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Gaza und Völkerrecht

Von Norman Paech *

Fast genau ein Jahr nach der Nahost-Konferenz von Annapolis hat Israel am 27. Dezember 2008 seinen Krieg im Gazastreifen begonnen. Die erste Bilanz der drei Wochen dauernden Militäroffensive ist erschreckend: Nach Angaben der UN vom 19. Januar 2009 wurden 1.340 Palästinenser und Palästinenserinnen getötet, darunter sind 460 Kinder und 106 Frauen. 5.320 Menschen wurden verletzt, darunter 1.855 Kinder, wobei ein Großteil der Verletzungen schwerwiegend ist. Doch täglich steigen die Zahlen immer noch. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass es sich bei der Hälfte aller Todesopfer um Zivilisten handelt. 90.000 Menschen wurden aus ihrem Zuhause vertrieben. Auf Israels Seite gab es 13 Todesopfer, davon sind 4 Zivilisten, und 183 Verletzte.[1]

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon zeigte sich bei seiner Pressekonferenz anlässlich seines Besuchs im Gazastreifen zwei Tage nach Ausrufung des Waffenstillstandes entsetzt und schockiert über das Ausmaß der Zerstörung.

Die UNO-Hochkommissarin Navi Pillay fordert eine unabhängige Untersuchung möglicher Menschenrechtsverletzungen. Sollte diese die Vorwürfe bestätigen, müssten sie als Kriegsverbrechen verfolgt werden. Ebenso verlangt der UNO-Sonderbeauftragte für das besetzte Westjordanland und den Gazastreifen Richard Falk unabhängige Ermittlungen, denn es gebe zwingende Beweise, dass Israel grundlegende humanitäre Prinzipien und das Kriegsrecht „gegen eine im Wesentlichen wehrlose Bevölkerung“ gebrochen habe.[2] Acht israelische Menschenrechtsorganisationen haben ihre Regierung aufgefordert, angesichts der massiven Zerstörungen im Gazastreifen Untersuchungen einzuleiten. Die Stimmen, die eine unabhängige Untersuchung des Kriegsgeschehens fordern, werden auch innerhalb der EU immer lauter. Allerdings soll insbesondere die deutsche Regierung ein derartiges Unternehmen bremsen.

Die israelische Regierung wiederum begründet ihr Vorgehen mit dem Selbstverteidigungsrecht. Die sehr hohe Zahl der zivilen Opfer rechtfertigte Außenministerin Tzipi Livni am 19.01.09 im israelischen Rundfunk damit, dass das Ziel die Terroristen der Hamas seien, dass beim Kampf gegen den Terror aber manchmal Zivilisten leiden müssten.

Die Debatte um die politischen und moralischen Fragen des Krieges erweitert sich nun zunehmend um die juristische Dimension. Dabei sind zwei Fragen zu beantworten: Erstens, hatte Israel ein Recht, den Gazastreifen am 26. Dezember 2008 anzugreifen? Dies ist die Frage nach dem sog. ius ad bellum, dem Recht zum Krieg. Zweitens, hat die israelische Armee bei ihrem Luftangriff und der folgenden Bodenoffensive die Regeln des Kriegsvölkerrechts beachtet, die bestimmte Kampfformen ausschließt und Auswirkungen ächtet? Dies ist die Frage nach der Beachtung des ius in bello, dem Recht im Krieg. Beide Fragen stellen sich natürlich gleichermaßen in Hinblick auf den Raketenbeschuss israelischen Territoriums durch Hamas und andere palästinensische Gruppen sowie ihre Kampfführung in Gaza.

Die juristische Dimension ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie zum einen Kriterien der Beurteilung bietet, die allgemein anerkannt und nachprüfbar sind, da von den Staaten kodifiziert. Zum anderen öffnet das moderne Völkerrecht seit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag und der Einführung sog. Weltstrafgesetzbücher in etlichen Staaten den Weg strafrechtlicher Verantwortung. Die folgenden Ausführungen zur juristischen Bewertung des Krieges sind ein erster und bestimmt unvollkommener Ansatz, eine Grundlegung, die weiterer Diskussion und Analyse bedarf. Vor allem werden erst dann genaue und definitive Aussagen gemacht werden können, wenn die Formen der Kriegsführung und das Ausmaß der Schäden bekannt und bestimmt sind. Genaue und verlässliche Angaben waren schwer zu erhalten, da Israel während des ganzen Krieges allen internationalen Journalisten und unabhängigen Militärbeobachtern den Zutritt zum Gazastreifen verweigert hat.

Selbstverteidigungsrecht

Das alte jus ad bellum ist für die Staaten mit der UNO-Charta von 1945 in ein jus contra bellum umgewandelt worden: Es gibt nur noch zwei Ausnahmen, die Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat (Art. 39, 42 UNO-Charta) und das Selbstverteidigungsrecht (Art. 51 UNOCharta). Israel beruft sich ausdrücklich auf das Selbstverteidigungsrecht gegen den Raketenbeschuss durch Hamas. Beide Parteien hatten am 19. Juni 2008 eine sechsmonatige Waffenpause vereinbart, die weitgehend eingehalten wurde. „Weitgehend“ bedeutet keine vollständige Waffenruhe. Nach offiziellen israelischen Angaben feuerten die Palästinenser im Juli zwei Raketen, im August acht, im September und Oktober je eine Rakete nach Israel, die zwar Sachschäden anrichteten aber keine Menschen töteten. Beide Parteien gingen davon aus, dass dieser Zustand sich noch im Rahmen des Waffenstillstandabkommens hielt – bis zum 4. November 2008. An diesem Tag startete die israelische Armee einen Angriff auf den Gazastreifen, der nach Zeitungsberichten der Zerstörung eines Tunnels galt. Die israelische Tageszeitung Haaretz schrieb am 30. Dezember 2008 über diesen Zwischenfall:

„Alles hat am 4. November angefangen, als die israelische Armee in den Gazastreifen eindrang, um einen Tunnel zu sprengen, der eine ‚tickende Bombe‘ sein sollte, nämlich ein Mittel, israelische Soldaten zu entführen. Am 11. November umzingelte die Armee ein Haus und sprengte es. Dabei wurde ein Hamas‐Mann getötet und mehrere Palästinenser verletzt. War es der einzige Tunnel in Gaza? War die große Einheit der einzige Weg, die Gefahr zu beseitigen? Man hätte doch den Ausgang des Tunnels auf der israelischen Seite blockieren oder einen Hinterhalt vorbereiten können. Israel hat sich aber mit dieser Aktion nicht begnügt. Am nächsten Tag liquidierte man ein Fahrzeug mit sechs Menschen, angeblich Hamas‐Leute. Vielleicht sind es aber Menschen auf dem Weg zum Einkaufen gewesen. Diese Aktion tief im Gazastreifen hat zur Eskalation geführt. Hamas hat darauf mit einem Hagel von Raketen geantwortet. Israel reagierte mit der Sperrung der Übergänge. So hat die Aktion“ „Gegossenes Blei“ angefangen. Dabei hat sich Hamas bis zum bitteren Tag an den Waffenstillstand gehalten. Hamas hat sogar Leute von ‚Djihad Islami‘ festgenommen, die auf Israel schossen oder zu schießen planten.“

Der Waffenstillstand endete formal am 19. Dezember 2008, beide Seiten waren an einer Verlängerung nicht interessiert. Israel nicht, da die Pläne für den baldigen Angriff schon auf dem Tisch lagen. Hamas nicht, weil Israel seine Verpflichtung, während des Waffenstillstandes die Grenzen für die Versorgung der Bevölkerung zu öffnen, nicht nachgekommen war und sich die Situation der Menschen weiter verschlechtert hatte. Es ist zwar kein offizielles schriftliches Dokument des Waffenstillstandes veröffentlicht worden, aber der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter, der an der Vermittlung der Waffenruhe im Juni 2008 beteiligt war, zählt auch die Wiederaufnahme der lebenswichtigen Lieferungen von Nahrungsmitteln, Medikamenten, Wasser und Treibstoff im alten Umfang der Zeit vor dem Rückzug der Israelis aus dem Gazastreifen zu der Vereinbarung. Laut Carter ließen die Israelis jedoch kaum ein Drittel der notwendigen Lieferungen über die Grenze. Noch im Dezember habe sich Hamas bereit erklärt, die Waffenruhe einzuhalten, wenn Israel die normalen Lieferungen wieder zulassen würde. Die israelische Regierung habe sich jedoch nur zu 15 % der früheren Warentransporte bereit erklärt, was für Hamas nicht akzeptabel war.[3] Man wird nach Kenntnis dieser Umstände denen schwer widersprechen können, die darauf verweisen, dass es Israel klar gewesen sein musste, dass die Palästinenser auf dieses Verhalten über kurz oder lang mit erneuten Raketen reagieren würden.

Doch nimmt das den Israelis das Recht auf Selbstverteidigung gem. Art. 51 UNO-Charta? Man könnte argumentieren, dass derjenige, der den Angriff durch eigenes rechtswidriges Verhalten (Bruch des Waffenstillstandes) provoziert, das Selbstverteidigungsrecht verwirkt. Andernfalls könnte sich ein Staat eine billige Legitimation für den eigenen Angriff verschaffen. Inzwischen hat Verteidigungsminister Barak selbst eingestanden, dass der Angriff vom 27. Dezember von langer Hand sorgfältig geplant und vorbereitet worden war. Damit ist zumindest die Behauptung widerlegt, dass die Raketen der Auslöser des Angriffs gewesen sind. Und das wiederum nährt die Zweifel an der gängigen und weithin akzeptierten These, Israel habe in Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts den Gazastreifen angegriffen.

Völkerrechtlichen Pflichten einer Besatzungsmacht

Unterstellen wir dennoch ein uneingeschränktes Recht der Israelis auf Selbstverteidigung gegen die Raketen der Palästinenser, so befreit auch dieses Recht nicht von den Regeln und Gesetzen, die das humanitäre Völkerrecht jeder militärischen Aktion auferlegt.

Bevor wir jedoch diese Fragen erörtern, sei noch ein kurzer Blick auf den rechtlichen Status des Gazastreifens gerichtet. Es ist ein Gebiet ohne Staatsqualität, ohne faktische oder rechtliche Souveränität. Es ist von keinem Staat anerkannt und nach dem Rückzug der israelischen Siedler und Soldaten im Sommer 2005 in den Augen der israelischen Regierung auch nicht mehr Besatzungsgebiet mit den sich daraus für die israelische Regierung ergebenden völkerrechtlichen Pflichten einer Besatzungsmacht: ein rechtliches Niemandsland. Dies galt jedoch höchstens bis zu den Wahlen im Januar 2006. Denn nach den Wahlen schloss sich wieder der Ring um den Gazastreifen, zunächst durch die Verweigerung der Auszahlung der Zoll- und Steuereinnahmen und dem Stopp der ausländischen Zahlungen bis zu der vollständigen Blockade mit Boykott und Schließung der Grenzen, nachdem im Juni 2007 Hamas die Macht in Gaza übernommen hatte. Seitdem ist Gaza faktisch wieder zum besetzten Gebiet geworden.

Nach der klassischen Definition des Artikels 42 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) von 1907 gilt ein Gebiet als kriegerisch besetzt, „wenn es sich tatsächlich in der Gewalt des feindlichen Heeres befindet. Die Besetzung erstreckt sich nur auf die Gebiete, wo diese Gewalt hergestellt ist und ausgeübt werden kann.“ Es ist aber nicht erforderlich, dass die feindliche Armee sich an jedem Ort des besetzten Gebietes befindet. Besetzt ist ein Gebiet dann, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt und effektiv unter der Kontrolle der gegnerischen Streitkräfte befindet, d.h. wenn die Besatzungsmacht faktisch in der Lage ist, ihre Herrschaft über die Zivilbevölkerung durchzusetzen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die israelische Armee spätestens seit Sommer 2007 den Gazastreifen wieder unter ihre vollständige Kontrolle gebracht hat. Weder zu Land, noch zu Luft oder Wasser konnte jemand ohne die Erlaubnis der israelischen Armee das Gebiet verlassen oder betreten. Es gab praktisch keine Bewegungsfreiheit aus dem Gebiet heraus, und jede Bewegung in dem nur 365 km² großen Areal unterlag der lückenlosen Luftüberwachung durch das israelische Militär. Für die Anwendung des Besatzungsrechts zum Schutze der Bevölkerung reicht es aus, dass die Besatzung auch ohne die Anwendung militärischer Gewalt erfolgt, weil etwa jeder Widerstand auf Grund der Übermacht des Gegners unterbleibt. Entscheidend ist nur die vollständige und effektive Kontrolle durch die fremde Macht – und die lag ab Sommer 2007 bei der israelischen Armee.

Daraus folgt eine Reihe von rechtlichen Verpflichtungen, die in der HLKO und später im IV. Genfer Abkommen von 1949 sowie den beiden Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen von 1977 kodifiziert worden sind.[4] Vornehmlich geht es dabei um den Schutz und die Versorgung der Zivilbevölkerung. Artikel 43 HLKO überträgt der Besatzungsmacht die Aufgabe, „alle von ihm abhängenden Vorkehrungen zu treffen, um nach Möglichkeit die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, und zwar, soweit kein zwingendes Hindernis besteht, unter Beachtung der Landesgesetze.“ Diese Aufgaben umfassen nicht nur die Versorgung der Bevölkerung mit den lebensnotwendigen Nahrungsmitteln und medizinischen Gütern (Art. 55 ff. IV. Genfer Abkommen), sondern den Schutz der Menschenrechte, der religiösen und anderen Gebräuche (Art. 27 IV. Genfer Abkommen) sowie die Achtung der innerstaatlichen Rechtsordnung (Art. 64 IV. Genfer Abkommen). Ausdrücklich verboten sind der Besatzungsmacht die Annexion besetzten Territoriums (Art. 2.3 u. 2.4 UN-Charta), die Besiedlung mit eigenen Staatsangehörigen sowie die Verschleppung von Teilen der Bevölkerung (Art. 147 IV. Genfer Abkommen, Art. 85.4 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen von 1976). Der Verstoß gegen diese Verbote ist als Kriegsverbrechen zu ahnden, wofür der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag zuständig ist (Art. 8.2 a, b Statut des Internationalen Strafgerichtshof - IStGH - von 1998).

Recht zum Widerstand?

Nichts ist in den Haager und Genfer Abkommen über das Recht der Bevölkerung zum Widerstand gegen die illegale Besetzung gesagt. Überwiegend wird in der völkerrechtlichen Literatur die Meinung vertreten, dass die besetzte Bevölkerung kein Recht habe, gegen die Besatzungsbehörden und ihre Streitkräfte mit Gewalt vorzugehen. „Es gibt weder ein individuelles noch kollektives Widerstandsrecht“.[5] Das mag für eine Situation gelten, in der die Besatzungsmacht ihren völkerrechtlichen Ordnungs- und Versorgungspflichten nachkommt. Gegen eine Besatzungsmacht, die die Verbote der Annexion, Besiedlung und Verschleppung missachtet und auch ihren Versorgungspflichten nicht nachkommt, muss es jedoch ein Recht zum Widerstand geben. Dieses folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, welches seit den 1960er Jahren als zwingendes Recht anerkannt ist. In der berühmten „Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten“, der sog. Friendly-Relations-Deklaration vom 24. Oktober 1970, hat die UNO-Generalversammlung festgestellt, dass jede Gewalt verboten ist, die einem Volk „sein Recht auf Selbstbestimmung und Freiheit und Unabhängigkeit“ entzieht. Daran anknüpfend haben die Staaten auf der Rotkreuz-Konferenz von 1977 in Artikel 1.4 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen bestimmt, dass „bewaffnete Konflikte, in denen Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen“, als internationale bewaffnete Konflikte zu gelten haben. Der Widerstand gegen jede „fremde Besetzung“ ist demnach gerechtfertigt, also auch im Gazastreifen. Sobald der Widerstand zur Gewalt greift, ist er allerdings an die Regeln des humanitären Völkerrechts gebunden. Das bedeutet: die Kämpfer erhalten den Status der Kombattanten und jeder Angriff auf Zivilisten sowie auf zivile Einrichtungen ist verboten. Der Abschuss von Kassam- und Katjouscha- Raketen auf israelische Ortschaften ist deswegen ebenfalls ein Verstoß gegen das Völkerrecht.

Juristische Aufarbeitung des Kriegs durch Internationale Kommission

Die Bilanz des Krieges ist furchtbar. Die israelische Luftwaffe flog allein bis zum 15. Januar 2009 2.360 Angriffe,[6] die Panzereinheiten stießen bis in die Städte Gaza, Khan Younis und Rafah vor, die Marine nahm den Streifen von See aus unter Feuer.[7] Aber nicht nur die vielen Toten und Verwundeten sind zu beklagen.

Erste Schätzungen von unabhängiger Seite geben die Höhe der entstandenen Schäden mit 2 Mrd. US-$ an. Etwa 15 % aller Gebäude im Gazastreifen sind zerstört oder schwer getroffen, über 4.100 Wohnhäuser, rund 1.500 Betriebe und Werkstätten und 20 Moscheen - die Zahlen erhöhen sich täglich. Auch sind ca. 70 % der Tunnel nach Ägypten, durch die nicht nur Waffen, sondern vor allem Lebensmittel für die von Lieferungen aus Israel abgeschnittene Bevölkerung geschmuggelt wurde, offensichtlich zerstört.

UN-OCHA schrieb bereits am 8. Januar 2009 in seinem wöchentlichen Bericht: „Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen – keine sichere Zuflucht, keinen Bunker und die Grenzen sind geschlossen, Zivilisten haben keinen Ort zum Fliehen.“ Auf einer Fläche von 365 km², nicht halb so groß wie Hamburg, drängen sich 1,5 Mio. Menschen (Hamburg 1,7 Mio.). In dieser Situation blieb den Bewohnern kaum eine Fluchtalternative, wenn sie von der israelischen Seite aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen, weil diese anschließend bombardiert würden.

Die Behauptung der israelischen Armee, die Hamas-Kämpfer hätten sich hinter den Zivilisten versteckt und diese als Schilde benutzt – beides ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht (Art. 51.7 1. Zusatzprotokoll) und in schweren Fällen als Kriegsverbrechen zu verfolgen (Art. 8.b.xxiii Statut des IGH) – wirkt bis zum Nachweis konkreter Fälle wenig überzeugend. Die Bevölkerungsenge macht eine deutliche Trennung von zivilen Einrichtungen und Kämpfenden kaum möglich. Zudem zeigen die zahlreichen Bombardierungen von Einrichtungen der UNO (Schulen, Krankenhäuser, Fahrzeuge), von Universität, Ambulanzen, Ministerien und öffentlichen Gebäuden zweierlei: entweder sie erfolgten vorsätzlich und zielgerichtet oder es bestand keine objektive Möglichkeit der eindeutigen Trennung von zivilen und militärischen Anlagen für die Angreifer. Im zweiten Fall handelt es sich nicht um bedauerliche aber straflose Kollateralschäden, sondern wie im ersten Fall um eindeutige Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Denn Art. 51 1. Zusatzprotokoll verbietet einen

„Angriff, bei dem damit zu rechnen ist, dass er auch Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursacht, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten Fall und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.“

Die Frage der Verhältnismäßigkeit wird immer ein Streitfall der konkreten Bewertung zwischen den Gegnern bleiben. Die Zahl der zivilen Opfer und das Ausmaß der erfolgten Zerstörungen in Gaza jedoch müssen schon heute als unverhältnismäßig angesehen werden gegenüber dem Kriegsziel, die Hamas zu schwächen und den Raketenbeschuss zu unterbinden. Nach Art. 85.3.b. 1. Zusatzprotokoll handelt es sich um Kriegsverbrechen, die in schweren Fällen vor dem Internationalen Strafgerichtshof verfolgt werden können (Art. 8.2.b.i. Statut des IStGH).

Eine Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof wird allerdings nach diesem Krieg nicht in Frage kommen, da weder Israel noch die Palästinenser das Statut unterzeichnet haben. Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit können jedoch inzwischen vor einer Reihe nationaler Strafgerichte angeklagt werden, die über ein Weltstrafrecht verfügen, wie z.B. Deutschland und Belgien.

Das israelische Verteidigungsministerium hat auch schon vor Beendigung des Krieges damit begonnen, in Erwartung der strafrechtlichen Anklagen gegen führende Offiziere und Politiker Material vor Ort zu sammeln, welches die These bestätigen soll, dass ausschließlich gegen die Hamas gekämpft worden sei, diese jedoch die Zivilbevölkerung als Schutz benutzt habe und für die vielen Opfer selbst verantwortlich sei.[8]

Es wird also bei der juristischen Aufarbeitung um konkrete Kampfmethoden, Kampfmittel und Schäden gehen.

Amnesty International wirft Israel den Einsatz von Phosphorbomben vor, der inzwischen von der israelischen Armee zugegeben wird.[9] Der Einsatz von Phosphor ist zwar nicht generell verboten, darf aber in einer derart dichtbesiedelten Umgebung wegen seiner unterschiedslosen Wirkung nicht eingesetzt werden (vgl. Art. 51.4 1. Zusatzprotokoll). Auch wird Israel vorgeworfen, Munition mit abgereichertem Uran verwendet zu haben. Dies wird zwar von Israel bestritten, der Vorwurf wird jedoch zu prüfen sein.

Zudem müssen die Angriffe auf Moscheen, die als religiöse Kultstätten gem. Art. 53 1.Zusatzprotokoll geschützt sind, untersucht werden. Sie dürfen natürlich nicht zu militärischen Zwecken missbraucht werden, die Kultstätte kann bei militärischer Nutzung ihre Unverletzlichkeit verlieren (vgl. Art. 6 Zusatzprotokoll von 1999 zum ursprünglichen Abkommen von 1954).

Ebenso können die bisher 15 bekannt gewordenen Angriffe auf medizinische Einrichtungen wie Ambulanzen, mobile Kliniken, drei Regierungshospitäler, ein Zentrum für geistig behinderte Menschen und ein medizinische Lagerhaus nicht als einfache Kollateralschäden verharmlost werden. Die bekannt gewordenen Fälle, dass verletzte Zivilpersonen bis zu sieben Tagen ohne medizinische Versorgung, Wasser und Nahrung in Häusern und Ruinen eingeschlossen wurden, ehe die Armee dem Roten Halbmond (PRCS) den Zugang und die Befreiung erlaubte, stellen schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht dar.

Wenn Artikel 54 1. Zusatzprotokoll bestimmt: „Das Aushungern von Zivilpersonen als Mittel der Kriegsführung ist verboten“, so geht es dabei um die Frage, wie das Überleben der Zivilbevölkerung im Krieg auch gegen Hunger, Krankheit und Elend gesichert werden kann. Es ist absolut verboten, für die Bevölkerung lebensnotwenige Objekte anzugreifen, zu zerstören oder unbrauchbar zu machen. Bereits während der Militäroffensive ist das durch die Blockade der Jahre zuvor marode Gesundheitssystem kollabiert. Gerade in diesem zentralen Bereich hat Israel seine Besatzungspflichten vollkommen vernachlässigt. Viele verletzte Menschen starben, weil sie medizinisch nicht angemessen versorgt werden konnten.

Mehr als eine halbe Million Menschen sind vollkommen vom Trinkwasser abgeschnitten. Das Stromnetz in Gaza-Stadt ist zu 80 Prozent beschädigt, die Abwässer fließen in den Straßen, da die Pumpen mangels Elektrizität oder auf Grund der Bombardements nicht mehr arbeiten. Allein für humanitäre und Soforthilfe hält der Leiter der UN-Hilfsdienste, John Holmes, hunderte Millionen Dollar für erforderlich. Die gesamten Wiederaufbaukosten gingen in die Milliarden.

Die Bilder der Zerstörung, die uns nun erreichen, dokumentieren eine Katastrophe entsetzlichen Ausmaßes. Die Toten mögen begraben werden, die Verwundeten wieder gesunden, die Trümmer beseitigt und neue Bauten errichtet werden. Der Krieg aber wird sich tief in das Gedächtnis der Überlebenden eingraben und in den nächsten Jahrzehnten nicht aus ihrem Bewusstsein weichen. Schon jetzt stehen Gelder zur Verfügung, den Wiederaufbau zu beginnen. Wenn aber die EU – wie angekündigt - ihre Hilfe von der Abdankung der Hamas abhängig macht, setzt sie den Krieg mit anderen Mitteln fort.

Notwendig wird sein, die Geschehnisse dieser 23 barbarischen Tage zu untersuchen, um die völkerrechtliche und evtl. strafrechtliche Verantwortung festzustellen. Auch zivilrechtliche Klagen auf Entschädigung wegen zerstörten Eigentums sind zu erwarten. Dafür müsste umgehend eine internationale, unabhängige Untersuchungskommission zusammengestellt werden, die vor Ort die Sicherung der Beweise vornimmt. Nur dann, wenn dieser Krieg auch zu rechtlichen Konsequenzen führt, erfüllen die Bemühungen der Staaten um die Fortentwicklung und Verbesserung der Regeln gegen den Krieg ihren Sinn. Wer nicht zur Verantwortung gezogen wird und nichts zu befürchten hat, wird immer eine Gefahr für seine Nachbarn bleiben.

Fußnoten
  1. UN Office For The Humanitarian Affairs (OCHA) v. 19. Januar 2009.
  2. apd Meldung vom 22.01.2009, 20:51:00 h, UN-Experte fordert Ermittlung zu möglichen Kriegsverbrechen Israels. Jüngst hat sich diesen Forderungen auch der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Xavier Solana, angeschlossen.
  3. Jimmy Carter: An Unnecessary War. Washington Post vom 8. 1. 2009.
  4. Israel bestreitet zwar die Anwendbarkeit der Genfer Konventionen auf die besetzten Gebiete und hat auch die beiden Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen nicht ratifiziert. Das ist jedoch unerheblich, da es sich bei den Protokollen bereits weitgehend um Gewohnheitsrecht handelt, und die Ablehnung der Genfer Konventionen von niemand anders geteilt wird.
  5. Hans-Peter Gassner 2007: Humanitäres Völkerrecht, S. 134.
  6. The Independent, 15 January 2009.
  7. Haaretz meldete am 14. Januar, dass bis dahin 565 Raketen und 200 Granaten in Israel einschlugen.
  8. Vgl. etwa FAZ v. 24. Januar 2009, S. 2.
  9. Afd Meldung vom 23.01.2009, 08:00 h, „Israel bereitet Verteidigung gegen Kriegsverbrecher-Vorwürfe vor - Olmert setzt Arbeitsgruppe ein.“
* Der Beitrag erscheint in: Welttrends – Zeitschrift für internationale Politik, Nr. 65 (2009)


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