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Das Leben zur Hölle gemacht

Rückblick 2010. Heute: Gaza. Trotz israelischen Dauerterrors gegen Palästinenser ist deren Widerstand ungebrochen

Von Karin Leukefeld *

Für die 1,5 Millionen Palästinenser im Gazastreifen endet das Jahr 2010, wie es begonnen hat. Israelische Angriffe aus der Luft, vom Boden und vom Meer zerstören, töten und verwunden fast täglich. Das Palästinensische Zentrum für Menschenrechte (PCHR) zählte im Wochenbericht 9.–16. Dezember 2010 vier Tote durch israelische Angriffe, darunter zwei Kinder, die bei der Explosion israelischer Blindgänger starben. Zwei Aktivisten des Widerstandes wurden verwundet, Arbeiter, Bauern und Fischer wurden von israelischem Militär beschossen, 13 wurden dabei verletzt. Israelische Kampfflugzeuge griffen Zivilisten an und zerstörten ein Wohnhaus, einen Brunnen, zwei Schulen und ein Trainingslager des Widerstandes. Das UN-Büro für die Koordination humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten (OCHA OPT) spricht von 62 getöteten Palästinensern im Gazastreifen 2010 und 264 Verletzten.

Grenze geschlossen

Die Grenzübergänge in den Gazastreifen bleiben bis auf gelegentliche Ausnahmen weiter geschlossen, Ein- und Ausfuhr von Gütern wird von Israel ebenso kontrolliert und behindert wie die Bewegungs- und Reisefreiheit der Einwohner. Zwei Jahre nach dem verheerenden Angriff auf Gaza zur Jahreswende 2008/09 leben viele Menschen noch immer in Zelten und Notunterkünften, weil Israel die freie Einfuhr von Baumaterial verhindert. Der internationalen Solidaritätsbewegung »Viva Palestina« gelang es im Verlaufe des Jahres zwar mehrfach, Hilfsgüter und Baumaterial über den von Ägypten kontrollierten Grenzübergang Rafah zu liefern, doch die Solidaritätsbewegung zahlte für ihr Engagement einen hohen Preis. Alle Schiffskonvois, darunter auch das Schiff von Friedensaktivisten der Jüdischen Stimme für einen Gerechten Frieden im Mittleren Osten, wurden von den Israelis gewaltsam gestoppt, geentert und die Passagiere entführt. Beim Angriff auf die Mavi Marmara, Leitschiff der aus sechs Booten bestehenden Free-Gaza-Flottille, Ende Mai wurden neun Menschenrechtsaktivisten von israelischen Sonderkommandos getötet.

In Gaza-Stadt machte die Hamas Mitte Dezember mit einer Massendemonstration deutlich, daß eine friedliche und sichere Zukunft in der Region ohne ihre Mitwirkung nicht zu machen ist. Am 23. Gründungstag der Organisation erinnerte Hamas-Führer Ismail Hanija an Geschichte und Unbeugsamkeit des Widerstandes, der bei den palästinensischen Parlamentswahlen 2006 mit einem überwältigenden Wahlsieg von der Bevölkerung honoriert worden war. Hamas habe »Regierung und Widerstand vereint«, sagte Hanija unter dem Dröhnen israelischer Kampfflugzeuge, die den Kateeb-Platz im Zentrum der Stadt während der Kundgebung überflogen. Einem Friedensvertrag mit Israel werde man dann zustimmen, wenn die Palästinenser in einem Referendum eingewilligt hätten.

Die Entschlossenheit der Hamas-Führung kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Jahre politischer und wirtschaftlicher Isolation Spuren hinterlassen haben. Die westliche Einstufung der Hamas als »Terrororganisation« fordert einen hohen politischen, humanitären und finanziellen Preis. Zugesagte internationale Hilfsgelder nach dem verheerenden Krieg Israels gegen den Gazastreifen zur Jahreswende 2008/09 werden der Hamas vorenthalten, gewählte Abgeordnete sind weiter inhaftiert, humanitäre Organisationen in der Westbank werden von der Autonomiebehörde geschlossen. Die mit dem Stigma des »Terrors« verbundene Kriminalisierung führt zu Festnahmen und Morden an Kadern der Organisation nicht nur im Gazastreifen, sondern auch in der Westbank und im arabischen Ausland. Aufsehen erregte die Ermordung von Mahmoud Al-Mabhouh, einem Führungsmitglied der Hamas im Golfstaat Dubai. Nach Ansicht der Ermittlungsbehörden in Dubai wurde der Mord »mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit« von mehr als zwei Dutzend israelischer Mossad-Agenten geplant und durchgeführt. Alle waren mit gestohlenen Pässen aus Irland, Großbritannien, Frankreich und Deutschland unterwegs. Aufgrund internationaler Haftbefehle wurde zwar eine der Personen, die einen deutschen Paß benutzt hatte, festgenommen, nicht aber an Dubai ausgeliefert, wie der Golfstaat es gefordert hatte. Deutschland ließ den Agenten statt dessen frei nach Israel ausreisen, weil das »Paßvergehen« kein schwerwiegendes Verbrechen sei.

Hamas-Offizielle sind ihres Lebens nicht sicher, doch Repression gegen Andersdenkende wird auch der Hamas im Gazastreifen vorgeworfen. Hamas-Vertreter Mousa Abu Marzook räumte gegenüber jW in Damaskus ein, daß es Übergriffe seitens der Hamas gegeben habe. Repression gegen Andersdenkende sei in Gaza aber nicht politisches Programm, sondern »Unerfahrenheit der Hamas-Sicherheitskräfte«, die man bemüht sei abzustellen.

Der Waffenstillstand, den die Hamas seit dem Krieg vor zwei Jahren einhält, hat die Situation im Gazastreifen nicht verbessert. Tausende physisch und psychisch Verletzte und Verstümmelte dieses Krieges sind für sich selbst, die Gesellschaft und das Gesundheitssystem eine große Herausforderung. Israel behindert die Einfuhr von medizinischen und therapeutischen Hilfsmitteln, es fehlt an Geld und Material für den Wiederaufbau von Kliniken und Therapiezentren, und es fehlt an Personal. Durch die Belagerung können schwer und chronisch Kranke so gut wie nicht in Spezialkliniken in Ägypten, Jordanien, Israel oder dem westlichen Ausland gelangen, administrative Schikanen behindern die Ausreise.

Hohe Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen liegt zwischen 40 und 50 Prozent. Der Krieg 2008/09 zerstörte den Privatsektor, der industrielle Sektor mußte aufgrund der Blockade die Produktion fast vollständig einstellen. Die teilweise Öffnung des Gazastreifens reicht nicht aus, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Der Landwirtschaftssektor – Gemüse, Obst und Blumen – ist nahezu vollständig zum Erliegen gekommen. Fischern wird das Fischen in den eigenen Gewässern von der israelischen Marine nur bis zu drei Seemeilen vor der Küste erlaubt, obwohl nach internationalem Seerecht palästinensische Gewässer bis zu 20 Seemeilen reichen. Am 17. Dezember starb ein 15jähriger Fischer, nachdem sein Boot, das von den Israelis beschossen worden war, kenterte und der junge Mann darunter ertrank.

Für die Versorgung und Sicherheit der Bevölkerung im Gazastreifen ist die Hamas auf ausländische Hilfe angewiesen. Unterstützung kommt inoffiziell von Iran, was der Hamas den Vorwurf einbringt, »Basen des iranischen Mullahregimes vor Israels Haustür« zu schaffen. Diese absurde Behauptung wird regelmäßig von Israel, seinen westlichen Verbündeten und Medien wiederholt. Unterstützung gibt es für die Hamas in Syrien, wo die Exilführung der Organisation seit Jahren unter dem Schutz der Regierung steht, Hilfe kommt von Katar, das vor allem Schulen und Gesundheitswesen in dem kriegsversehrten und dicht besiedelten Gazastreifen unterstützt.

Man sei nicht in Eile, die »nationalen Interessen zu kaufen oder zu verkaufen«, erklärte Mahmud Zahar von der Hamas-Führung in Gaza kurz vor Weihnachten. Die Zeit sei auf Seiten der Palästinenser doch werde der Sieg weniger durch militärische Konfrontation gewonnen, als durch Stärkung und Ausbau »einer ehrlichen palästinensischen Regierungsführung«. Anders als die Autonomiebehörde, werde die Hamas nicht die internationale Gemeinschaft um einen Staat bitten, so Zahar weiter. »Wir sind keine Bittsteller, es ist unser Recht, denn es ist unser Land.«

Gazastreifen

Der Gazastreifen wurde 2006 von Israel abgeriegelt, nachdem die Hamas die palästinensischen Wahlen gewonnen hatte. Die Blockade wurde verschärft, als der israelische Soldaten Gilad Schalit im Juni 2006 in palästinensische Kriegsgefangenschaft geraten war. Ein vom israelischen Geheimdienst mit palästinensischen Unterstützern in der Fatah geplanter und ausgeführter Putsch gegen die Hamas-Führung in Gaza ein Jahr später führte zu einer innerpalästinensischen Spaltung, die bis heute trotz Versöhnungsgesprächen nicht überwunden ist.



* Aus: junge Welt, 24. Dezember 2010


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