"Israel bestraft vor allem uns Zivilisten"
Nach dem Gaza-Krieg versuchen die Menschen, zum Alltag zurückzukehren. Ein Neuaufbau ist nicht möglich, denn Zement darf nicht geliefert werden
Von Nissrine Messaoudi, Gaza *
Rund 1400 Palästinenser sind bei der
Operation »Gegossenes Blei« im Gaza-
Streifen ums Leben gekommen. Die
israelischen Panzer und Soldaten haben
Gaza vor sieben Monaten verlassen.
Zurück bleiben Trümmer, sowie
verängstigte, traumatisierte und verletzte
Menschen.
Übergangspunkt Erez: Ein kleiner
Checkpoint auf dem Weg von Israel
nach Gaza, wo bewaffnete israelische
Soldaten die Pässe der »Einreisenden
« kontrollieren. Trotz
meines deutschen Reisepasses
sorgt mein arabischer Name für
Misstrauen, der mir bereits bei der
Ankunft in Tel Aviv – nach Gaza
kommt man nur durch Israel – ein
dreistündiges und sehr unfreundliches
Verhör bescherte. Doch dieses
Mal geht es außergewöhnlich
schnell. Die Journalisten-Delegation,
die Medico International – eine
Nichtregierungsorganisation (NRO)
mit verschiedenen Partnern in Israel
und Palästina – eingeladen
hat, wird durchgelassen. Hinter
dem Zaun steht ein großes Betongebäude
mit automatischen Glastüren,
wie ein kleiner Flughafen.
Erneut werden wir einzeln befragt.
Beobachtet von Überwachungskameras,
laufen wir zehn Minuten
erst über eine gepflasterte, dann
durch eine staubige und steinige
Straße mitten im Niemandsland.
Rechts von uns sehen wir zerbröckelten
Beton, die ersten zerstörten
Gebäude.
Dann erreichen wir den Übergang
nach Gaza. Nun liegt die Kontrolle
bei den Sicherheitskräften
der Hamas. Anders als auf der israelischen
Seite ist man hier sehr
erfreut über meinen Namen. »Ahlan
wa Sahlan« heißt es immer
wieder – herzlich willkommen.
Nach der ganzen Prozedur der
Einreise, die mehrere Stunden
dauern kann – für Palästinenser
auf der israelischen Seite auch Tage
–, fahren wir nach Beit Lahiya,
das im Norden des Streifens liegt;
einen Teil von Gaza, der von den
israelischen Angriffen besonders
betroffen war. 700 Häuser sind allein
im Norden zerstört worden.
Viele weitere sind teilweise kaputt
und werden trotzdem noch bewohnt.
Fast alle Gebäude, an denen
wir vorbei fahren, sind von
Einschusslöchern übersät. Den
meisten Fenstern fehlt das Glas, da
dieses aufgrund der Blockade, die
2007 von Israel verhängt wurde,
nicht geliefert werden darf. Das
gleiche gilt auch für Zement. Damit
wird ein Neuaufbau von der israelischen
Regierung verhindert.
Unsere erste Station ist die Umm
Naser Klinik, die der Palestinian
Medical Relief Society (PMRS) angehört.
Sie ist die größte palästinensische
NRO im Gesundheitsbereich
und seit 20 Jahren Partner
von Medico. Es ist das einzige medizinische
Zentrum in der Gegend.
Im Hof steht die mobile Ambulanz,
die während des Krieges angegriffen
wurde. Denn auch medizinisches
Personal und Hilfsorganisationen
sind von den Soldaten unter
Beschuss genommen worden. Laut
einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) wurden
16 Mediziner getötet und 25 verwundet.
Durch den Beschuss wurde
außerdem verhindert, dass den
verletzten Zivilisten rechtzeitig geholfen
werden konnte, viele sind
verblutet.
Ein Wohnzimmer wird zur Klinik
Die kleine Klinik betreut täglich 60
bis 70 Menschen. Mohammed
Yaghi, der 35-jährige Arzt arbeitet
sechs Tage die Woche. »Die Menschen,
die zu uns kommen, leiden
besonders an Parasiten und Hautkrankheiten,
die durch verschmutztes
und unbehandeltes
Wasser entstehen. Betroffen sind
vor allem Kinder bis zu fünf Jahren
«, erklärt uns der in Russland
ausgebildete Arzt. Wegen der Blockade
und des fehlenden Zements
kann das Abwasser nicht umgeleitet
werden und fließt direkt ins
Meer. Die gleichzeitige Seeblockade,
die den Fischern nur erlaubt,
sich bis zu sechs Kilometer von der
Küste zu entfernen, bringt die Gefahr
weiterer Erkrankungen durch
verseuchte Fische. Doch nicht nur
die hygienischen Probleme verursachen
Krankheiten. »Die Menschen,
die hier leben, sind sehr
arm und ungebildet. Oft geben die
Mütter ihren Kindern nicht genug
Obst zu essen. Deshalb gehört es
auch zu unserer Aufgabe, die Familien
aufzuklären«.
Um noch mehr Menschen den
Zugang zu medizinischer Hilfe zu
gewähren, gibt es seit 2006 auch
zwei mobile Kliniken. Etwa 3000
Fälle behandeln sie monatlich. In
dem Minibus werden Arznei und
medizinisches Equipment transportiert
und je nachdem, was gerade
verfügbar ist, wird ein Wohnzimmer
oder ein Zelt zu einer Praxis
umfunktioniert. So ist es auch
an diesem Tag in Sakanat Marouf.
Hier leben 7000 Menschen. Die
Praxis (ein Wohnzimmer) ist voll.
Das Geschrei von Kleinkindern und
Babys, die von der Schwester geimpft
werden, füllt den Raum. Behandlung
und Medizin sind kostenlos,
was nicht unumstritten ist.
»Ich denke, wir sollten eine kleine
Gebühr erheben, um Medikamentenmissbrauch
vorzubeugen. Zumal
wir leider keine Krankenakten
in der mobilen Klinik führen«,
meint Muhammad Abu Shomar. Er
ist einer von zwei Ärzten in der
mobilen Klinik. Auch er hat im Ausland
studiert, in der Ukraine. »Seit
dem Gaza-Krieg kommen noch
mehr Menschen in die Kliniken.
Aber Probleme der Unterernährung
und der Hygiene sind nicht allein
die Folge des Krieges, sondern
auch der Blockade, mit der Israel
vor allem uns Zivilisten bestraft«,
sagt der 29-jährige Arzt.
Man erkennt die Folgen der Blockade
nicht unbedingt auf den ersten
Blick. In Gaza-Stadt sind wir
sogar positiv überrascht. Es
herrscht Leben auf der Straße. Einkaufsläden
voller Kinderfahrräder,
Autos deutscher Hersteller parken
davor, Bekleidung, Obst- und Gemüsestände.
Es gibt Mangos, Weintrauben,
Pflaumen, Bananen.
Durch den Tunnel nach Gaza
Doch die Ware kommt nicht aus Israel,
sondern aus Ägypten – so genannte
Tunnelware, die von Rafah
an der Grenze zu Ägypten nach
ganz Gaza transportiert wird. Die
Tunnelware macht bereits zwei
Drittel der Gazaprodukte aus. Unsere
Neugierde ist geweckt, wir
wollen wissen, wie diese Tunnel
aussehen und wie der Schmuggel
funktioniert. Wir fahren also nach
Rafah. Wir passieren einen Markt,
der Ventilatoren, Kühlschränke,
Generatoren (da Elektrizität aus Israel
geliefert wird und es zu
Stromausfällen von acht Stunden
täglich kommt), Geschirr und Süßigkeiten
verkauft – alles aus Ägypten.
Der Markt ist gut besucht, trotz
gepfefferter Preise. Ein Kühlschrank
kostet umgerechnet rund
1200 Euro. Ein Vermögen in Gaza.
Als wir an der Grenze ankommen,
deutet zunächst nichts auf die
Tunnel hin. Überall sehen wir nur
Zelte, die mitten im Staub aufgeschlagen
wurden. Prompt umzingelt
uns eine Horde junger Männer.
Sie wollen wissen, wer wir sind
und was wir wollen. Sie sind uns
durchaus wohl gesonnen. Einer
von ihnen erklärt sich bereit, uns in
die Geheimnisse des Tunnelbaus –
der längst kein Geheimnis mehr ist
– einzuweihen. Einzige Bedingung:
Keine Fotos und keine Namen. Wir
gehenmit.
Hinter einer provisorischen
Wellblechtür ist wieder ein großes
Familienzelt aufgespannt, um den
Tunnel zu verstecken. Um ihn herum
stehen sechs junge Männer, alle
aus Rafah. Trotz der Todesgefahr
in den Tunneln sind die Jobs
heiß begehrt, »weil es hier keine
Alternative gibt«, erzählt uns einer
der Arbeiter. Er ist gerade einmal
23 Jahre alt. Hat eine Frau und
zwei kleine Kinder. Er trägt eine
verschmutzte kurze Hose und sieht
erschöpft aus. Seit einem Monat
arbeiten die Männer 12 Stunden
am Tag, um den 250 Meter langen
und 15 Meter tiefen Tunnel zu graben.
Man könnte den Tunnel auch
für einen Wasserbrunnen halten.
Von der Mitte des Holzmastes, der
ihn umgibt, geht eine Kordel hinab,
an der die Ware befestigt wird bzw.
werden soll, denn der Bau ist noch
nicht ganz fertig. Wie viele Tunnel
es tatsächlich gibt, weiß keiner so
genau. Zwischen 500 und 1000,
heißt es. Die »Investoren« kommen
meist aus Gaza-Stadt. Sie finanzieren
den Bau, sowie die Einkäufe.
Ein lohnendes Geschäft, das schon
einige zu Millionären gemacht hat.
Aber es wird nicht alles transportiert.
Nach wie vor wird kein industrielles
Öl und kein oder nur sehr
wenig Zement geschmuggelt. Viele
Menschen in Gaza schließen daraus,
dass es ein geheimes Abkommen
zwischen Israel, Ägypten
und der Hamas gibt. Israel dürfe
weiterhin Kontrolle ausüben.
Ägypten stehe als guter Samariter
da, und Hamas sei am finanziellen
Profit beteiligt. Beweise für diese
These gibt es allerdings nicht.
Wir fragen den jungen Mann mit
dunklen Augen, was er sich als
Erstes kaufen wird, sobald der
Tunnel fertig ist. Seine Antwort
fällt bescheiden aus: »Ich möchte
gar nichts, ich will nur nach Hause
zu meiner Familie.«
Mangelwaren, die weder aus Israel,
noch aus Ägypten kommen,
sind Verhütungsmittel. Dies erfahren
wir beim Besuch des Frauengesundheitszentrums
Culture and
Free Thought Association (CFTA)
im Flüchtlingslager Al Bureij, ebenfalls
Partner von Medico. Das Zentrum
ist eine willkommene Abwechslung
für die Frauen, die unter
schweren Bedingungen ihr Leben
im Lager meistern. »Die Blockade
beeinflusst jeden Lebensbereich.
Wir ersticken hier. Wir haben
immer weniger Zugang zu allem.
Wir können Gaza seit Jahren
nicht verlassen. Sogar Stifte und
Papier müssen geschmuggelt werden,
weil die Israelis keine liefern«,
kritisieren Gründerin Majeda Al-
Saqqa und ihre Kollegin Firyal
Thabet.
Luxusgüter Kondome, Stifte und Papier
Das Frauenzentrum besteht aus
mehreren Bereichen. Während im
Sportraum eine Aerobic-Stunde
stattfindet, werden im Nebenzimmer
kosmetische Behandlungen
durchgeführt. »Für die Frauen ist
es sehr wichtig, zwischendurch
auch etwas für sich zu tun. Sport
oder Kosmetik, hier können sie abschalten,
sich wieder als Frau fühlen
und die Sorgen für einen Moment
vergessen«, erklärt Thabet
mit einem sanften Lächeln auf den
Lippen – sie scheint ihre Arbeit
sehr zu mögen. Das Highlight des
Zentrums ist eine finnische Sauna
mitten in Gaza. Nach den sportlichen
Übungen eine Wohltat. Doch
nicht alles funktioniert reibungslos,
wie uns Majeda Al-Saqqa im Labor
sagt. »Diese Maschine wertet die
Bluttests aus. Einmal ist ein kleines
Röhrchen kaputt gegangen, das
wir für umgerechnet einen Euro
hätten kaufen können, doch die Israelis
gaben keine Genehmigung
für die Lieferung der Ersatzteile.
Also mussten wir eine komplett
neue Maschine für viel Geld kaufen.«
Ein weiteres Problem seien die
bereits erwähnten Verhütungsmittel.
»Es kommen Frauen hierher,
die ungewollt schwanger geworden
sind, und weinen sich die Augen
aus. Dann müssen wir sie erst
einmal wieder beruhigen«, erzählt
Firyal Thabet. Die Frauen sehen
darin ein System der israelischen
Besatzung. Gaza mit seinen 1,5
Millionen Einwohnern gehört zu
den dichtbevölkertsten Regionen
der Erde. Durch die hohe Geburtenrate
werde die unerträgliche Situation
verschlimmert, zumal es
keine Arbeitsplätze mehr gibt, da
die gesamte Industrie und Infrastruktur
seit dem Gaza-Krieg in
Schutt und Asche liegt.
Auch die politische Lage in den
besetzten Gebieten lässt kaum auf
eine bessere Zukunft hoffen. Für
Januar 2010 sind zwar Wahlen
angesetzt, aber ob sie tatsächlich
stattfinden werden, vermag keiner
zu sagen. Hamas und Fatah scheinen
ihre eigenen Interessen zu verfolgen.
Hamas im Gazastreifen und
Fatah in der Westbank möchten
ihre Macht im jeweiligen Gebiet
festigen, was verheerende Auswirkungen
auf die gesamte palästinensische
Einigung hat. Denn damit
führen beide Parteien die israelische
Politik im Grunde weiter, die
erfolgreich versucht, die Palästinenser
zu spalten. Wie tief diese
Spaltungen bereits sind, zeigen
nicht zuletzt die Berichte der Menschenrechtsorganisation
Al Mezan – die Waage. Diese belegen, dass
Fatah in seinem Machtbereich
West Bank Hamas-Anhänger ohne
Haftbefehl einsperrt und foltert,
während Hamas in Gaza das Gleiche
mit Fatah-Anhängern macht.
Nach zwei Tagen verlassen wir
den Gazastreifen wieder. Wir haben
einen Eindruck vom Leben in
dort bekommen. Doch was es wirklich
heißt, tagein tagaus unter der
Besatzung und mit der Blockade zu
leben, das wissen nur die Menschen
in Gaza.
* Aus: Neues Deutschland, 21. August 2009
Zurück zur Gaza-Seite
Zur Israel-Seite
Zurück zur Homepage