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"Wir sind nicht mehr dasselbe Volk"

Gespräch. Mit Georges Bensoussan. Über die erstarkende Rechte in Frankreich, Antisemitismus und die Furcht vor der imperialistischen Attitüde Berlins


Georges Bensoussan wurde 1952 in Marokko geboren. Er ist Spezialist für die Geschichte der europäischen Juden und Verlagsleiter des Pariser »Mémorial de la Shoah«, der zentralen Shoah-Gedenkstätte in Frankreich.
In seinen Forschungsarbeiten vertritt Bensoussan die These, dass die Shoah in der Gesamtgeschichte Europas nicht als »Anomalie«, sondern als Folge einer logischen Entwicklung zu betrachten ist. Strikt spricht er sich dagegen aus, den Holocaust schon in der Grundschule zu thematisieren. Kinder seien in diesem Alter psychisch nicht reif genug, um damit konfrontiert zu werden.
Unter dem Pseudonym Emanuel Brenner gab Bensoussan im Jahr 2002 das heftig umstrittene Buch »Les territoires perdus de la République« heraus, das sich mit dem Rassismus in Frankreichs Schulen befasst.


Vor acht Jahrzehnten, am 6. Februar 1934, gingen in Paris 300.000 empörte Franzosen auf die Straße. Vor dem prächtigen Bau der Nationalversammlung riefen sie »À bas les voleurs!« – »Nieder mit den Dieben!« Sie demonstrierten gegen Korruption und Vetternwirtschaft in der Politik – und gegen die Regierung des Sozialisten Eduard Daladier, der an diesem Tag die Vertrauensfrage im Parlament stellte. Der 6. Februar ist ein Schlüsselereignis in der Geschichte des französischen Faschismus, sagt der deutsche Historiker Ulrich Pfeil von der Universität Metz. Er zeige, wie groß das antidemokratische Potential in der französischen Gesellschaft war. Ist die damalige Situation mit der heutigen vergleichbar?

Es gibt in der Tat viele Vergleichspunkte. Die hohe Arbeitslosigkeit in den dreißiger Jahren, die vielen Korruptionsfälle in der Politik, der dramatische Ansehensverlust der politischen Kaste, das Fehlen von Wirtschaftswachstum. Nicht vergleichbar scheint mir allerdings die soziale Situation der Mehrheit der Gesellschaft. Sie ist heute, wenn auch durchaus mit Mängeln, im sozialen Netz abgesichert, sie ist sozusagen gegen vollkommene Verelendung geschützt. Die politische Situation ist, im Gegensatz zu damals, einigermaßen stabil.

Sie sind Verlagsdirektor des »Mémorial de la Shoah«, daher die Frage: Ist der heute in Frankreich sich offen wieder ausbreitende Antisemitismus dem der dreißiger Jahre gleichzusetzen ?

Wir haben es nicht mehr mit den gleichen Bevölkerungsgruppen zu tun. In den Jahren vor dem Weltkrieg war der Antisemitismus in der Gesellschaft fest installiert. In der Politik, in der Armee, in der Polizei, in den Behörden. Heute ist es einem Politiker in Frankreich fast unmöglich, sich antisemitisch zu äußern. Es gibt keine politische Partei mehr, die sich offen, ich betonte das Wort »offen«, zum Antisemitismus bekennt, nicht mal der Front National.

Der FN ist nicht mit der faschistischen »Action française« (AF) oder dem »Parti Popoulaire Français« (PPF) zu vergleichen?

AF und PPF waren keine Parteien, sie waren faschistische Organisationen. Man hat in Frankreich keine solchen Organisationen mehr.

Der FN war unter Jean-Marie Le Pen eine offen antisemitische und durchaus faschistoide Parteiorganisation …

Das hat sich geändert. Seine Tochter Marine Le Pen hat sich von dieser Programmatik verabschiedet. Die für den alten Kurs der Partei neben Jean-Marie Le Pen zuständigen Leute sind nicht mehr da, Bruno Mégret zum Beispiel hat abgedankt. Der FN ist jünger geworden, die Mehrheit sind zwischen 30 und 40 Jahre alt, die alten Faschisten, die Kollaborateure, sind nicht mehr da, schon aus rein biologischen Gründen nicht mehr. Sicher sind auch diese neuen jungen Leute im Kern antisemitisch – aber es ist nicht mehr die Priorität der Partei. Die große politische Linie im FN bestimmen der angebliche Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und das Ringen um die sogenannte nationale Identität.

Das ist ein Thema, dessen sich in Frankreich auch die Literatur angenommen hat. Schriftsteller wie Renaud Camus und Richard Millet haben im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem, was »nationale Identität« bedeuten mag, ihre Verleger verloren und können heute nur noch in kleinen Verlagen publizieren. Millet hatte sich den Pamphleten des norwegischen Massenmörders Anders Breivik auf literarischer Ebene genähert und musste deshalb bei Gallimard gehen. Camus ist wegen »Provokation von religiösem Hass und religiöser Gewalt« verurteilt. Sind die beiden – der eine, Millet, auf intellektuellem Niveau und durchaus umstritten, der andere, Camus, auf niedrigem Niveau – ein Spiegelbild von Politik und Gesellschaft?

Bei den Intellektuellen des Front National ist die »nationale Identität« ein zentraler Punkt. Wir müssen uns daher mit diesem Punkt auseinandersetzen, denn der FN macht damit Politik. Was die beiden Schriftsteller anbetrifft: Es ist meiner Meinung nach falsch, sie an den Rand zu rücken oder sie gar aus dem Verlagsprogramm zu nehmen – Camus bei Hachette und Flammarion, Millet bei Gallimard. Das schneidet die Debatte ab, die wir dringend brauchen. Zu den Gesellschaftsgruppen, die der FN mit diesem Programm der »Identität« anspricht – das sind die Leute auf dem Land und in den kleinen Städten. Marine Le Pen hat dort, bisweilen haushoch, gewonnen, wo sich die anderen Parteien, UMP (die von Nicolas Sarcozy geführte Union pour un mouvement populaire, jW) und PS (die sozialdemokratische Parti socialiste, jW), nicht gekümmert haben. Der FN gewinnt gar nicht so sehr in den Banlieues oder bei der kleinen Bourgeoisie, er hat jenen Teil Frankreichs für sich erobert, den wir »la France profonde« nennen, die von bäuerlicher Tradition geprägten Landstriche wie etwa die Normandie – also die Provinz, wie man auf deutsch sagen würde. Der FN kümmert sich, wie Le Pen sagt, um jene, die in der Politik keine Stimme haben.

Warum ist der FN so gefährlich, was charakterisiert ihn Ihrer Meinung nach?

Der Front National ist eine zutiefst antidemokratische Partei. Was bei einem Sieg des FN, bei einer FN-Mehrheit passieren würde, wage ich nur anzudeuten: Wir hätten ganz sicher mit Repressalien zu rechnen – Einschränkung der Pressefreiheit, Zensur von Literatur, Theater, Film. Damit verbunden womöglich eine Politik, die sich auf FN-Art um Bürger jüdischen und muslimischen Glaubens kümmern würde. Ich kann nicht mehr dazu sagen, weil ich es nur ahnen kann.

Viele jüdische Familien haben sich entschlossen, Frankreich zu verlassen. Sie halten das Land nicht mehr für sicher, sie wandern aus, viele nach Israel, andere in die USA, nach Neuseeland oder Australien. Vor welcher konkreten Gefahr fliehen sie eigentlich?

Die religiösen Spannungen innerhalb der französischen Bevölkerung sind enorm gewachsen. Das betrifft vor allem die zwischen der arabisch-muslimischen und der jüdischen Bevölkerung. Der für die jüdischen Bürger Frankreichs bedrohlich erscheinende Spannungsaufbau manifestiert sich dort, wo diese Gruppen aufeinandertreffen. Beispielsweise in einer Pariser Vorstadt wie Créteil, wo es immer noch eine große jüdische Gemeinde gibt. Wenig Probleme gibt es dagegen zwischen Juden und den Immigranten aus dem Maghreb, also aus Algerien, Tunesien oder Marokko. Was die Juden vermissen, ist, dass sich unsere Zivilgesellschaft hinter sie stellt, wenn sie angegriffen werden, dass sie sich empört. Ein Präsident Mitterrand hat im Mai 1990 nach dem Mord an Juden mit den Parisern noch öffentlich demonstriert gegen den Antisemitismus. Das ist leider vorbei. Selbst die großen Kundgebungen im Zusammenhang mit der Ermordung der Redakteure von Charlie Hebdo haben nicht sehr viel gebracht. Die Empörung ist in kurzer Zeit verpufft, von den vier jüdischen Opfern, diesen Menschen im Supermarkt, die nur deshalb getötet wurden, weil sie Juden waren, spricht man nicht mehr. Wir befinden uns in einer Gesellschaft, die nicht aufhört, von der Shoah zu sprechen, sich aber im konkreten Fall nicht mehr groß aufregt. Das muss sich übrigens auch die politische Linke sagen lassen, der Front Gauche ebenso wie die sogenannten bürgerlichen Parteien. Wer diese Dinge in Frankreich beim Namen nennt, wird leider beschuldigt, die Probleme durch seine Kritik erst geschaffen zu haben.

Lässt sich der von Ihnen beklagte Exodus der jüdischen Bevölkerung in Zahlen fassen?

Was ich höre, ist, dass die jungen Leute keine Zukunft in diesem Land sehen. Bis ins neue Jahrtausend hinein haben jährlich rund 1.500 Juden Frankreich verlassen. Im vergangenen Jahr waren es 7.000 und in diesem Jahr, im Monat Januar, was wohl auf die Gewaltorgie bei Charlie Hebdo zurückzuführen ist, haben 50.000 jüdische Bürger ein Dossier mit den Informationen für die Auswanderung angefordert. In Israel bereitet man sich auf diesen Exodus vor, die israelischen Einwanderungsbehörden haben mit einer Verdoppelung des für Frankreich zuständigen Personals reagiert.

Zurück zum Front National, zum Faschismus. Das Wort von der »nationalen Identität«, was bedeutet es eigentlich in der Politik?

»Identität« ist ein »mot piège«, eine Falle. Man muss es definieren, aber das tut keiner. Ist ein »universeller« Mensch ohne »nationale Identität« denkbar? Ich glaube nicht. Wir haben unsere Kultur, unsere Sprache, wir brauchen sie. Und wenn wir das sagen, dann ist das kein rassistischer Diskurs, sondern ein intellektueller, darauf müssen wir bestehen. Wir müssen unsere Begriffe unbedingt präzisieren, wir dürfen sie nicht Parteien wie dem FN überlassen. Ein anderes Wort: Haben Sie bemerkt, dass in der französischen Politik alle andauernd von der »Republik« sprechen? Tun sie das, weil die Republik vielleicht in Wirklichkeit schon tot ist? Oder das Wort »Demokratie« – für sich will es nichts heißen, wir müssen wissen und sagen, was wir unter »Demokratie« eigentlich verstehen wollen.

Als Verleger des »Memorial de la Shoah«, der zentralen Shoah-Gedenkstätte in Frankreich, sind Sie auch mit einer Sorte von Wort, von in Buch gefasstem Wort vertraut, das in der Vergangenheit wie heute Propaganda, Lüge und Rassismus formuliert hat. Adolf Hitlers »Mein Kampf« zum Beispiel. Was halten Sie davon, dass das Buch in Deutschland immer noch verboten ist, dass es bis heute keine wissenschaftlich begleitete, kritische Ausgabe gibt, dass »Mein Kampf« wohl verboten bleiben wird?

Das Verbot des Buches in Deutschland ist absurd, es ist – mit Verlaub – idiotisch. Davon abgesehen, dass ein solches Verbot im Zeitalter des freien Internetzugangs in der Praxis nicht mehr wirksam ist, besteht an dem Text, an seinem Inhalt, heute ohnehin kein großes Interesse mehr. Wer nach den Wurzeln des Faschismus in Deutschland forschen will, der sollte besser die seltsamen Werke bekannter, zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts hochgelobter Intellektueller lesen, Paul de Lagarde zum Beispiel, oder auch Oswald Spengler

Sie meinen den deutschen sogenannten Kulturphilosophen und Verkünder des »modernen Antisemitismus«, Paul de Lagarde …

… der sich ein »Germanien« ausgedacht hatte, das bis an die Adria und das Schwarze Meer reichen sollte, ja, den meine ich. Aber was das Hitler-Buch anbetrifft – es nach dem verlorenen Weltkrieg zu verbieten war ein quasi religiöses Unterfangen. So wie ja auch die faschistische Ideologie immer regligiösen Charakter hatte. Sehen Sie, Deutschland ist, bei aller Wertschätzung für den heute existierenden Staat, nie wirklich »entnazifiziert« worden. Vor allem seine Justiz nicht. Das Verbot des Hitler-Buches kann insofern als ein Akt von »Auto-Entnazifizierung« der Justiz gesehen werden. Man hat das Buch aus dem Verkehr gezogen und sich damit freigesprochen. Es sieht für uns hier so aus, als habe man sich mit dieser rein symbolischen Maßnahme der Vergangenheit entledigen wollen – statt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Letztlich ein perverser Akt.

Haben Sie »Mein Kampf« gelesen?

Nicht auf deutsch. Leider spreche oder lese ich Ihre Sprache nicht. Wohl aber – in Auszügen – auf französisch. Es ist ein ziemlich dickes Buch, schlecht geschrieben, nicht nur in meiner Sprache, sondern vor allem auf deutsch, wie mir Kollegen versichert haben.

Es war in Frankreich nie verboten?

Nein, es war hier nie verboten. Es kam 1934 in den Handel, zunächst unter dem Titel »Mon combat«, und war ein nicht autorisierter Raubdruck, gegen dessen Veröffentlichung Hitler als Autor klagte. Eine autorisierte, von französischfeindlichen, nicht aber von antisemitischen Passagen bereinigte Ausgabe kam 1938 auf den Markt, sie trug den Titel »Ma Doctrine«. Den Verlag gibt es übrigens heute noch – und er vertreibt seit einem entsprechenden Gerichtsurteil von 1979 in Frankreich die erlaubte integrale Übersetzung mit dem deutschen Titel »Mein Kampf«, Untertitel »Mon Combat«.

Welcher Verlag ist das?

Die von Fernand Sorlot 1928 gegründeten »Nouvelles Editions Latines«. Sorlot war ein Mann der »Action française« und ihres damaligen Führers Charles Maurras. Der Verlag wurde nach Kriegsende zunächst verboten und lebt inzwischen wieder in seiner dem ideologischen und politischen Credo entsprechenden Nische.

Ist das Buch gefährlich?

Hitlers »Mein Kampf« ist sicher, wie wir in Frankreich sagen, ein »texte phare« (phare = Leitstern), ein bedeutender Text also für die Naziszene, ein Schlüsseltext. Er enthält dämonische Passagen, romantische, vor allem aber rassistische. Was den »modernen« Antisemitismus anbetrifft, so ist »Mein Kampf« in der arabischen Welt aber viel eher gefährlich als in Europa. Dort ist er Zündstoff. Er formuliert – für einen Teil der arabischen Gesellschaft – sozusagen die Grundrechte einer starken Nation, als die Deutschland dort immer noch gesehen wird. Einer Nation, die nach dem Ersten Weltkrieg wiederauferstanden ist.

Und in Deutschland?

In Deutschland ist das vorbei. Anders als in Österreich, wo die faschistische, die »nationalsozialistische« Vergangenheit nicht aufgearbeitet worden ist. Dort hat man sich in der Rolle des Opfers eingerichtet. Der Anschluss als »Opfer«, als Besetzung durch die Deutschen. In Litauen gab es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine ähnliche Entwicklung. Die Litauer haben in ihrer Mehrheit Hitlers Antisemitismus unterstützt und bei der Eliminierung ihrer jüdischen Mitbürger geholfen. Nach Stalins Sieg mussten sie die sowjetische Besatzung ertragen – ihrem Gefühl nach eine Art »Rote Shoah«. Damit war man selbst Opfer, damit war man quitt mit den Juden. Wissen Sie – »Opfer« ist ein schrecklicher Begriff. Es steckt fast immer eine intellektuelle Falle dahinter.

Vor einiger Zeit wurden Sie für eine Sonderausgabe des Pariser Philosophie Magazine zum Thema »Die Philosophie angesichts des Nationalsozalismus« befragt. Im Rahmen des Interviews mit dem Titel »Eine deutsche Geschichte« sagten Sie: Die (mit Waffen) eroberte deutsche Einheit (von 1870) unterstützt die Idee, dass man sein Recht nur mit Gewalt durchsetzen kann. Die deutsche Schlüsselfigur des 19. Jahrhunderts ist kein Schriftsteller, wie Victor Hugo es für Frankreich sein konnte, sondern ein Politiker: Bismarck – der »eiserne Kanzler». In Deutschland haben wir seither immer noch keinen Schriftsteller als »Leitstern« der Gesellschaft gehabt. Wie sieht es im Frankreich der Gegenwart aus?

Das Frankreich Victor Hugos gibt es nicht mehr. Wir sind nicht mehr dasselbe Volk. Wir haben verschiedene Frankreichs, die zusammen unter einem Dach leben.

Gibt es die Furcht vor den Deutschen noch, jene, die in Hugos und Bismarcks Zeit aufkam?

Ja. Aber es ist nicht mehr die Furcht vor der bewaffneten sondern die vor der wirtschaftlichen Macht. Auch vor der imperialistischen Attitüde, die in der neuen deutschen Politik erkennbar wird. Allgemein gilt aber, dass in Politik und Gesellschaft immer von den »deutschen Freunden« die Rede ist. Sie werden weder von italienischen oder spanischen Freunden hören oder lesen – es sind immer nur die »deutschen Freunde«.

Das Gespräch führte Hansgeorg Hermann, Paris

* Aus: junge Welt, Samstag, 14. Februar 2015


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