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Streitfrage: Wie ist der Konflikt in Gaza zu lösen?

Beiträge von Prof. Dr. Werner Ruf (Kassel), Stephan J. Kramer (Zentralrat der Juden) und Prof. Dr. Udo Steinbach (Uni Marburg)

Über die Frage "Wie ist der Konflikt in Gaza zu lösen?" debattierten in det Tageszeitung "Neues Deutschland" folgende drei Experten:
  • Prof. Dr. Werner Ruf, Jahrgang 1937, von 974 bis 1982 Professor für Soziologie an der Universität Gesamthochschule Essen, anschließend bis 2003 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel
  • Stephan J. Kramer, Jahrgang 1968, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland und Leiter des Berliner Büros des European Jewish Congress sowie Mitglied des »Board of Governors« des World Jewish Congress (WJC)
  • Prof. Dr. Udo Steinbach, Jahrgang 1943, lehrt gegenwärtig am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien an der Marburger Philipps-Universität.

Radikale Kräfte als Sieger

Von Werner Ruf

Der Schlüssel zum derzeitigen Blutvergießen sind die Wahlen zu einem palästinensischen Parlament – die ersten wirklich demokratischen und freien Wahlen in der gesamten arabischen Welt – vom Januar 2006. Damals hatten die Palästinenser mehrheitlich für die Hamas votiert, weil sich die »Regierung« unter der von Mahmud Abbas geführten Fatah voll unter das Diktat der USA und Israels begeben und den »Friedensprozess« um keinen Millimeter weiter gebracht hatte: Israel hatte seine Siedlungspolitik weiter massiv vorangetrieben, den Bau der völkerrechtswidrigen Mauer auf palästinensischem Gebiet fortgesetzt, die Enteignung palästinensischen Landes und palästinensischer Häuser in Ost-Jerusalem intensiviert. Es forderte und fordert die Anerkennung seines »Existenzrechts«, ohne jemals die Grenzen des Staates Israel zu benennen. Genau deshalb ist weiterhin unklar, welches Territorium für einen rhetorisch immer wieder beschworenen palästinensischen Staat übrig bleiben soll. Fatah benutzte die internationale Hilfe, um in einem klientelistischen System seine Anhänger finanziell zu belohnen und mit Pfründen auszustatten. Die Stimmenmehrheit für die Hamas war Ausdruck des Protests gegen eine Politik, die das nationale Anliegen der Palästinenser zu verraten schien und wenigen Lakaien Vorteile brachte. Die Fatah erhielt Waffen und Ausbildungshilfe aus dem Westen, um die Hamas militärisch niederzukämpfen. Dem kam diese zuvor, indem sie in ihrer Hochburg Gaza die Macht übernahm.

Israel reagierte – mit Billigung der sogenannten »internationalen Gemeinschaft«, wie sich die Westmächte zu nennen pflegen, wenn sie, wie im Jugoslawien-Krieg, das Völkerrecht brechen – mit der Verhaftung von mehreren der Hamas angehörenden Ministern und zahlreichen Abgeordneten der Hamas. Der Fatah unter Abbas war das recht, wurde ihr doch von Israel und mit billigender Unterstützung des Westens jener Konkurrent vom Halse geschafft, der als einzige politische Kraft noch konsequent die Schaffung eines unabhängigen und territorial einigermaßen zusammenhängenden palästinensischen Staates forderte. Im Gegensatz zur Forderung in ihrer Charta von 1988 (Errichtung eines palästinensischen Staates auf dem gesamten Gebiet des britischen Mandatsgebiets Palästina) hatte die Hamas in der Zwischenzeit ihre Forderung auf die im Krieg von 1967 – völkerrechtswidrig – besetzten Gebiete reduziert. Auch hatte sie bis zur Regelung des Konflikts mehrfach einen bis zu zehnjährigen Waffenstillstand angeboten, ihre Teilnahme an den Parlamentswahlen basierte auf den Verträgen von Oslo (1993), die eine Zwei-Staaten-Lösung auf der Grundlage dieses territorialen Zustands anvisiert hatte. Die Ächtung der Hamas als »terroristische Vereinigung« dient seither als Begründung für die Verweigerung jedweder Verhandlungen, als ob die PLO nicht viel grausigere Anschläge begangen hätte, bis man mit ihr verhandelte und sie in die internationale Legalität zwang.

Den Wahlkämpfern Livni und Barak hat der Krieg inzwischen große Popularitätswerte gebracht – doch der 10. Februar 2009 ist noch weit. Auf internationaler Ebene aber stellt dieser Krieg Weichen: Aus dem grauenhaften Gemetzel in Gaza werden die Hamas und vor allem ihre radikalen Kräfte politisch gestärkt hervorgehen, auch wenn es Israel gelingen sollte, viele ihrer Führer zu töten. Die politische Unterwerfung von Mahmud Abbas unter die Politik Israels und des Westens wird dessen Legitimität endgültig zerstören. Der von Israel in Gaza angestrebte »regime change« wird nicht stattfinden. Olmert hatte ihn zynisch in die Worte gekleidet: »Ich denke an die zehntausende Kinder und Unschuldige, die als Ergebnis der Hamas-Aktivitäten gefährdet werden.« (FAZ 27.12.08) Die willfährige Unterstützung dieser Politik durch die meisten arabischen Staaten, allen voran Ägypten, aber auch Saudi-Arabien, wird diese autoritären Regimes noch mehr destabilisieren. Die sunnitische Hamas wird in dieser Situation nur noch zwei mögliche Unterstützer finden: den schiitischen Iran und Al Qaida, welch letztere sie bisher konsequent aus dem Konflikt herauszuhalten vermochte. Der militante Islam von Marokko bis Indonesien wird aus diesem Konflikt gestärkt hervorgehen. Noch kontraproduktiver könnte die westliche Politik nicht sein. Und am Schluss wird man verhandeln müssen – mit Hamas!

Prof. Dr. Werner Ruf, Jahrgang 1937, war von 1974 bis 1982 Professor für Soziologie an der Universität Gesamthochschule Essen und anschließend bis 2003 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel. Seine Forschungsschwerpunkte sind Nordafrika und der Nahe Osten, die Friedens- und Konfliktforschung, das System der Vereinten Nationen sowie der Politische Islam.


Hamas trägt die Verantwortung

Von Stephan J. Kramer

Weltweit wird der Ruf nach einer sofortigen Einstellung der israelischen Operation im Gaza-Streifen laut und lauter. Und wieder steht der Judenstaat in der Öffentlichkeit als der Friedensverweigerer da. »Quod erat demonstrandum – die bösen Juden«, jubeln die üblichen Kritiker, und viele, die es nicht besser wissen, stimmen ihnen zu.

So tut ein klärendes Wort Not. Selbstverständlich verdient die Bevölkerung des kleinen, leidgeprüften Gaza-Streifens Frieden und Ruhe, genauso übrigens wie ihre israelischen Nachbarn. Die Bilder der zivilen Opfer – Kinder, Frauen, Männer, Alte – lassen niemanden unberührt. Nur: Für das Leid ihrer Untertanen, und das der Israelis, ist die Hamas verantwortlich. Sie hat vor anderthalb Jahren nach einem Staatsreich die Macht in Gaza übernommen. Sie hat den Raketenkrieg gegen Israel eskaliert. Sie weigert sich, selbst jetzt, einem dauerhaften Waffenstillstand mit dem »zionistischen Feind« zuzustimmen. Im Klartext: Sobald sie sich von dem Militärschlag erholt hat, will die islamistische Bewegung den Beschuss israelischer Städte mit neuer Vehemenz wieder aufnehmen. Im Westen spricht die Hamas gern von einem Kampf gegen die »Besatzung«. Damit ist jedoch kein israelischer Rückzug aus der West Bank gemeint – Gaza wurde von Israel bekanntlich 2005 bereits vollständig geräumt –, sondern die Auslöschung des jüdischen Staates.

Mehr als das: Die Hamas setzt Zivilisten als menschliche Schutzschilde ein, feuert ihre Raketen und Mörsergranaten aus dicht besiedelten Gebieten ab und baut Sprengkörper in Wohnhäusern. Kommen Nachbarn durch eine unkontrollierte Explosion zu Tode, avancieren sie im Hamas-Universum einfach zu Märtyrern. Hinterbliebene, die den Protest wagen, geraten ins Visier der Geheimpolizei. Wer Israels Vorgehen trotzdem verurteilt, möge sich daher die folgende Lage vorstellen: Seine Tochter oder sein Sohn werden von einem Nachbarn unter Beschuss genommen. Dabei geht der Angreifer hinter dem Rücken seiner eigenen Kinder in Deckung und feuert mit Tötungsabsicht weiter. Wie viele derjenigen, die Israel bei »Friedensdemos« so ungehemmt verdammen, würden in dieser Situation tatenlos zusehen?

Daher gilt: Wem das Schicksal der Palästinenser wirklich am Herzen liegt, der muss einen realistischen Waffenstillstand unterstützen, der die Fähigkeit der Hamas, einen Krieg anzuzetteln, drastisch reduziert. Das bedeutet: Die Grenze zwischen Ägypten und Gaza muss gegen Waffenschmuggel effizient gesichert werden. Weiterhin darf die Hamas nicht in die Lage versetzt werden, gegenüber der eigenen Bevölkerung, aber auch gegenüber der übrigen arabischen-islamischen Welt als Sieger aus dem Konflikt hervorzutreten.

Eine Lockerung des Würgegriffs der Hamas ist zudem Voraussetzung für eine neue Lebensperspektive für Gaza. Unter einer fundamentalistischen Regierung, die ihre Bürger bewusst in tiefste Not stürzt, ist der dringend erforderliche, unter verlässlicher internationaler Hilfestellung zu leistende Aufbau der Wirtschaft, des Gesundheits- und Erziehungswesens und eines Rechtssystems nicht möglich. Das gilt auch für den israelisch-palästinensischen Friedensprozess: Mit der Hamas ist die Schaffung eines palästinensischen Staates, der in gutnachbarlichen Beziehungen zu Israel leben könnte, nicht realisierbar.

Mit der praktischen Umsetzung einer solchen Aufbaustrategie täte der Westen nicht nur den Palästinensern, sondern auch sich selbst einen Gefallen. Je stärker nämlich »Hamastan« wird, umso mehr wird es sich zu einer von Iran finanzierten, bewaffneten und gesteuerten Bedrohung für die Fatah-Regierung im Westjordanland, aber auch für das jordanische Königshaus und für die pro-westliche ägyptische Regierung, die Teheran durch ein islamistisches Regime ersetzen will. Für Europa wäre dies eine strategische Katastrophe und zunehmende eigene Bedrohung. Nicht umsonst hat Ägyptens Präsident Hosni Mubarak gleich zu Beginn des jetzigen Konflikts erklärt, Hamas dürfe aus dem Krieg nicht als Sieger hervorgehen. Diesen weisen Rat aus dem Morgenland sollten auch Europas Mächte endlich beherzigen.

Stephan J. Kramer, Jahrgang 1968, ist Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland und Leiter des Berliner Büros des European Jewish Congress sowie Mitglied des »Board of Governors« des World Jewish Congress (WJC). Außerdem ist er unter anderem Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und ständiger Gast im 12. Beirat für Fragen der Inneren Führung der Bundeswehr beim Bundesverteidigungsministerium.


Israels Macht ist im Niedergang

Von Udo Steinbach

Der Krieg in Gaza kam nicht überraschend. Seinem Ausbruch liegt eine doppelte Verweigerung zugrunde: einer gerechten Lösung für den Paria-Status des palästinensischen Volkes und der Demokratie als des Weges dahin. Die Besatzung hat mit der Mauer um Rest-Palästina und den Sanktionen gegen die Menschen in Gaza eine neue Qualität erfahren. Und die Verweigerung der Anerkennung der palästinensischen Wahlen im Januar 2006 hat jene Kräfte unter den Palästinensern gestärkt, die sich nichts mehr von der Diplomatie erhoffen, sondern für eine Lösung ihres Problems mit Waffen zu kämpfen entschlossen sind. Die Lösung des Konflikts in Gaza ist Teil einer Lösung der palästinensischen Frage insgesamt. Kommt sie nicht, wird auf den Krieg in Gaza der nächste Krieg folgen.

Israels Macht und Sicherheit sind im Niedergang. Die palästinensische Intifada konnte Israel nur mit einer Mauer beenden, die allen Prinzipien von Recht und Humanität Hohn spricht. Den Sommerkrieg konnte Israel nicht gewinnen; von ihm ging für viele Menschen im Nahen Osten das Signal aus, dass Israel besiegbar ist. In der arabischen Welt steigen Wut und Frustration; die Öffentlichkeit spürt, dass in Palästina und in Gaza nicht nur die Würde der Palästinenser, sondern aller Araber (und Muslime) gedemütigt wird. Und es ist nur eine Frage der Zeit, dass die arabischen Regierungen ihren auf Ausgleich gerichteten Kurs ändern und wieder auf Konfrontation gehen.

Wer macht der Verblendung ein Ende? Wo sind die Freunde Israels, Jerusalem zu drängen, einen Politikwechsel des jüdischen Staates um seiner eigenen Sicherheit willen herbeizuführen? Die USA oder die EU? Beide haben die Verweigerungen der israelischen Regierungen der letzten Jahre hingenommen. Die Scheinmanöver hießen mal »Roadmap« mal »Annapolis« und führten zu zwei Kriegen innerhalb von zweieinhalb Jahren. Nach Lage der Dinge müsste sich Deutschland besonders angesprochen fühlen. Ist nicht die Sicherheit Israels, wie die Kanzlerin in ihrer Rede in der Knesseth im März 2008 sagte, ein Teil der Staatsräson der Bundesrepublik? Nur, die fatale Selbstblockade liegt darin, dass sie einen Begriff von Sicherheit meint, der ausschließlich in Jerusalem definiert wird. Wie sehr damit eine deutsche Rolle verspielt wird, hat sie bei Ausbruch des Gaza-Krieges erkennen lassen, als sie den israelischen Angriff uneingeschränkt mit der Sicherheit Israels rechtfertigte. Dass die nicht gegebene Sicherheit für hinter der Mauer schikanierte und in Gaza eingepferchte Palästinenser ein Teil des Sicherheitsproblems Israels ist, hat sie geflissentlich übersehen. Auch dass die anhaltende Landnahme, die eine Zwei-Staaten-Lösung immer mehr zur Illusion werden lässt und die Besatzung perpetuiert, ein Sicherheitsproblem für Israel darstellt, wird ausgeblendet.

Der Krieg in Gaza macht eine Politikänderung Deutschlands notwendig. Die Sicherheit Israels kann nur durch einen gerechten Frieden mit den Palästinensern gewährleistet werden. Dem muss die Regierung als im Interesse Deutschlands liegend Priorität einräumen. Dazu muss die deutsche Politik dahin kommen, die Erinnerung an die Vergangenheit von der Politik gegenüber Israel hier und heute zu trennen. Israel handelt nicht nur seinem eigenen Interesse entgegen; indem es auf auf Besatzung und Unterdrückung setzt, verkommt auch sein Ansehen unter den Aspekten von Recht, Menschrechten und Humanität. Davon ist auch Deutschland nicht unberührt: Der Zorn von Millionen von Menschen im Nahen Osten richtet sich auch gegen uns; wer kann noch an Demokratie und Menschenrechte glauben, wenn die »einzige Demokratie im Nahen Osten« Frauen und Kinder tötet.

Große Teile der Öffentlichkeit in Deutschland haben angesichts einer Politik, die den Frieden verweigert, einen Wechsel an Empathie vollzogen; sie stehen auf der Seite derer, um deren Rechte sich die Politik bislang nicht kümmerte. Die Regierung in Jerusalem scheint das begriffen zu haben. Wie anders ließe sich erklären, dass sie nichts unversucht lässt zu verhindern, dass die Öffentlichkeit die volle Wahrheit des Krieges erfährt. Die Täuschung einer demokratischen Öffentlichkeit aber ist nicht geeignet, jenseits des Krieges in Gaza Horizonte für einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten zu eröffnen.

Prof. Dr. Udo Steinbach, 1943 geboren, war von 1971 bis 1974 Leiter des Nahostreferats bei der Stiftung Wissenschaft und Politik und von 1976 bis 2006 Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg. 2007 leitete er das GIGA-Institut für Nahoststudien. Seit 1991 ist Udo Steinbach Honorarprofessor an der Universität Hamburg. Gegenwärtig lehrt er am Centrum für Nah- und Mittelost-Studien an der Marburger Philipps-Universität.

* Alle drei Beiträge auf dieser Seite aus: Neues Deutschland, 16. Januar 2009


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