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Hollande beschwört Terrorgefahr

Warnung vor radikalen Islamisten / Linke Opposition sieht auch andere Motive

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Frankreich ist das in Europa am stärksten durch islamistische Terroranschläge gefährdete Land, heißt es in Analysen in- und ausländischer Sicherheitsexperten. Chemiewerke sollen Sicherheitsvorkehrungen treffen.

Mit nahezu vier Millionen Muslimen, die fast alle aus Nordafrika oder dem Nahen Osten stammen und von denen viele noch enge Bindungen dorthin haben, ist das Potenzial unzufriedener junger Leute, die sich von Scharfmachern radikalisieren lassen, vergleichsweise groß. Außerdem hat Frankreich die mit 400 000 Menschen größte jüdische Minderheit aller europäischen Länder, die ein bevorzugtes Ziel islamistischer Terroranschläge ist. Attentate allein könnten Frankreich nicht destabilisieren, doch es gehe um mehr, heißt es in diversen Analysen.

Wie vordem Al Qaida, so verfolge jetzt auch der Islamische Staat (IS) die Strategie, durch demonstrative Anschläge in Frankreich in der Bevölkerungsmehrheit eine antiislamische Stimmung zu entfachen. Dies solle zu einer innenpolitischen Konfrontation führen, um möglichst viele Muslime unter den Franzosen - auch die bisher friedfertige Mehrheit von ihnen - dazu zu bringen, gegen Staat und Gesellschaft Frankreichs und deren Werte Position zu beziehen und aktiv zu werden.

Laut Expertenmeinung soll so soll eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufbeschworen werden. »Wir befinden uns in einem globalen Kampf mit einem zugleich äußeren wie inneren Gegner« erklärte Premier Manuel Valls, »und die Gefahren lauern überall.« Als Ende Juni im Alpenort Saint-Quentin-Fallavier ein junger muslimischer Lieferwagenfahrer seinen Chef erstochen und geköpft und das Bild mitsamt einer IS-Fahne ins Internet gestellt hat, konnte es am islamistischen Charakter der Tat keinen Zweifel geben.

Dass der Mörder außerdem in ein Werk für Spezialgase eingedrungen ist und dort versucht hat, Explosionen auszulösen, wobei er aber von Feuerwehrleuten überwältigt wurde, wirft zugleich das Problem der sogenannten Seveso-Industriestandorte mit Gefahrengut auf. In der vergangenen Woche wurden durch Sprengsätze zwei Großtanks in einer Raffinerie bei Marseille in Brand gesteckt. Über die Täter ist bisher allerdings nichts bekannt.

Landesweit gibt es 1200 Seveso-Standorte, vor allem Chemiewerke, Raffinerien oder Tanklager. Allein entlang der Autobahn am südlichen Stadtrand von Lyon reihen sich mehrere Dutzend aneinander. Meist werden nur die Zäune dieser weitläufigen Gelände durch Videokameras überwacht, während es aus Kostengründen kaum Streifengänge gibt. Umweltministerin Ségolène Royal hat Ende vergangener Woche eine Krisensitzung mit Vertretern der entsprechenden Industriezweige abgehalten und sie aufgefordert, für entschieden mehr Sicherheitsvorkehrungen zu sorgen. Die Industrie müsse ihrer Verantwortung gerecht werden und könne nicht auf den Staat warten. Der habe mit seinen Sicherheitsorganen andere Aufgaben und Prioritäten.

Doch auch dort gibt es offensichtlich gefährliche Mängel, wie dieser Tage der Diebstahl von einigen Kilo hochwirksamen Sprengstoffs und von zwei Dutzend Zündern aus einem schlecht bewachten Armeelager zeigte. Von den Tätern fehlt jede Spur. Andererseits hat der Inlandsgeheimdienst vor Tagen ein Netz entschlossener Islamisten entdeckt und ausgehoben. Die waren über ganz Frankreich verteilt und haben einander über das Internet kennengelernt, wo sie Pläne für Anschläge geschmiedet haben. So sollte ein Beobachtungsposten der Marine nahe der spanischen Grenze, wo einer der Verschwörer gedient hatte und den er daher gut kannte, bei Nacht überfallen werden. Es soll geplant gewesen sein, einen Offizier zu kidnappen, zu köpfen und das Foto dieser Tat ins Internet zu stellen. Während es bisher offiziell immer nur von Zeit zu Zeit hieß, man habe Attentatspläne aufgedeckt und die Verantwortlichen verhaftet, wolle aber darüber nicht im Detail kommunizieren, ist diesmal Präsident François Hollande selbst von dieser Linie abgegangen.

Journalisten gegenüber schilderte er den Fall in groben Zügen und ankündigte eine Pressekonferenz von Innenminister Bernard Cazeneuve an, der davon überrascht schien. Dort wurden dann Erkenntnisse bis hin zu den Namen, Adressen und Fotos der Mitglieder des Netzes veröffentlicht. Die rechte Opposition sah darin den Versuch Hollandes, mittels ausführlich präsentierten Fahndungserfolgs seine miserablen Umfragewerte bei den Franzosen aufbessern. Kritik kommt aber auch von links. Die Regierung versuche, heißt es da, die öffentliche Meinung gefügig zu machen für ein Gesetz, das den Nachrichten- und Sicherheitsdiensten umfassende Rechte zur vorbeugenden Überwachung beliebiger Franzosen oder Ausländer mit allen möglichen Mitteln einräumt.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 24. Juli 2015


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