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Überholter UN-Untersuchungsbericht zum Gaza-Krieg? Nach dem Rückzieher von Kommissionschef Richard Goldstone

Ein Beitrag von Bettina Marx in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator der Sendung):
Operation „Gegossenes Blei“. Das war der Name der israelischen Militärope-ration im Gazastreifen vor zweieinhalb Jahren. Israel reagierte damit auf den ständigen Beschuss von Kassam-Raketen. Der Regierung in Jerusalem wur-de anschließend vorgeworfen, bei dem Feldzug kaum Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen zu haben. Insbesondere ein UN-Bericht stellte das Land an den Pranger – sehr zum Ärger Israels, das von einer Kampagne sprach und die Vorwürfe bis heute entschieden zurückweist. Im vergange-nen Monat hat sich Richard Goldstone, der Vorsitzende der UN-Kommission, in einem Artikel in der WASHINGTON POST von seinem Bericht distanziert. Sind die Vorwürfe also doch unberechtigt? Bettina Marx über die Hintergründe der Kehrtwende:


Manuskript Dr. Bettina Marx

In Israel ist man zufrieden. Der südafrikanische Richter Richard Goldstone hat seine Anschuldigung zurückgenommen, die israelische Armee habe während ihrer Gaza-Offensive vor zwei Jahren gezielt Zivilisten angegriffen und sich damit schwerer Kriegsverbrechen schuldig gemacht. Zu diesem Schluss war Goldstone, der im Auftrag der UNO die dreiwöchige Operation „Gegossenes Blei“ untersucht hatte, in seinem mehr als 500 Seiten dicken Bericht gekom-men. Vor den Vereinten Nationen ließ der Richter damals im September 2009 keinen Zweifel zu:

O-Ton Goldstone (overvoice)
„Wir sind auf der Grundlage der vorgefundenen Fakten zu der Schlussfolge-rung gekommen, dass es starke Hinweise darauf gibt, dass Israel während der Militäroperation in Gaza die internationalen Gesetze, sowohl die humanitären als auch die Menschenrechtsgesetze, ernsthaft verletzt hat. Die Untersu-chungskommission kommt zu dem Schluss, dass von der Armee Kriegsverbre-chen oder sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt wurden.“

So hätten die Streitkräfte beispielsweise eine Moschee mit Mörsern angegrif-fen, ausgerechnet zur Gebetszeit, als sich Hunderte Gläubige in dem Gebäude befunden hätten. Außerdem seien sie rücksichtlos gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen und hätten ohne Not lebenswichtige Infrastruktur zerstört.

O-Ton Goldstone (overvoice)
„Hunderte Fabriken, darunter zahlreiche Lebensmittelfabriken, wurden bom-bardiert. Viele landwirtschaftliche Felder wurden umgepflügt und zerstört. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass diese Zerstörung absolut nicht von in-ternationalem Gesetz gedeckt ist. Das hat nichts damit zu tun, was Israel als Ziel der Militäroperation angegeben hat, nämlich, den Raketenbeschuss zu unterbinden.“

Nun, zwei Jahre später, hat Goldstone seine Einschätzung des israelischen Vorgehens geändert. Hätte er damals das gewusst, was er heute wisse, wäre der Bericht anders ausgefallen, so der Richter in der WASHINGTON POST zerknirscht. Inzwischen habe die israelische Armee 400 eigene Untersuchun-gen eingeleitet. Darin habe sie bewiesen, dass palästinensische Zivilisten in Gaza nicht mit Absicht angegriffen worden seien. Für Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu war diese Kehrtwende des jüdischen Richters hoch willkommen.

O-Ton Netanjahu (overvoice)
„Es gibt nur wenige Fälle, in denen die Verbreiter von Blutbeschuldigungen diese zurück nehmen. Im Fall des Goldstone-Berichts ist dies nun geschehen. Goldstone selbst hat seine Anschuldigungen zurückgenommen und er sagte, dass all das stimmt, was wir selbst die ganze Zeit gesagt haben: wir haben keinen einzigen Zivilisten absichtlich getötet und unsere Untersuchungen wurden gemäß den internationalen Bestimmungen durchgeführt. Da unterscheiden wir uns natürlich vollkommen von der Hamas, die absichtlich unsere Zivilisten gemordet hat und natürlich keinerlei Untersuchungen vorgenommen hat. Unsere Schlussfolgerung ist, die sofortige Annullierung des Goldstone-Berichts zu fordern.“

Auch Verteidigungsminister Ehud Barak war zufrieden. Die Reue Goldstones sei zwar ungenügend und komme zu spät. Israel sehe sich aber dadurch be-stätigt und wiederhole seine Forderung, das internationale Kriegsrecht zu ver-ändern und den neuen Gegebenheiten anzupassen:

O-Ton Barak (overvoice)
„Wir haben vom ersten Tag an gesagt, dass dies ein verdrehter und manipulierter Bericht ist. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, das klar zu machen und anzufangen, daran zu arbeiten, die internationalen Bestimmungen so zu verändern, dass wir und andere in Zukunft in der Lage sein werden, gegen Terroristen zu kämpfen, auch dann, wenn diese Terroristen in dicht bevölkertem Gebiet tätig sind.“

Ganz anders die Reaktionen der Palästinenser. Sie zeigten sich schockiert über Goldstones überraschende öffentliche Kehrtwende. Die Hamas wies sei-ne Äußerungen als völlig ungerechtfertigt zurück. Die Ergebnisse der UN-Untersuchungskommission würden auch von anderen unabhängigen Organisationen gedeckt, hieß es in Gaza. Auch die Autonomiebehörde widersprach Richter Goldstone. In Ramallah trat Nabil Abu Rudeineh vor die Kameras, Berater von Mahmoud Abbas, dem Chef der Fatah und Präsidenten der Autonomiebehörde:

O-Ton Rudeineh (overvoice)
„Der Bericht der Vereinten Nationen ist immer noch vorhanden. Goldstone repräsentiert nicht die Vereinten Nationen. Was immer er gestern oder davor gesagt haben mag, ändert nichts an der Tatsache, dass die israelische Armee in Gaza ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübt hat, und wir werden uns weiter darum bemühen, die Wahrheit ans Licht zu bringen.“

Während der dreiwöchigen Operation „Gegossenes Blei“ um die Jahreswende 2008/2009 waren 1.400 Palästinenser getötet worden, die meisten von ihnen Zivilisten. Auf israelischer Seite starben 13 Menschen, darunter drei Zivilisten. Die meisten der getöteten Soldaten kamen durch fehlgeleitetes Feuer der ei-genen Truppen ums Leben.

Rückblende: Der Krieg begann am Vormittag des 27. Dezember 2008 - mit ei-ner Welle von israelischen Luftangriffen auf den Gazastreifen.

Die ersten Bomben gingen über einer Polizeistation nieder, auf deren Hof zu diesem Zeitpunkt gerade die feierliche Schlusszeremonie eines Lehrganges stattfand. 155 junge Polizeianwärter wurden getötet. In Israel wurde dieser An-griff weder von der Öffentlichkeit noch von der Politik in Frage gestellt. Ledig-lich der Fernsehjournalist Shlomi Eldar sah darin einen ungerechtfertigten Angriff auf Zivilisten. Bei den Getöteten habe es sich um Verkehrs- und Schutzpolizisten gehandelt, sagte er damals in einer Talkrunde im Fernsehen und musste sich dafür von seinen Kollegen heftige Kritik anhören. Denn nach internationalem Recht sind Polizisten nicht als Kombattanten, sondern als Zivilisten einzustufen. Der gezielte Angriff auf die Polizeischule müsste demnach als Kriegsverbrechen gewertet werden. Doch Eldar, der jahrelang selbst aus dem Gazastreifen berichtet hatte, musste den Krieg aus der Ferne beobachten. Denn Israel sperrte die internationale Presse für die Dauer der Offensive aus - aus Sicherheitsgründen, wie es hieß. Lediglich zwei Reporter des englischsprachigen Fernsehsenders Al Jazeera English waren vor Ort und berichteten, was sich während der massiven Luftangriffe und der Bodenoffensive abspielte.

O-Ton Ayman Mohyeldin (overvoice)
„Sendezentrale, hören Sie mich? Das sind sicherlich sehr beunruhigende Nachrichten für die Palästinenser heute Morgen, als sie diese Luftschläge hörten. Es waren mindestens 40. Die Reaktionen kamen rasch und mit Zorn. Die Hamas spricht von einem Massaker und kündigt Rache an.“

In den folgenden Tagen berichteten die Al-Jazeera-Reporter Sherine Tadros und Ayman Mohyeldin pausenlos über die Ereignisse in Gaza. Ihre Reportagen nährten den Verdacht, dass es in Gaza unter dem Bombenhagel zu schweren Kriegsverbrechen kam. Zum Beispiel an den Mitgliedern der Familien Samouni, die sich auf Anweisung der Armee in einem Haus versammelt hatte und dort unter Beschuss geriet. Mehr als 50 Menschen kamen ums Leben. Tagelang mussten die Überlebenden neben den Toten ausharren und auf Hilfe warten. Als die Menschen endlich evakuiert werden konnten, besuchte Sherine Tadros die Verwundeten im Krankenhaus. Unter Tränen schilderte ihr der Junge Ahmed Samouni, was er erlebt hatte:

O-Ton Kind Ahmed Samouni (overvoice)
„Es war die dritte Rakete, daran erinnere ich mich. Die anderen hatten meinen älteren Bruder getötet und einige Leute verletzt, die stark bluteten. Die dritte Rakete tötete alle. Mein Bruder blutete so sehr. Er starb vor meinen Augen und auch mein Bruder Ismail starb. Auch meine Mutter und mein jüngster Bruder starben. Vier Brüder und meine Mutter sind weg. Gott möge sich ihrer erbarmen.“

Nach dem Krieg berichteten auch israelische Soldaten über ihre Erlebnisse während der Offensive. Die Veteranen-Organisation Breaking the Silence do-kumentierte Dutzende Zeugenaussagen, die belegen, dass die Truppen keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahmen und auch auf zivile Ziele feuerten. Zum Beispiel dieser Offizier eines Panzerverbandes, der sich ganz offen vor einer Videokamera äußerte:

O-Ton Zeugenaussage (overvoice)
„Ich kann von Ereignissen erzählen, die ich selbst gesehen habe. Eines Tages saßen wir neben dem Panzer und tranken Kaffee. Plötzlich stand einer auf und feuerte eine Granate auf ein Haus ab, von dem überhaupt keine Gefahr ausging. Ich hatte das Gefühl, dass das völlig überflüssig war. Ein anderer Fall war, als wir uns vor einer Reihe Häuser und Moscheen befanden. Die meisten Moscheen waren schon zerstört und über Funk sagte einer: warum gibt es hier noch eine Moschee, die nicht zerstört ist, wie man unter Panzergrenadieren eben so redet. Und plötzlich hörte ich jemanden voller Begeisterung ausrufen: Hast du das gesehen? Es war nämlich ein Minarett zerstört worden. Es war völlig ruhig in dieser Gegend. Es gab überhaupt keine Bedrohung. Trotzdem wurde das Minarett zerstört. Es gab überhaupt nichts Verdächtiges, aber das Minarett wurde zerstört. Wir saßen in den Panzern und beobachteten die Gegend. Es gab überhaupt keinen Grund, das Minarett zu zerstören.“

Von ihren Vorgesetzten und von den Militärrabbinern seien sie angewiesen worden, Zivilisten nicht zu schonen, wenn für die Soldaten selbst eine Gefahr drohen würde, so berichteten die Männer nach der Offensive. Außerdem habe das Militärrabbinat Broschüren verteilt, in denen die Überlegenheit des jüdischen Volkes bekräftigt wurde. Ein Soldat erinnert sich:

O-Ton Zeugenaussage (overvoice)
„Wir begannen mit dem Training für den Einmarsch nach Gaza. Damals verteilte das Militärrabbinat an uns Heftchen, wie man sie in der Synagoge bekommt. Aber diese waren mit einem Stempel der Armee versehen und darin gab es ganz klare politische Aussagen. Zum Beispiel stand darin, dass die Palästinenser so seien wie die Philister in der Bibel, die aus der Ferne gekommen seien und die nicht hierher gehören. Sie sind hier fremd und dieses Land gehört uns, hieß es. Es kam ein Mann, der sich Rabbi Chen nannte. Er war in ziviler Kleidung und er sprach von der Heiligkeit des Volkes Israel und davon, dass wir den Kampf der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis führen. Das sind apokalyptische Vorstellungen, das ist eine sehr messianische Vorstellung. Damit wird der andere dämonisiert. Wir sind die Söhne des Lichts, wir, die Israelis. Die anderen, die Palästinenser, sind die Söhne der Finsternis. Das ist eine sehr gefährliche Vorstellung, denn sie geht davon aus, dass hier zwei Völker auf ewig gegeneinander kämpfen.“

In Israel wurden solche Zeugenaussagen nicht gerne gehört. Vertreter der rechtsnationalen Regierung beschuldigten die Organisation Breaking the Silence Unwahrheiten zu verbreiten und bezichtigten israelische Menschenrechtler, die den Gazakrieg kritisierten, des Verrats.

Doch auch internationale Organisationen wie Amnesty International und Hu-man Rights Watch kamen in ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass Israel in Gaza unverhältnismäßig gegen die Zivilbevölkerung vorgegangen sei. Außerdem seien verbotene und geächtete Waffen eingesetzt worden, z.B. Phosphor und die so genannte DIME-Munition, die zu schwersten Verbrennungen und grauenhaften Verstümmelungen führen.

Die Kritik, die Israel jedoch am härtesten traf, war die der UN-Untersuchungs-kommission. Denn an ihrer Spitze stand der renommierte Verfassungsrechtler Richard Goldstone, ein jüdischer Südafrikaner, der sich als Chefankläger in den Kriegsverbrecherprozessen um Ruanda und das ehemalige Jugoslawien Meriten erworben hatte. Und so begann eine beispiellose Hetzkampagne ge-gen Goldstone, in die sich auch dessen eigene jüdische Gemeinde einspannen ließ. Goldstone wurde als Antisemit beschimpft, als jüdischer Selbsthasser, als Verräter, der Israel ans Messer seiner Feinde liefere. In Israel und der jüdischen Welt wurde er wie ein Geächteter behandelt. Goldstone selbst wies die Kritik als ungerechtfertigt zurück:

O-Ton Goldstone (overvoice)
„Ich denke, es ist völlig falsch, eine Mission oder einen Bericht, der israel-kritisch ist, als anti-israelisch zu bezeichnen. Mich zu beschuldigen, anti-israelisch zu sein, ist lächerlich. Es scheint mir, dass es im Interesse Israels und der Palästinenser sein muss, dass die Wahrheit festgestellt wird. Es ist in ihrem Interesse.“

Irgendwann aber hielt er dem Druck offenbar nicht mehr stand, revidierte seine Bewertung des Gaza-Kriegs und nahm seine Vorwürfe an die Adresse Jerusalems zurück. Dort zeigte man sich hocherfreut und durchaus dankbar. Innenminister Eli Ishai lud Goldstone, der bis vor kurzem Persona non grata in Israel war, umgehend in das Land ein, wo die Tochter des Richters lebt. Die Freude über Goldstones Kehrtwende wird aber selbst in Israel nicht von allen geteilt. Kritiker sehen sie als Ergebnis einer unbarmherzigen und grausamen Verfolgungsjagd auf den Richter und seine Familie.

In der israelischen Tageszeitung Haaretz fiel die Bewertung der Goldstone-Affäre eindeutig aus. Der israelischen Propaganda sei es gelungen, Richter Goldstone zur Strecke zu bringen, schrieb Kommentator Oudeh Basharat. Der Rückzug des Richters sei das Ergebnis emotionalen Drucks und nicht eine fundierte Revision seiner Erkenntnisse über den Gazakrieg.

* Aus: NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien", 7. Mai 2011; www.ndrinfo.de


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