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Ein Mandat des erhobenen Fingers

UNO-Untersuchungsausschuss zum Angriff auf Gaza-Flottille nahm seine Arbeit auf / Kompetenzen des Gremiums noch unklar

Von Roland Etzel *

Eine vierköpfige UN-Kommission hat am gestrigen Dienstag (10. Aug.) in New York ihre Arbeit aufgenommen. Sie soll die Umstände untersuchen, die bei dem israelischen Militäreinsatz gegen ein Schiff der Hilfsflotte für Gaza Ende Mai zum Tod von neun Türken geführt haben.

Reichlich zehn Wochen nach dem Tag X im östlichen Mittelmeer hat sich jetzt das politisch am höchsten angebundene Gremium zur Klärung des Kidnappings im Mittelmeer konstituiert. UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon bezeichnet die vier nunmehr mitwirkenden Persönlichkeiten als von ihm persönlich berufen, wohl auch um langwierigen Streit um ein Auswahlverfahren zu vermeiden. Tatsächlich berufen hat er freilich allein die beiden Herren aus Übersee, während die Vertreter der streitenden Parteien nur von diesen selbst nominiert werden konnten, wenn die Sache als ernsthaft angesehen werde sollte. Diskussionen gibt es dennoch.

Als Leiter von Ban vorgesehen ist Geoffrey Palmer, 1989/90 Premierminister Neuseelands. Dazu kommen Alvaro Uribe Vélez, gerade aus dem Amt geschiedener Präsident Kolumbiens; der Israeli Joseph Ciechanover und der Türke Özdem Sanberk – zwei langgediente Diplomaten. Zwei hochrangige Politiker ohne aktuelles Amt aus weit vom Tatort entfernten, also im vorhandenen Konflikt annähernd unparteiischen Staaten zusammenzusetzen mit zwei von den Konfliktparteien aus ihrem eigenen Land benannten Experten – das klingt erst einmal als Modell vielversprechend. Bei näherem Hinsehen vermisst man allerdings eine politische Unterfütterung.

Die Autorität Bans mag protokollarisch bedeutsam sein, politisch überragend ist sie gleichwohl nicht. Die Untersucher wie die Untersuchten können seinen Intentionen folgen oder auch nicht. Denn es sind Empfehlungen. Es gibt keine Resolution des UN-Sicherheitsrates zu der Kommission, folglich auch keinen Sanktionskatalog bei Nichtbefolgen etwaiger Aufforderungen. Es gibt bisher lediglich ein Mandat des erhobenen Zeigefingers. Man muss also abwarten, wie weit der Kooperationswille Israels und der Türkei reicht. Entsprechend den Fakten geht es freilich fast ausnahmslos um nur einen Beteiligten: Israel.

Deshalb hatte sich ja dessen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bis vor wenigen Tagen geweigert, die Kommission zu akzeptieren. Nun gehört man dazu und hat damit seit dem Überfall vom 31. Mai bereits einen langen Weg des Zurückruderns hinter sich – und auch einen der Erkenntnis.

Jener nämlich, dass man den Bogen offensichtlich überspannt hatte. Unmittelbar nach dem Überfall hatten sich Netanjahu und sein Außenminister Avigdor Lieberman noch empört geäußert über den »Akt der Aggression offensichtlicher Hamas-Sympathisanten«. Als aber der Repräsentant des Nahostquartetts, Tony Blair, sich »schockiert« über den israelischen Angriff auf die Hilfsschiffe äußerte und Bundeskanzlerin Angela Merkel »besorgt eine Untersuchung des Vorfalls in internationalen Gewässern« forderte, war man in Israels Regierung offensichtlich nachdenklich geworden. Größere Freunde als Blair und Merkel hat Netanjahu nicht in Westeuropa. Folglich war deren unterkühlter Protest zwar selbst keine Gefahr für das Likud-geführte Rechtsaußenkabinett, aber dennoch ein wichtiger Sensor für die allgemein gegenüber der israelischen Haudrauf-Politik geänderte Stimmungslage auf dem Alten Kontinent.

Hinzu kommt, dass Netanjahu auch tief im Fettnäpfchen der US-Politik stand. Ein scharfzüngig geführter und möglicherweise nicht nur kurzfristiger Streit zwischen Israel und der Türkei, ihren beiden Hauptstützen im Nahen Osten, wegen – aus Sicht des Weißen Hauses, Nichtigkeiten – das war das letzte, was Washington jetzt zu tolerieren gedachte. Die Ansprachen müssen deutlich gewesen sein. Selbst Lieberman, der Antidiplomat als Außenminister, verstummte.

Mit Aufklärungswille oder gar Bedauern hat das, wie Netanjahus jüngste Weigerung, auch nur einen beteiligten Soldaten befragen zu lassen, nichts zu tun. Aber man geht eben mit Triumphgesten, vor allem gegenüber der Türkei, merklich sparsamer um. Auch die Behauptung, die beiden innerisraelischen Untersuchungsausschüsse seien für die Klärung ausreichend, wiederholt Netanjahu nicht mehr.

Dass die UN-Kommission bei ihrem ersten Bericht im September mit spektakulären Urteilen aufwarten wird, erwartet kaum jemand. Viel mehr Argwohn bringt die israelische Regierung einer Gruppe vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzter unabhängiger Experten entgegen. Deren erste öffentliche Äußerung aber steht noch aus.

LINKE: Kommission von großer Bedeutung

Zur Einsetzung der UN-Kommission zur Untersuchung der Erstürmung einer Gaza-Hilfsflotte durch Israel erklärte am Dienstag (10. Aug.) der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Gregor Gysi:

Es hat eine große Bedeutung, dass heute eine internationale Untersuchung hinsichtlich der Gaza-Hilfsflotte beginnt. Für alle Staaten muss endlich klar sein, dass der Angriff auf Schiffe in internationalen Gewässern nicht nur völkerrechtswidrig ist, sondern nicht mehr hingenommen wird und für den Verursacher negative Konsequenzen hat. Wenn dabei auch noch Menschen getötet werden, ist das Maß überschritten.

Die israelische Armee hat das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollte. Nicht nur die internationale Untersuchung muss sie hinnehmen, sondern auch eine Lockerung und irgendwann die Aufhebung der Blockade des Gaza-Streifens. Wer Frieden in Nahost will, muss ein sicheres, eigenständiges, von allen Nachbarländern anerkanntes Israel und ein sicheres, eigenständiges, lebensfähiges und auch von Israel anerkanntes Palästina anstreben.



* Aus: Neues Deutschland, 11. August 2010


Böse Miene, böses Spiel

Von Roland Etzel **

Es ist ein ständiges Wechselspiel auf der nahöstlichen Sommerbühne 2010. Das Stück heißt Gaza-Hilfsflotten-Überfall-Untersuchungsausschuss und hat an Spannung, Krise, jäher Wendung, Mono-, Dia-, Trialog all das zu bieten, was Theaterenthusiasten schätzen. War es Tragödie von Anfang an, so ist es lange schon auch Lehrstück, wie man (Politik) erfolgreich inszeniert.

Jüngste Szene: Netanjahus Wortwechsel mit dem UNO-Generalsekretär. Bei dem einer von beiden lügt. Niemals, so schäumte Netanjahu gestern, sei verabredet gewesen, israelische Soldaten befragen zu lassen, und sieht sich vom obersten Weltdiplomaten schändlich hintergangen. Ban hingegen betonte am Dienstag, es gebe keine verdeckten Absprachen. Er hätte auch sagen können, Israel habe dem Ausschuss schließlich zugestimmt. Der aber habe nur Sinn, wenn man dabei die Beteiligten beider Seiten befragen könne. Das Duell auf der Bühne aber hat Ban wohl längst verloren.

Auch das Spiel mit verteilten Rollen kommt bei »Gaza« nicht zu kurz. Während Netanjahu die blutige Erstürmung der türkischen Schiffe als »völlig rechtmäßig« verteidigt, trägt sein Kriegsminister zu gleicher Zeit die Träne im Knopfloch und bedauert »aufrichtig den Verlust von Menschenleben« auf den Schiffen.

Shakespeares Jago, dessen ansichtig, schliche neidgelb in die Kulissen.

** Aus: Neues Deutschland, 11. August 2010


Straffreiheit

Netanjahu diktiert die Bedingungen

Von Werner Pirker ***


Die vom Vorsitzenden der Linksfraktion, Gregor Gysi, geäußerte Genugtuung über das Zustandekommen einer UNO-Kommission zur Untersuchung des israelischen Angriffs auf die Gaza-Hilfsflotille dürfte sich wohl als verfrüht herausstellen. »Für alle Staaten muß klar sein«, sagte er, »daß der Angriff auf Schiffe in internationalen Gewässern nicht nur völkerrechtswidrig ist, sondern nicht mehr hingenommen wird. Wenn dabei auch noch Menschen getötet werden, ist das Maß überschritten«. Sein Wort in der Staatengemeinschaft Ohr.

Doch nichts wird danach klar sein, und israelische Völkerrechtsverstöße werden auch weiterhin ungestraft hingenommen werden. Denn noch bevor die vierköpfige Kommission, der neben den Vertretern Israels und der Türkei auch der frühere kolumbianische Präsident Uribe angehört, an die Arbeit ging, machte der israelische Ministerpräsident Netanjahu klar, daß Tel Aviv eine umfassende Untersuchung in Wirklichkeit hintertreiben will. »Israel arbeitet nicht zusammen und nimmt auch nicht teil an einem Gremium, das israelische Soldaten verhören will«, sagte er und berief sich auf eine diesbezügliche Abmachung mit UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon, der davon aber nichts wissen will.

Netanjahu verlangt nicht weniger, als daß die Untersuchung des Feuerüberfalls auf die »Marmara« nach israelischen Vorgaben durchgeführt zu werden habe. Statt Soldaten zu vernehmen, seien die Ergebnisse der israelischen Untersuchungskommission zur Wahrheitsfindung heranzuziehen. Doch auch diesem Gremium ist die Einvernahme von Militärs untersagt. Mit dem Guerilla-Jäger Uribe kann Tel Aviv zudem auf ein Kommissionsmitglied zählen, der an der israelischen »Aufstandsbekämpfung« bestimmt nichts auszusetzen weiß.

Wenn aber die Erstürmung der Gaza-Flotte nicht rechtmäßig war und die israelischen Soldaten nur Gewalt angewandt hätten, um ihr Leben zu retten, ist die Weigerung Netanjahus, sie vernehmen zu lassen, umso weniger verständlich. Was sollten die Jungs denn da erzählen, was ihren Befehlshabern peinlich sein könnte? Grundsätzlich dürfte es der Staatsführung darum gehen, sich für ihre Militäraktionen nicht vor internationalen Gremien verantworten zu müssen und daran beteiligte Soldaten der internationalen Strafverfolgung, sollte eine solche je in Erwägung gezogen werden, zu entziehen. Neben den USA sucht sich auch Israel des Privilegs zu versichern, seine Streitkräfte jenseits des internationalen Strafrechts agieren zu lassen.

Die von Beginn an von den Israelis diktierten Arbeitsbedingungen der Kommission lassen so alles andere als ein objektives Ergebnis erwarten. Israelische Piratenakte werden wohl weiter hingenommen werden. Nicht mehr hinnehmen hieße nämlich, Sanktionen gegen den zionistischen Staat als notorischen Rechtsbrecher zu verhängen. Daran aber wagt man nicht einmal zu denken.

*** Aus: junge Welt, 11. August 2010 (Kommentar)

Heike Hänsel, entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion kritisiert in einer Presseerklärung die Besetzung der UN-Kommission:

Es ist eine Verhöhnung der Opfer, daß der scheidende kolumbianische Präsident Alvaro Uribe Velez von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon zum Vizepräsidenten der Untersuchungskommission zum Angriff auf die Gaza-Flotilla ernannt wird. Ich begrüße die Initiative Ban Ki Moons ausdrücklich, eine UN-Untersuchungskommission zu den Vorfällen vom 31. Mai 2010 in internationalen Gewässern vor der israelischen Küste einzusetzen, bei der neun türkische Aktivisten des humanitären Hilfskonvois von Spezialeinsatzkräften des israelischen Militärs getötet wurden. Die UNO ist gefragt, eine glaubwürdige und unabhängige Aufklärung der Vorfälle herbeizuführen. Dies ist mit der Besetzung Uribes nicht gewährleistet.

Uribe wird vorgeworfen, als Senator von Medellìn 1991 in das Drogenkartell involviert gewesen zu sein. Während seiner achtjährigen Amtszeit wurden mehr als 500 Gewerkschafter umgebracht, gegen die Regierung und die kolumbianische Armee liegen unaufgeklärte Anschuldigungen wegen zahlreicher Menschenrechtsverbrechen vor. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben mehrmals dagegen protestiert, daß Uribe sich nicht um Aufklärung bemüht hat, sondern Menschenrechtsorganisationen massiv öffentlich attackiert und damit gefährdet hat.

Ein Präsident, der selbst für eine Politik der Straflosigkeit steht, kann keine glaubwürdige Aufklärung der Vorfälle der Gaza-Hilfsflotte betreiben. Für die Glaubwürdigkeit der UNO und die Chancen einer wahrheitsgemäßen Aufarbeitung ist Uribe eine Farce.




Ankaras Liste ist nicht abgearbeitet

Weiter offene Forderungen an Israel

Von Jan Keetman, Istanbul ****


Nach zwei Monaten hat es die Regierung von Benjamin Netanjahu doch für geboten erachtet, auf die Forderung der Türkei nach einer internationalen Untersuchung des israelischen Angriffs auf einen Gaza-Hilfskonvoi, bei dem am 31. Mai neun türkische Aktivisten getötet wurden, einzugehen.

In der Türkei hat man es mit Genugtuung vermerkt: Israel hat drei bei dem Seeüberfall gekaperte Schiffe an die Stiftung für Recht, Freiheiten und humanitäre Hilfe (IHH) zurückgegeben, die nun in der Türkei kriminaltechnisch untersucht werden. Die IHH, deren Hauptsitz sich in einem stark islamisch geprägten Stadtviertel in Istanbul befindet, hatte von türkischer Seite aus den Hilfskonvoi organisiert und mit Spenden finanziert. Zu ihren Schiffen gehörte auch die »Mavi Marmara«, das bei weitem größte der sechs beteiligten Schiffe, auf dem die neun Aktivisten starben und zahlreiche verwundet wurden.

Ankara besetzt das internationale Gremium zur Untersuchung des Marineangriffs erkennbar nach Kompetenz und weniger nach Prominenz. An der Kommission wird für die Türkei der erfahrene Diplomat Özdem Sanberk teilnehmen und die türkische Sicht der Dinge vertreten. Denn der größere Teil der türkischen Forderungen an Israel ist bisher unerfüllt geblieben. Insbesondere geht es der Regierung von Recep Tayyip Erdogan um die Aufhebung der Blockade gegen den Gaza-Streifen, eine Entschuldigung der israelischen Regierung für den Überfall und Entschädigungen für die Angehörigen der Opfer sowie die angerichteten materiellen Schäden.

Dass die Gaza-Blockade von Israel nach den Vorfällen inzwischen gelockert wurde, wird in der Türkei nicht wahrgenommen, denn man besteht auf einer völligen Aufhebung, wenn auch nicht mehr so laut wie in den ersten Tagen nach dem israelischen Angriff auf die Schiffe. Erdogan setzt im Moment auf Abwarten.

Israel wird sicher alles dafür tun, dass auch die Rolle des IHH kritisch untersucht wird. Die türkische IHH besteht darauf, dass die in Deutschland vor kurzem wegen ihrer Unterstützung für die Hamas verbotene Internationale Humanitäre Hilfsorganisation nur zufällig das gleiche Kürzel IHH hat.

Dies wiederum dürfte von Israel kaum zur Kenntnis genommen werden. Der Vorsitzende der türkischen IHH, Bülent Yildirim, feierte nach seiner Rückkehr den Widerstand der mit Eisenstangen bewaffneten Aktivisten und die Überwältigung israelischer Soldaten. Dies klang mehr nach Rambo als nach Gandhi.

Von seiten der Regierung setzt man zur Zeit mehr auf vorsichtiges Taktieren denn auf lautstarke Propaganda. Jedenfalls hat der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu daarauf bestanden, dass der erste Vorbericht der Untersuchungskommission erst am 15. September veröffentlicht wird, also drei Tage nach einem für die Regierung wichtigen Referendum.

**** Aus: Neues Deutschland, 11. August 2010


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