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"Die Gesellschaft driftet nach rechts"

Die politische Krise lähmt Frankreich. Front National versucht, das Land von den Kommunen aus zu erobern. Gespräch mit Michel Wieviorka


Michel Wieviorka lebt in Paris und ist Forschungsdirektor an der Hochschule für Sozialwissenschaften EHESS. Von 2006 bis 2010 war er Präsident des Internationalen Soziologieverbandes.


Frankreich erlebt derzeit Massenrevolten wie in der Bretagne, aber auch einen Höhenflug des rechtsextremen Front National (FN). Was ist der Grund?

Seit 2008 besteht eine Krisensituation, die durch das politische, ökonomische und soziale System verlängert wurde. Sie hat sich in eine moralische Krise verwandelt. Zugleich tut sich Frankreich schwer damit, diese Probleme zum Gegenstand einer ernsthaften Debatte und von Konflikten zu machen, die eine Zukunftsperspektive bieten.

Die Wahl des Sozialisten François Hollande zum Präsidenten hatte große Hoffnungen geweckt. Nun ist seine Partei in Umfragen nur noch drittstärkste Kraft. Wieso?

Die politische Krise existierte in unserem Land bereits unter der rechten Regierung von Nicolas Sarkozy. Von der Linken hatten sich viele Menschen Antworten auf die wirtschaftliche und soziale Misere erwartet. Sie wurden jedoch enttäuscht. Sozialisten, Grüne und Linksfront scheinen im Augenblick nicht in der Lage zu sein, einen Ausweg aufzuzeigen. Dennoch erlebt Frankreich keine institutionelle Krise. Hollandes Mandat endet erst 2017. Bis dahin ist seine Machtausübung legitim. Das ändert allerdings nichts daran, daß wir mit einer politischen Krise konfrontiert sind, die alle betrifft.

Droht eine Renaissance der Rechten?

Die Rechte schafft es bislang nicht, sich neu zu formieren. Sie ist zersplittert und verfügt weder über eine Führung noch über eine gemeinsame Ideologie. Sarkozys Partei UMP ist innerlich zerrissen zwischen jenen, die den antieuropäischen, fremdenfeindlichen, rassistischen und gegen den Islam wetternden Thesen des Front National zustimmen und denen, die sie ablehnen. Wir stehen vor verschiedenen Szenarien: einer Technikerregierung nach griechischer oder italienischer Art, die letztlich aber nicht funktioniert, oder der Idee, außerhalb der Politik zu handeln, in bewußter Distanz zu den Parteien. So wie es die Indignados (Empörten) in Spanien tun. Ein Modell, dessen Grenzen allerdings auch schon deutlich geworden ist. Die dritte Möglichkeit ist der Populismus, der bei uns zwei Ausprägungen hat: einerseits eine kleinere, linke Variante in Gestalt der Linksfront mit dem ehemaligen sozialistischen Senator Jean-Luc Mélenchon an der Spitze und andererseits der Front National mit seiner nationalistischen Demagogie. Marine Le Pens Partei arbeitet gegenwärtig am Aufbau einer Maschinerie, um das Land von unten her zu erobern.

Wie läuft das ab?

Sie setzt im ersten Schritt auf die Kommunalwahlen. Dann sind die Regionalwahlen an der Reihe und schließlich strebt man 2017 nach der nationalen Verantwortung. Das Wachstum dieses Populismus wird im Moment nicht durch seine offenkundigen Widersprüche behindert. Die FN-Propaganda vertritt bei Bedarf eine Position und gleichzeitig das Gegenteil davon. Sie gibt sich rassistisch und antirassistisch, respektabel und pöbelnd, als Gegnerin des Systems und als seine Verteidigerin. Das Wachstum des Front National führt zu einer Explosion der etablierten Rechten und stürzt die Linke in Verlegenheit, weil sie weiß, daß sie bei den anstehenden Kommunalwahlen in den Gemeinden nur dann an der Macht bleiben kann, wenn die Rechtsextremen die Zehn-Prozent-Hürde überspringen und in der Stichwahl antreten, um so der klassischen Rechten zu schaden.

Fallen da auch in der Gesellschaft bislang vorhandene Hemmungen?

Ja, die moralische Krise beseitigt die Tabus und das Ganze vor dem Hintergrund, daß die Verbreitung rassistischer Äußerungen durch das Internet erleichtert wird. Da existiert eine enorme Grauzone von Blogs und sozialen Netzwerken, die es vielen ermöglicht, mal so richtig vom Leder zu ziehen.

Statt einer sozialen Bewegung gegen die Rentenreform greift ein Steuerprotest um sich, den sich auch die Linksfront zunutze machen will. Hat die Rechte mit dieser Themensetzung nicht bereits die kulturelle Vorherrschaft errungen?

Heute versuchen alle Parteien hinter der öffentlichen Meinung herzurennen. Und die Forderung nach niedrigeren Abgaben steht derzeit hoch im Kurs. Die Regierung, in deren Programm eine höhere Besteuerung Kernpunkt war, weicht zurück und verbreitet so den Eindruck, daß die Macht schwach ist, daß der Fiskaldruck eben doch zu hoch sei und die Bevölkerung für das zur Kasse gebeten wird, was eigentlich Banken und Konzerne zahlen müßten. Die Gesellschaft driftet nach rechts. Die jetzige Situation wäre vor 20 Jahren undenkbar gewesen. In den 80er und 90er Jahren dachten wir, daß der alte, biologische und kolonialistische Rassismus am Verschwinden sei und »nur« ein subtiler, kultureller, anti-arabischer Rassismus übrig bliebe. Heute erleben wir einen Rückfall in die archaischsten Formen. Kurzum: Die Rechte steht weiter rechts und die Linke folgt ihr.

Interview: Raoul Rigault

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 2. Januar 2014


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