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Gaza-Streifen – die humanitäre Katastrophe besteht weiter

Interview mit Tsafrir Cohen, Nahostreferent bei medico international


FriedensJournal (FJ): Die israelische Regierung erlaubt eine Versorgung des Gaza-Streifens, die offiziell als Politik des "Humanitären Minimums" deklariert ist. Was heißt das?

Tsafrir Cohen: Durch eine Blockade soll jede Entwicklung im Gazastreifen verhindert werden, ohne dass es zu einer humanitären Krise kommt. Sprich, diese dichtgedrängte, ärmliche Enklave wird von der Außenwelt komplett abgeschnitten: Israel lässt nur das einführen, was nach eigener Lesart fürs Überleben absolut notwendig ist. Da haben israelische Administratoren ausgerechnet, wie viele Kalorien Jeder der 1,5 Millionen Menschen im Gazastreifen benötigt. Diese Menge ist die erlaubte Einfuhrmenge. Dazu dürfen Medikamente rein und anderes Hilfsmaterial, die die israelische Administration als unbedingt lebensnotwendig definiert.

Das gilt auch für Menschen: Patienten dürfen nach Israel, in die Westbank oder nach Jordanien für eine Behandlung, die nicht im maroden Gazaer Gesundheitssystem durchgeführt werden kann, nur ausreisen, wenn es um eine als „lebensbedrohlich“ definierte Krankheit handelt; ist aber „nur“ das Auge oder der Arm eines Patienten gefährdet, so gilt dies als „Lebensverbessernde Operation“, und eine Ausreise ist dann keinesfalls gesichert. Die Ausreise eines Menschenrechtlers für einen Kurs im Ausland, eines Normalbürgers, um zu studieren, das Begräbnis der Mutter im Westjordanland oder um eine Messe zu besuchen kommt seit bald vier Jahren überhaupt nicht in Frage.

FJ: Was möchte man seitens der israelischen Politik offiziell damit erreichen?

Damit soll die dort herrschende Hamas unter Druck gesetzt werden. In Wahrheit leiden die Bewohnerinnen und Bewohner Gazas, über die Hälfte von ihnen minderjährig, unter einer jeden Lebensbereich betreffenden Kollektivstrafe. Die Hamas wird hierdurch eher gestärkt, und die physische Einsperrung einer ganzen Gesellschaft über Jahre von der Außenwelt führt gewiss nicht dazu, dass diese weltoffener und gewaltfreier wird.

FJ: Wie sind die längerfristigen Wirkungen der Blockade für Gesundheit der Menschen und den Entwicklungsmöglichkeiten des Gaza-Streifens zu beurteilen?

Diese verhindert eine Verbesserung des ohnehin maroden Gesundheitssystems. Medico unterstützt die große linke Gesundheitsorganisation Palestinian Medical Relief Society, wir machen da große Basisgesundheitsprojekte. Doch Gesundheitspersonal darf sich nicht im Ausland fortbilden, der Zugang von Experten in den Gazastreifen ist kompliziert und teuer. Gleiches gilt für Materialien. Vor allem der Ausbau von Infrastruktur wird verhindert, da Materialien, die auch für militärische Zwecke genutzt werden könnte, etwa Zement oder Stahl, nur beschränkt nach Gaza reinkommen. Da wird die Renovierung einer Tagesklinik zu einem jahrelangen Projekt, das Jahre dauern kann.

Gesundheit ist aber mehr als medizinische Dienste. Die Geschäfte im Gazastreifen sind voll mit Waren, ein Großteil durch Tunnel aus Ägypten eingeführt. Niemand hungert, doch die Blockade führte zu einem Kollaps der Wirtschaft, sodass sich die Mehrheit der Bevölkerung nahrhafte, unbelastete Nahrungsmittel wie frisches Gemüse, Fleisch, Milchprodukte nicht mehr leisten kann. Dazu verhindert die Blockade den Aufbau einer effizienten (Ab)Wasserinfrastruktur. Dies ist von größter Wichtigkeit, da die Qualität von über 90% des Wassers mittlerweile als bedenklich gilt. Eine Studie unseres Partners Ärzte für Menschenrechte – Israel aus Tel Aviv warnt eindringlich vor den Langzeitwirkungen: Es sind nicht nur Wachstumsstörungen, Anämie oder Wasting-Syndrom (krankhafte Abmagerung). Keine Mobilität, wirtschaftliche Rückentwicklung, prekäre Versorgung – Die Blockade verhindert jede Entwicklung. Die physische und psychische Gesundheit der Bevölkerung von Gaza verschlechtert sich zusehends. Zudem wird die gesamte Bevölkerung von Gaza in Abhängigkeit gehalten. 71% der Haushalte sind von internationaler Hilfe abhängig. Damit wird den Palästinensern ein menschenwürdiges Leben verweigert.

FJ: Die Ursprünge dieser Politik gegenüber dem Gaza-Streifen sind aber sicherlich komplexer als die offiziellen Verweise auf die Hamas. Gibt es etwas auch Parallelen zu anderen Regionen dieser Welt?

Wir haben es hier in der Tat mit einem breiteren Phänomen zu tun. Gaza war schon lange vor der Blockade und der Entstehung der Hamas ein Ort „überschüssiger“ Bevölkerung. Die Mehrheit der Bevölkerung ist 1948 aus dem heutigen Israel geflüchtet und lebt dichtgedrängt in einer Enklave, die - auf sich gestellt - kaum lebensfähig ist. Doch anstatt den Gazastreifen in ein lebensfähiges Ganzes zu integrieren, begann Israel Anfang der 90er Jahre, also sofort nach Inkrafttreten der Osloer Friedensvereinbarungen, mit einer teilweisen Blockade des Gazastreifens. Ab sofort konnte niemand mehr den Gazastreifen in die Westbank, den anderen Teil der Palästinensergebiete reisen ohne eine Sondergenehmigung. Gaza hatte keine Chance, doch obwohl alle Welt über den Nahostkonflikt und den Frieden sprach, interessierte sich niemand hierfür. Dieses Desinteresse beobachten wir noch viel akuter in anderen Laboren der permanenten Ausgrenzung von „überschüssigen“ Bevölkerungen, etwa in Bangladesh, in Sri Lanka oder in der Frage der afrikanischen Migration in die Festung Europa. Hier tritt der Rechtediskurs - der ja postuliert, dass alle Menschen gleiche Rechte besitzen - zurück, und im Vordergrund steht die Frage nach den Privilegien und Sicherheitsbedürfnissen der Einen auf Kosten der anderen, der Anteilslosen.

FJ: Die Berichterstattung in unseren Medien über diese Situation ist sehr dünn. Ist dieses nur Desinteresse oder gibt es hier auch eine politisch gesteuerte Blockade?

Es stimmt, dass in Deutschland das Interesse an Gaza und der Blockade geringer ist als im europäischen Ausland. Dort ist die Empörung enorm – bis hin zu Sanktions- und Boykottaufrufe gegen Israel. Die Gemengelage hierzulande ist aber komplex. Deutschland hat nun mal eine Geschichte, die es äußerst schwermacht, Israel zu kritisieren. Aus meiner Sicht ist Deutschland jedoch gerade aufgrund eben dieser Geschichte dazu verpflichtet, Menschenrechtsverletzungen wie diese zu bekämpfen. Sich aus dem Konflikt herauszuhalten ist aber keine Option, da Deutschland zu wichtig geworden ist in der internationalen Politik. Ohne Deutschland gibt es keine kohärente Nahostpolitik. Nötig wäre hier eine emphatische Politik gegenüber Israel, die es Israel leichter machen würde, die unmittelbaren Nachbarn nicht nur als Sicherheitsrisiko wahrzunehmen. Gegenwärtig müsste dies sehr druckvoll geschehen, da die israelische Politik – so sehen es unsere israelischen Partner und die gesamte israelische linke bzw. Menschenrechtsszene – Israelis wie Palästinenser sehenden Auges in den Abgrund führt.

Welche Spielräume hat eine humanitäre Organisation wie medico International unter diesen Bedingungen?

Humanitäre Hilfe allein stärkt lediglich den unerträglichen Status Quo. Wir können die Menschen nicht allein lassen, doch mit unserer Hilfe unterstützten wir ein System von Bantustans, das wirtschaftlich nicht funktionieren kann, folglich die Palästinenser zu ewigen Bittstellern macht. Deshalb nutzen wir jede konkrete humanitäre Arbeit von medico und seinen Partnern, um auf die Situation mittels Berichte, Journalistendelegationen und Lobbyarbeit aufmerksam zu machen. Denn die nachhaltige Lösung liegt in der Veränderung der politischen Rahmenbedingungen in der Region.

Zugleich stärken wir unsere Partner in ihren Bemühungen noch vorhandene Spielräume innerhalb der israelischen und der palästinensischen Gesellschaften zu bewahren und möglichst zu erweitern. Angesichts des Demokratieabbaus in Gaza, der Westbank und in Israel arbeiten wir verstärkt gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen, etwa gegen unterschiedliche Foltermethoden, die Hamas, Israel und die Fatah regelmäßig anwenden.

Schließlich versuchen wir auf die Folgen des vorhandenen Systems von Ein- und Ausschluss in Israel/Palästina zu reagieren. Dieses führt zu reaktionären Erklärungs- und zu gewalttätigen Verhaltensmustern. Oft auf Kosten der Schwächsten. Diesen einen geschützten Raum zu bieten und mit ihnen Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe zu eruieren, sei es auf der Bühne des Freedom Theatre Jenin im Westjordanland, im Frauenzentrum im Gazaer Flüchtlingslager oder in einer Gallery in Tel Aviv, wird immer schwieriger. Ein frischer Wind der Veränderung, wie er in Nordafrika weht, ist in Israel und Palästina noch lange nicht angekommen.

FJ: Der Gaza-Streifen grenzt nicht nur an Israel, sondern auch an Ägypten. Welche spielt die Kombination von Tunnelverbindungen zwischen Gaza und Ägypten einerseits und die offizielle Duldung der israelischen Blockade durch Ägypten andererseits?

Das ist ein Status Quo, dass sowohl Israel als auch Hamas zugute kommt. Israel kann die Verantwortung für den nach internationalem Recht und de facto nach wie vor von ihm besetzten Gazastreifen von sich weisen, während die Hamas ihre Herrschaft über die Tunnel dazu nützt, ihre Macht zu festigen. Ägypten schwankte zwischen der Angst, Israel würde den Gazastreifen Ägypten aufdrängen wollen und dem öffentlichen Druck die Grenzen zu öffnen. Gleichzeitig nützte es seine Kontrolle über die Grenze, um seinen Einfluss auf die Palästinenser und damit innerhalb der arabischen Welt zu erweitern. Wie sich die neue ägyptische Regierung dazu verhält, ist momentan noch unklar. Wahrscheinlich wird sie weniger Angst vor dem möglichen Einfluss der Hamas – immerhin ein Zweig der ägyptischen Muslimbrüder, lange Jahre die einzige nennenswerte Opposition zum alten ägyptischen Regime. Doch insgesamt wird jede ägyptische Regierung alles tun, damit der Gazastreifen nicht de facto zu einem Teil Ägyptens wird.

Weitere Infos: medico-international.de


Dieser Beitrag erschien in: FriedensJournal, Nr. 2, März/April 2011

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