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Anlaß zur Skepsis

Angriff auf Gaza – Abschluß israelisch-amerikanischer Militärübung

Von Knut Mellenthin *

Ist das offiziell als »Operation Verteidigungssäule« bezeichnete israelische Massaker an den Bewohnern Gazas durch den Waffenstillstand beendet oder nur unterbrochen? Anlaß zur Skepsis bietet die Reaktion der größten Oppositionspartei Kadima, die den Tenor der meisten Medien des Landes und, ersten Umfragen zufolge, auch die Stimmung der Mehrheit der Bevölkerung widerspiegelt: »Die Operation hätte an diesem Punkt nicht beendet werden dürfen«, kritisiert Oppositionsführer Schaul Mofas, der sonst gern mal die friedlichere und rationalere Alternative zu Premierminister Benjamin Netanjahu simuliert. »Bibi hat vorm Terror kapituliert«, lassen israelische Medien die Bewohner grenznaher Gebiete im Süden klagen und zitieren die Bürgermeister der vom Raketenbeschuß aus Gaza besonders betroffenen Städte Aschdod und Sderot, die sich tief unglücklich über die Waffenruhe zu diesem Zeitpunkt äußern.

Eine international fast völlig ignorierte Tatsache ist, daß die »Operation Verteidigungssäule« den Abschluß einer gemeinsamen amerikanisch-israelischen Militärübung namens »Austere Challenge 2012« bildete. Gegenstand der dreiwöchigen Kriegsspiele, des bisher größten Manövers dieser Art, war das Zusammenwirken der Streitkräfte beider Länder bei der Abwehr von Raketenangriffen auf Israel. »Austere Challenge« hatte am 21. Oktober begonnen und wurde am 13. November offiziell für beendet erklärt. Nur einen Tag später ließ die israelische Regierung den Hamas-Politiker Ahmed Dschabari, eine Zentralfigur für alle Versuche von Verhandlungslösungen, ermorden und eröffnete damit faktisch ihre Bomben- und Raketenangriffe auf das Gaza-Gebiet.

An der gemeinsamen Militärübung hatten 3500 US-Soldaten teilgenommen. 1000 davon befanden sich direkt in Israel, die übrigen an anderen Orten in Europa, vor allem in Deutschland. Wie weit die drei Wochen lang geprobte Koordination auch noch während der israelischen Luftangriffe auf Gaza fortbestand oder wieder aufgenommen wurde, ist nicht bekannt.

»Operation Verteidigungssäule« war der erste Praxistest des seit März 2011 aufgestellten israelischen Luftabwehrsystems »Iron Dome«. Vorbehaltlich einer abschließenden Bilanz sei hier die Zählung der israelischen Streitkräfte vom Montag zitiert. Danach wurden 310 einfliegende Raketen zerstört, während 540 Raketen auf israelisches Gebiet niedergingen – davon bis auf 35 alle in völlig menschenleerem Gelände. Das entspräche einer Abschußquote von 36,5 Prozent – weit entfernt von den »75 bis 90 Prozent«, die sich Spiegel online am Sonntag zusammenphantasierte.

Zum Vergleich: Während des rund einmonatigen Libanon-Kriegs im Juli und August 2006 wurde Israel nach eigenen Angaben von 3970 Raketen getroffen, von denen 901 in städtischen Gebieten landeten. Die israelischen Verluste und Schäden waren damals um ein Vielfaches höher. Die Hisbollah setzte fast ausschließlich Raketen des sowjetischen Typs »Katjuscha« ein, der erstmals während des Zweiten Weltkriegs produziert wurde und immer noch eine vergleichsweise hocheffektive Waffe ist, die 30 Kilogramm Sprengstoff einigermaßen zielgenau über 30 Kilometer Entfernung transportieren kann.

Dagegen ist die von der Hamas hauptsächlich eingesetzte Homeworker-Rakete »Kassam« praktisch ungezielt und mit Ladungen zwischen 0,5 bis maximal zehn Kilogramm Sprengstoff ausgerüstet. Offenbar wurden in den vergangenen Tagen auch einige iranische »Fadschr«-Raketen eingesetzt, die zwar spektakulär bis in die Umgebung von Tel Aviv und Jerusalem gelangten, aber ohne den geringsten Schaden anzurichten. Grundsätzlich ist die »Fadschr« mit bis zu 75 Kilometern Reichweite und einer Traglast von 178 Kilogramm vermutlich eine respektable Waffe. Iran hatte nach eigenen Angaben allerdings keine Raketen, sondern nur deren »Technologie« nach Gaza geliefert

* Aus: junge Welt, Freitag, 23. November 2012

Israels Kriterien für Journalisten

Mit einer umfassenden PR-Kampagne hat Israel versucht, die Sichtweise auf den Waffengang gegen die Palästinenser im Gazastreifen zu beeinflussen. Ausländische Journalisten wurden mit Kaffee und Tee bewirtet, bevor man ihnen ein Einreisevisum in den belagerten Küstenstreifen gab, berichtete Spiegel online. Facebook, YouTube, Twitter und andere populäre Internetportale wurden rund um die Uhr mit Material beliefert.

Vor allem wurde erklärt, warum Israel Ziele angreift, die vom Rest der Welt als »zivile Einrichtungen« eingestuft werden. Wohnhäuser, Moscheen, Schulen und Krankenhäuser würden von der Hamas als Kommandozentralen benutzt, Zivilisten, die sich dort aufhielten, seien »menschliche Schutzschilde«. »Das sind die Taktiken, mit denen die Hamas im Gazastreifen operiert«, twitterten die israelischen Streitkräfte. Der Hinweis führte zu einem Film, den israelische Spindoktoren schon bei der »Operation Gegossenes Blei« 2008/2009 angefertigt hatten. Die recycelte Computeranimation zeigt, wie Militante der Hamas angeblich Waffenlager in zivilen und öffentlichen Einrichtungen anlegten. Zu sehen ist auch eine »als Sprengfalle« präparierte Schule mit dem UNRWA-Zeichen, die damit für den Angriff freigegeben wird. Die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen wies die Darstellung zurück.

In einem sehenswerten Interview mit dem englischen Programm des katarischen Fernsehsenders Al-Dschasira nimmt Mark Regev in ähnlicher Weise Stellung auf die Frage des Reporters, warum Israel mehrfach Mediengebäude in Gaza-Stadt angegriffen und acht Journalisten verletzt habe; einer habe dabei sein Bein verloren. »Wir greifen keine Journalisten an, wir greifen Hamas an«, so die Antwort des israelischen Regierungssprechers. Man müsse definieren, was ein Journalist sei. Personen, die für die palästinensischen Sender Al-Aksa-TV oder Al-Quds-TV arbeiteten, seien Angestellte der Hamas. Sie seien sicher nicht zu vergleichen mit Reportern von BBC oder Al-Dschasira. Am Tag nach dem Interview wurden drei weitere Journalisten von Al-Aksa-TV und Al-Quds-TV von Israel durch gezielte Raketenangriffe getötet. Ihre Fahrzeuge waren deutlich mit »Presse« gekennzeichnet.

** Aus: junge Welt, Freitag, 23. November 2012




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