollar. Seine 70 Angestellten habe er entlassen müssen. Auch Hunderte Zeitarbeiter, die für größere Bauprojekte benötigt wurden, hätten keine Arbeit mehr. »Die Luftwaffe hat bereits 2008 und 2012 unser damaliges Werksgelände vollständig zerstört«, berichtet der Firmenchef. »Diesmal haben wir kein Geld mehr für den Wiederaufbau.«

Die Handelskammer von Gaza vermutet, dass gut 350 Produktionsstätten zerstört wurden, darunter 50 Fabriken für Güter des Grundbedarfs. Zudem wurden Krankenhäuser, Schulen, Bauernhöfe, Ackerflächen und die berühmten Orangenplantagen bei Beit Hanoun getroffen. Gleiches gilt für das einzige Elektrizitätskraftwerk, Moscheen und das Gebäude der Rundfunkanstalt Al-Quds-TV. Abdallah al-Frangi, der Gouverneur von Gaza und hoher Fatah-Funktionär, weist gegenüber »nd« darauf hin, dass 600 000 Menschen obdachlos geworden sind und nun in Kindergärten, Schulen, bei Verwandten, Freunden, Fremden oder sogar zwischen den Trümmern ihrer Häuser schlafen. Angesichts der Zerstörungen der Infrastruktur erklärte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas bereits Ende Juli in Ramallah den Gaza-Streifen zum »humanitären Katastrophengebiet«.

Nach Schätzung der Vereinten Nationen dürfte es 4,5 Milliarden Euro kosten, Wohnungen, Krankenhäuser, Straßen, Schulen, Wasserleitungen, Stromnetze und Fabriken wieder in Stand zu setzen. Die UNO beziffert die Zahl der zerstörten Wohnungen auf 16 700. Dies seien doppelt so viele wie nach der letzten israelischen Bodenoffensive Anfang 2009. Seinerzeit hatte das Ausland 3,4 Milliarden Euro aufgebracht, um den Wiederaufbau zu finanzieren.

Die wirtschaftliche Lage war schon vor der jüngsten Gewalteskalation prekär: 40 Prozent Arbeitslosigkeit, 30 Prozent lebten unterhalb der Armutsgrenze und 70 Prozent waren auf Lebensmittelpakete der UNO oder anderer Hilfsorganisationen angewiesen. »Die Wirtschaftskrise begann aufgrund der seit acht Jahren anhaltenden Blockade«, sagt Muhsen Abu Ramadan, Direktor des Arabischen Zentrums für agrarökonomische Entwicklung im Gaza-Streifen. Fünf Jahre könnte es dauern, die Infrastruktur wieder aufzubauen, schätzt der Sozialökonom. Aber unter den Bedingungen der Blockade würden auch zehn Jahre nicht ausreichen. »Wir haben das Recht auf Einfuhr von Baumaterialien und dieses Recht muss umgehend umgesetzt werden.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 20. August 2014

Zement marsch!

Bei den derzeitigen Verhandlungen in Kairo über eine dauerhafte Waffenruhe ist die Einfuhr von Baumaterialien wie Zement, Kies und Stahl ein zentraler Punkt. Auch die israelische Seite weiß, dass es ohne Grundbaustoffe keinen Wiederaufbau geben kann. Sie besteht aber auf Kontrollmechanismen, die die zivile Verwendung garantieren.

Seit 2007 die Hamas die gemäßigtere Fatah im Gaza-Streifen von der Machtposition verdrängte, schränkte Israel die Einfuhr stark ein, um den Ausbau der militärischen Infrastruktur der Islamisten zu behindern. Nach den israelischen Militäroffensiven von 2009 und 2012 wurden die Beschränkungen bereits schrittweise gelockert. Die Mengen blieben aber gering. Dennoch boomte bis vor einem Jahr die Bautätigkeit, weil die Hamas den Zement durch hunderte Schmugglertunnel aus Ägypten in den Gaza-Streifen brachte und daran gut verdiente. Seit die mit den Islamisten verbündeten Muslimbrüder in Kairo durch das Militär von der Macht verdrängt wurden, versiegte die Quelle aber.

(nd, 20.08.2014)




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