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Israels "Mavi Marmara"-Bericht empört Türkei

Ministerpräsident Erdogan spricht von einem bestellten Report über die Erstürmung der Gaza-Hilfsflotte im Mai 2010

Von Jan Keetman, Istanbul *

In der Türkei hat es nicht besonders überrascht, dass die israelische Untersuchung über die Erstürmung des türkischen Hilfsschiffes »Mavi Marmara« im Mai 2010 beim Versuch, die Gaza-Blockade zu durchbrechen, zu einem Freispruch für Israel kam.

Dieses Ergebnis hatte man erwartet. Trotzdem haben die Details doch noch einigen Staub aufgewirbelt. Türkische Kommentatoren weisen darauf hin, dass den neun getöteten Türken nur fünf Seiten in dem vorläufigen Report gewidmet werden. Ferner wird darauf hingewiesen, dass die Untersuchungskommission 133 Fälle von Gewaltanwendung aufzählt, von denen 127 gerechtfertigt und sechs weiter zu prüfen seien, ohne auf die Art der Schussverletzungen der Getöteten einzugehen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan sprach von einem bestellten Report.

Die von dem Richter Jaakov Tirkel geleitete Untersuchungskommission kam in ihrem ersten Vorbericht, anders als seinerzeit die UNO, zu der Überzeugung, dass die Erstürmung der »Mavi Marmara« auf hoher See gerechtfertigt gewesen sei. Nachdem es wegen des Widerstandes der türkischen Aktivisten nicht gelungen sei, die »Mavi Marmara« von Booten aus zu betreten, seien 15 Soldaten von Helikoptern aus mit Strickleitern gelandet und sofort von etwa 40 Aktivisten mit Äxten, Messern, Hämmern, Glasscherben und anderem angegriffen worden. Ein Soldat sei in den Bauch geschossen worden. Einige der Aktivisten hätten vor der Abfahrt erklärt, sie wollten als Märtyrer sterben. Auf der »Mavi Marmara« hätten sich keine Hilfsgüter befunden. Der vorläufige Report wurde auch von den beiden nichtisraelischen Mitgliedern der Untersuchungskommission, dem nordirischen Friedensnobelpreisträger David Trimble und dem kanadischen Militärjuristen Kenneth Watkin, unterschrieben.

Die Türkei hatte eine unabhängige Untersuchung gefordert. Türkische Zeugen, um deren Auffindung die Kommission die türkische Botschaft vergeblich gebeten haben soll, konnten nicht gehört werden. Umgekehrt war die türkische Aufklärungskommission in ihrem im September veröffentlichten Bericht – ohne israelische Zeugen zu hören – zu genau dem gegenteiligen Ergebnis gekommen. Demnach war der Angriff illegal und die Israelis hätten sofort und grundlos um sich geschossen.

Der Vorsitzende der türkisch-islamischen Hilfsorganisation IHH, Bülent Yildirim, hatte sich aber nach seiner Rückkehr von der »Mavi Marmara« ganz anders geäußert. Yildirim erklärte, dass sich die Aktivisten die »Mavi Marmara« 35 Minuten lang verteidigt hätten, erst dann hätten die Israelis geschossen. Als Vorsitzender der IHH war Yildirim praktisch der Eigentümer der »Mavi Marmara«.

Eine objektive Aufklärung ist wohl von keiner Seite zu erwarten und ist auch nicht möglich, solange jede Seite nur die eigenen Zeugen hört. Längst geht es auch nicht mehr um Einzelheiten, die Toten sind zu Märtyrern geworden. Israel seinerseits hat die Türkei scheinbar längst abgeschrieben, obwohl sie einmal ihr einziger Freund in der Region war.

* Aus: Neues Deutschland, 25. Januar 2011


50 Schiffe für Gaza

Von Rüdiger Göbel **

Zum Jahrestag des israelischen Angriffes auf den Schiffskonvoi für den Gazastreifen will die türkische Hilfsorganisation IHH erneut versuchen, die gegen die Palästinenser verhängte Blockade zu durchbrechen. Voraussichtlich wird die Solidaritätsflotte aus 50 Schiffen bestehen. Das erklärte IHH-Sprecher Salih Bilici am Montag auf AFP-Anfrage. Die »Mavi Marmara«, auf der bei der israelischen Erstürmung Ende Mai vergangenen Jahres neun türkische Aktivisten erschossen wurden, soll als Flaggschiff dienen. Den Angaben zufolge sollen am 31.Mai mehrere Schiffe aus Griechenland, Italien und Großbritannien in die Türkei starten und dort mit dem geplanten türkischen Verbund vereinigt werden. Nach der Parlamentswahl in der Türkei am 12.Juni will die Flotte dann mit Medikamenten, Baumaterialien und anderen Hilfsgütern für die 1,5 Millionen Palästinenser nach Gaza aufbrechen.

Mit der Ankündigung reagierte die Stiftung für Menschenrechte, Freiheitsrechte und Humanitäre Hilfe (IHH) auf die am Sonntag vorgestellten »Schlußfolgerungen« der israelischen Untersuchungskommission um den früheren Richter Jaakov Turkel. Diese hatte den Überfall auf die sogenannte Free-Gaza-Flotte als »rechtmäßig« bewertet. Auch die Seeblockade um den Gazastreifen stehe »im Einklang mit internationalem Recht«, behauptet die Turkel-Kommission. Es müsse verhindert werden, dass »Waffen und Terroristen auf dem Seeweg in den Gazastreifen« kämen. Die sechs Mitglieder der von der israelischen Regierung eingesetzten Untersuchungsgruppe entlasteten die israelische Regierung und Armee einstimmig. Sie hatten in den vergangenen Monaten Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Ehud Barak und Generalstabschef Gabi Aschkenasi angehört. Von den an dem Angriff beteiligten Soldaten und Offizieren erhielt keiner die Erlaubnis zur Aussage.

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan reagierte vor Journalisten in Ankara empört auf den Rechtfertigungsreport. Dieser sei schließlich von Israel »vorbereitet und beauftragt«, er habe »keinerlei Glaubwürdigkeit«. Die menschenrechtspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Annette Groth, die am Hilfskonvoi für Gaza vor einem Jahr teilgenommen hatte, nannte den Turkel-Bericht einen »Skandal«. Bereits der Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen vom September 2010 habe den bewaffneten Überfall israelischer Spezialeinheiten auf die Solidaritätsflotte mit scharfen Worten verurteilt. Die Soldaten seien mit »nicht hinnehmbarer Brutalität« und mit »unverhältnismäßiger Gewalt« vorgegangen. Der Report des UN-Menschenrechtsrats, der vom Melzer-Verlag gerade in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde, hatte auch die Berichte von Augenzeugen über willkürliche Hinrichtungen von unbewaffneten Menschen durch israelische Soldaten an Bord der »Mavi Marmara« bestätigt und nochmals auf die Rechtswidrigkeit der Blockade gegen den Gazastreifen hingewiesen.

Die Ärzteorganisation IPPNW wertet den Bericht der Turkel-Kommission als »Rückschlag« für die international immer wieder erhobene Forderung, die Blockade des Gaza­streifens zu beenden. »Daß die Kommission die dreieinhalb Jahre andauernde Seeblockade für mit internationalem Recht vereinbar erklärt, ist inakzeptabel«, kritisierte am Montag IPPNW-Vorstandsmitglied Matthias Jochheim, der vor einem Jahr auf der »Mavi Marmara« mitgefahren war.

** Aus: junge Welt, 25. Januar 2011

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