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Das ist man den Opfern schuldig

Norman Finkelstein über eine Invasion und die Lüge von menschlichen Schutzschilden

Von Heinz-Dieter Winter *

Er ist in Israel eine persona non grata. Norman G. Finkelstein gehört zu den schärfsten Kritiker der israelischen Politik. Der in New York lebende Autor, dessen Eltern den Holocaust überlebt hatten, tritt für einen gerechten Frieden zwischen Israel und den Palästinensern ein. Mit seinem neuen Buch will er die Wahrheit über den Gaza-Krieg vor über zwei Jahren enthüllen. Er stützt sich auf den Goldstone-Report und Recherchen von Menschenrechtsorganisationen sowie auf Äußerungen israelischer Militärs und Politiker.

Der Angriff auf Gaza war, so urteilt Finkelstein, kein singuläres Ereignis, sondern entsprach einem seit der Gründung des Staates Israels vorherrschenden Sicherheitsdenken, in dem es vor allem um Bewahrung und Demonstration israelischer Abschreckungsfähigkeit gegenüber seinen arabischen Nachbarn und Iran geht. Nicht der Raketenbeschuss der Hamas war es, der ursächlich zur Gaza-Invasion führte. Denn dieser sei erst erfolgt, als Israel im Juni 2008 den Waffenstillstand gebrochen hatte. Nicht die Selbstverteidigung Israels angesichts einer angeblichen Bedrohung war der Grund für den Vernichtungsfeldzug, sondern das Bestreben der israelischen Führung, das durch den für Israel negativen Ausgang des Krieges vom Sommer 2006 gegen die libanesische Hisbollah angekratzte Bild der Stärke wiederherzustellen. Dabei wurden getötete Zivilisten bewusst einkalkuliert.

Das Bombardement in Gaza begann am Vormittag des 27. Dezembers 2008, als in den Straßen Gazas dichter Passantenverkehr herrschte. 300 Menschen, darunter mindestens 16 Kinder, wurden an diesem einen Tag getötet. Nach drei Wochen Krieg waren insgesamt fast 1400 tote Palästinenser zu beklagen, zu vier Fünftel Zivilisten. Unter ihnen zählte man 350 Kinder. Auf israelischer Seite gab es zehn tote Soldaten, vier durch eigenen Beschuss, und drei getötete Zivilisten. »Die Statistik der Todesopfer zeugt nicht von einem Krieg, sondern von einem Massaker«, schreibt der Autor.

Finkelstein erwähnt, dass die damalige, das Bombardement verteidigende israelische Außenministerien Livni im Dezember 2009 eine London-Reise absagte, weil ein britisches Gericht Haftbefehl gegen sie wegen Kriegsverbrechen erlassen hatte. Er widerlegt detailliert die Einwände und Argumente, die von der israelischen Regierung gegen den Bericht der Kommission vorgebracht wurden, die der ehemalige Richter am südafrikanischen Verfassungsgericht Richard Goldstone geleitet hatte.

Der Autor weist nach, dass die israelische Behauptung, die Hamas habe »menschliche Schutzschilde« benutzt, jeder Grundlage entbehrt. Eine Behauptung, die derzeit auch vom Westen an die Adresse Gaddafis erhoben wird. Der Goldstone-Bericht habe ebenso einwandfrei belegt, dass die von Israel zerstörten Krankenhäuser von der Hamas keineswegs für militärische Zwecke missbraucht worden sind. Die völkerrechtswidrige und menschenrechtsverletzende Invasion in Gaza hat internationale Empörung entfacht. Diese habe deutlich gemacht, dass die Zeiten vorbei seien, »da Israel auf eine reflexartige Unterstützung seiner Politik zählen konnte«, meint Finkelstein. Das Verhalten Israels habe in den letzten zehn Jahren zu einem wachsenden Unbehagen in der Welt, auch innerhalb der jüdischen Gemeinden, geführt. »Aus dem schwelenden Unmut über das Verhalten Israels wurde mit dem Beginn der Gaza-Invasion vom Dezember 2008 flammender Zorn.«

Dadurch seien nach Meinung Finkelsteins »die Chancen einer gerechten und dauerhaften Lösung des Konflikts derzeit günstiger denn je«. Die Frage bleibt nur, wann »Unbehagen« und »flammender Zorn« über die israelische Politik gegenüber den Palästinensern die Masse der israelischen Bürger erreicht. Beachtenswert sind die Hinweise des Autors, dass es durchaus möglich sei, die Hamas in Verhandlungen für eine Zwei-Staaten-Lösung einzubinden – was der Westen bisher ablehnt. Ein Brief der Hamas-Führung an US-Präsident Barack Obama vom 3. Juni 2009 zeugt jedenfalls von deren Bereitschaft.

Norman G. Finkelstein lässt sich davon leiten, dass eine wahrheitsgetreue Dokumentation des Leids der Menschen von Gaza das Mindeste sei, was man jenen schuldig sei. Niemand könne die Toten wieder zum Leben erwecken oder die seelischen Wunden der Überlebenden heilen. »Aber die Erinnerung an die Ereignisse wach halten und uns dagegen wehren, dass das Andenken der Opfer besudelt wird, das können wir.«

Norman G. Finkelstein: Israels Invasion in Gaza. Edition Nautilus, Hamburg. 224 S., br., 18 €.

* Aus: Neues Deutschland, 24. März 2011

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Ein Auszug aus dem in diesen Tagen erscheinenden Buch "Israels Invasion in Gaza" von Norman Finkelstein




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