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Israel fürchtet den Pranger

Verschärfte Zensur angesichts möglicher Klagen wegen Kriegsverbrechen

Nach der heftigen Kritik im Ausland am israelischen Krieg im Gaza-Streifen bereitet sich Israel auf mögliche Klagen gegen Minister oder Armeeoffiziere des Landes wegen Kriegsverbrechen vor.

Tel Aviv/Gaza (Agenturen/ND). Der amtierende israelische Ministerpräsident Ehud Olmert hat am Freitag (23. Jan.) Justizminister Daniel Friedmann zum Vorsitzenden einer neuen Sonderkommission für internationale Rechtsstreitigkeiten ernannt. Nach Angaben eines Regierungssprechers will die interministerielle Gruppe ihre Arbeit nächste Woche aufnehmen und sich neben Klagen wegen Verletzungen des humanitären Rechts auch mit Schadenersatzklagen gegen Israel wegen Sachbeschädigungen beschäftigen.

Die israelische Militärzensur hat inzwischen verboten, die Namen von Armeeoffizieren, die am Krieg im Gaza-Streifen teilgenommen haben, in Medienberichten zu nennen. Auch die Veröffentlichung von Bildern, in denen diese Offiziere erkennbar sind, wurde untersagt. Damit sollen laut Medienangaben vom Freitag Klagen gegen einzelne Mitglieder des Militärs verhindert werden.

Bei den dreiwöchigen Kriegshandlungen wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde in Gaza mehr als 1400 Menschen, nach Zählung des palästinensischen Menschenrechtszentrums 1285 getötet. Bei fast 70 Prozent der Todesopfer soll es sich nach Angaben der Menschenrechtler um Zivilisten gehandelt haben. Ausländische Regierungen und Menschenrechtsgruppen kritisierten die israelische Militäroperation als unverhältnismäßig. Auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte eine Untersuchung zum Tod ziviler Opfer. Israel verwahrt sich gegen die Kritik und wirft der Hamas vor, Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt zu haben.

Menschenrechtler werfen der israelischen Armee ebenfalls vor, Phosphorbomben eingesetzt zu haben. Die Organisation Amnesty International geht dem Verdacht nach, dass Israel auch sogenannte Dense Inert Metal Explosives eingesetzt haben könnte – eine Waffe, die in einem kleinen Radius Metallpulver ausstößt und schwere Brände verursacht. Internationale Gesetze erlauben die Verwendung beider Waffen. Allerdings ist ihr Einsatz nach Angaben von Amnesty International in Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte – wie im Gaza-Streifen – verboten.

Die Hamas will die Angehörigen der palästinensischen Opfer entschädigen. Wie die Hamas-geführte Regierung in Gaza am Donnerstagabend erklärte, werde die Behörde je 1000 Euro an die Familien der Toten sowie 500 Euro an jeden Verletzten zahlen. Die Eigentümer zerstörter Häuser erhielten darüber hinaus 4000 Euro als Hilfe zum Wiederaufbau. Für teilweise beschädigte Häuser werde die Hamas 2000 Euro zahlen. Die Hamas will das Geld in bar von Sonntag an verteilen. Ein Sprecher der Hamas-Regierung nannte die Summen in Euro.

Zwei Tage nach seiner Amtsübernahme hat US-Präsident Barack Obama sich mit der Ernennung eines angesehenen Vermittlers in den Nahostkonflikt eingeschaltet. Er stellte am Donnerstag (22. Jan.) George Mitchell als seinen Nahostbeauftragten vor. Obama forderte Israel zur Öffnung der Grenzübergänge zum Gaza-Streifen auf. Mit dieser Maßnahme müsse internationale Hilfe für das Palästinensergebiet ermöglicht werden. Auch Handel müsse wieder möglich sein, forderte Obama.

Deutschland bekräftigt sein Angebot, bei der Grenzsicherung zwischen Ägypten und dem Gaza-Streifen zu helfen. Dies gelte auch für den Wiederaufbau des Palästinensergebiets, sagte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in Berlin. Das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) kündigte an, all seine 221 Schulen im Gaza-Streifen am Samstag wieder zu öffnen. Auch wenn einige Schulen sowie die UNRWA-Zentrale bei Angriffen der israelischen Armee getroffen worden seien, sei das UN-Hilfswerk entschlossen, seine Arbeit fortzusetzen, sagte Sprecher Christopher Gunness.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Januar 2009


Wer klagt Israel an?

Von Karin Leukefeld **

Weltweit fordern Menschenrechtsorganisationen, Israel wegen Kriegsverbrechen in Gaza vor Gericht zu bringen. Dazu gehören Amnesty International und Human Rights Watch ebenso wie ein Bündnis aus acht israelischen Menschenrechtsgruppen. Der palästinensische Justizminister Ali Kaschan sprach in Den Haag laut AFP mit dem Chefankläger des internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, über den Vorwurf der Kriegsverbrechen Israels. Libanesische und spanische Anwälte hatten beim IStGH schon während des Krieges eine 25 Seiten umfassende Anzeige gegen die politische und militärische Führung Israels eingereicht. Die Anwälte fordern den Erlaß von Haftbefehlen und die Einleitung von Gerichtsverfahren. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon hatte nach einem Besuch in Gaza am Dienstag gefordert, die Verantwortlichen für die Zerstörungen von Gebäuden der Vereinten Nationen müßten zur Rechenschaft gezogen werden.

Der UN-Berichterstatter zur Menschenrechtslage in den palästinensischen Gebieten, Richard Falk, erklärte am Donnerstag abend (22. Jan.), die Angriffe Israels auf ein dicht bewohntes Gebiet gegen eine Bevölkerung, die keine Chance gehabt habe, sich in Sicherheit zu bringen, lege den Vorwurf systematischer Kriegsverbrechen nahe. Keinem Kind, keiner Frau, keinem Kranken oder Behinderten im Gazastreifen sei während der israelischen Offensiven erlaubt worden, das Kriegsgebiet zu verlassen. Die Beweise von Menschenrechtverletzungen seien so erdrückend, so Falk, daß eine unabhängige internationale Untersuchung angezeigt sei. Die Menschenrechtsverletzungen der Hamas durch den Abschuß von Raketen auf israelisches Gebiet seien mit dem israelischen Vorgehen nicht zu vergleichen, betonte der UN-Vertreter.

Neben der gezielten Zerstörung von zivilen Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäusern, Kirchen und Moscheen sowie öffentlicher Infrastruktur, geht es auch um den völkerrechtswidrigen Einsatz von Phosphorbrandbomben im dicht besiedelten Gazastreifen. Die israelische Regierung rechnet offenbar mit Klagen und bereitet sich auf mögliche Strafverfahren vor. Ministerpräsident Ehud Olmert beauftragte Justizminister Daniel Friedman mit der Leitung einer interministeriellen Arbeitsgruppe, die mögliche Klagen abwehren soll. Aus Angst vor Racheaktionen und vor Kriegsverbrecherklagen hat die Militärzensur bereits die Veröffentlichung der Namen der Kommandeure untersagt, die während der Gaza-Offensive Einsätze befehligt hatten.

US-Präsident Barack Obama hat inzwischen den erfahrenen Vermittler George Mitchell als seinen Nahostbeauftragten vorgestellt. Mitchell, der einer libanesisch-irischen Familie entstammt, kennt die Region bestens und hatte bereits 2001 als Berater von US-Präsident William Clinton einen sofortigen Siedlungsstopp Israels und den Abzug der israelischen Armee aus den Städten im Westjordanland gefordert. Obama forderte Tel Aviv inzwischen zur Öffnung der Grenzübergänge zum Gazastreifen auf, um internationale Hilfe und Handel wieder möglich zu machen. Die USA würden stets Israels Recht auf Selbstverteidigung unterstützen, so Obama weiter. Am Freitag wurde der Grenzübergang Eres immerhin für Fußgänger wieder geöffnet.

Algerien, Marokko, Mauretanien und Tunesien prüfen derweil, ob sie ihre Mitgliedschaft in der EU-Mittelmeerunion wegen des Gaza-Krieges aussetzen sollen. Die Unterstützung der europäischen Staaten für Israel während des Krieges sei unerträglich, hieß es in einer Erklärung der arabischen Maghreb-Union.

** Aus: junge Welt, 24. Januar 2009

Zitiert

UN-Repräsentant John Ging im SZ-Interview

John Ging, Chef des UN-Flüchtlingshilfswerks UNWRA, wirft Israel vor, absichtlich die Infrastruktur der Palästinenser zerstört zu haben. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNWRA ist die wichtigste Hilfsorganisation im Gaza-Streifen: UNWRA versorgt 750.000 der 1,5 Millionen Gaza-Palästinenser mit Lebensmitteln und Medikamenten, baut Schulen und Häuser, unterstützt Witwen und Waisen. Weil die israelische Armee während des dreiwöchigen Krieges auch UN-Schulen, UN-Konvois und sogar das UN-Hauptwarenlager beschossen hat, verlangt UNWRA-Chef John Ging nun eine unabhängige Untersuchung: Er will wissen, ob es sich bei den Angriffen auf Einrichtungen der Weltorganisation um Kriegsverbrechen handelt.

Süddeutsche Zeitung: Wie wollen Sie die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen?

Ging: Ich erwarte eine unabhängige Untersuchung: für jedes Todesopfer, für jeden Verletzten. In diesem Krieg starben mehr als 400 Kinder. Die Antwort auf die Frage nach der Verantwortung für ihren Tod kann doch nicht einfach nur die politische PR von Regierungssprechern sein.
Noch am Tag vor dem Waffenstillstand wurden zwei Kinder in einer UN-Schule getötet. Sie waren unbestreitbar unschuldig. Und sie sind nun unbestreitbar tot. Ihr Tod lässt sich nicht vom Tisch wischen mit unbelegten Behauptungen, Militante hätten von dieser Schule aus geschossen.

SZ: Gegen wen richtet sich der Krieg in Gaza?

Ging: Das Mantra der Regierungssprecher ist, dass die Luftangriffe die Infrastruktur der Terroristen treffen sollte. Nehmen wir die internationale amerikanische Schule in Gaza - sie wurde bombardiert und zerstört. Welche terroristische Infrastruktur bietet die US-Schule? An ihr werden 600 Kinder auf Englisch unterrichtet. Nach US-Lehrplan. Die Schule hat sieben Millionen Dollar gekostet. Und ist jetzt ein Schutthaufen.
Es fanden sich dort keine toten Militanten. Die einzige Leiche, die im Schutt gefunden wurde, war die des Hausmeisters.

Auszüge aus: Süddeutsche Zeitung (online), 23. Januar 2009




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