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Den Rubikon überschritten

Frankreichs Neofaschisten sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen

Von Georges Hallermayer, Strasbourg *

Nur noch 47 Prozent der Franzosen empfinden die Neofaschisten als Gefahr, die gleiche Zahl sieht den Front National (FN) inzwischen als ganz normale Partei. Das ergab eine repräsentative Erhebung des Instituts TNF Sofres, die Le Monde am vergangenen Mittwoch veröffentlichte. Ein Drittel der Befragten hat demnach auch nichts mehr gegen eine Regierungsbeteiligung der Ultrarechten einzuwenden, ein Wert, der seit 2003 kontinuierlich ansteigt.

Die Strategie des FN scheint somit aufgegangen zu sein. Seit mehr als zehn Jahren verfolgt die Partei eine auch in den Niederlanden erfolgreich erprobte Strategie der »Entdämonisierung«. Zunächst wurde der verbrauchte, heute 84jährige Jean-Marie Le Pen durch seine vierzig Jahre jüngere Tochter Marine ersetzt. Diese ersetzte das Leugnen des Holocaust, die nostalgische Verherrlichung des Nazikollaborateurs Marschall Philippe Pétain oder des französischen Kolonialismus in Algerien durch antiislamische Hetzparolen. Ihre Ideologie fiel besonders dort auf fruchtbaren Boden, wo einerseits Werksstillegungen eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit verursacht haben und andererseits die örtlichen sozialistischen Politiker in Korruptionsskandale verstrickt waren. Die Rechten konnten sich so zum »Anwalt des kleinen Mannes« aufspielen und bei den letzten Parlamentswahlen drei Abgeordnete mit Direktmandat in die Nationalversammlung schicken.

Der nach der Wahlniederlage von Nicolas Sarkozy in dessen Union pour un mouvement populaire (UMP) aufgeflammte Kampf um die Nachfolge in der Parteiführung zwischen dem früheren Premierminister François Fillon und Generalsekretär Jean-François Copé schien den Faschisten zudem recht zu geben. Der FN hatte prognostiziert, daß die UMP implodieren und sich in verschiedene Flügel aufsplittern werde. Zwar konnten deren beide Seiten im Januar einen »Waffenstillstand« erzielen, demzufolge ihre Anhänger im kommenden Herbst erneut über die Parteiführung abstimmen sollen. Profitieren von der Krise der früheren Regierungspartei könnte jedoch der FN.

Schon unter der Präsidentschaft Sarkozys hatte die UMP begonnen, nach rechts zu rücken, doch erst während des »Hahnenkampfes« um die Nachfolge an der Spitze wurde offensichtlich, wie sehr die Partei inzwischen in die Nähe des FN gerückt ist. Eine von Le Figaro im Oktober 2012 veröffentlichte Meinungsumfrage zeigte, daß bei den Mitgliedern der UMP kaum mehr Unterschiede zu den Ansichten der extremen Rechten bestehen, wenn man von der populistischen Anti-EU-Rhetorik des FN absieht.

Im Januar veröffentlichte das Institut IPSOS eine weitere Umfrage, derzufolge sich 87 Prozent der Franzosen einen »Vrai chef«, einen »starken Mann«, wünschen. Zugleich kündigte die UMP die seit der Résistance gegen den deutschen Faschismus geltende Ausgrenzung der äußersten Rechten im politischen Koordinatensystem auf. Nach dem Krieg hatten die Französische Kommunistischen Partei (PCF) und der damalige Staatschef Charles de Gaulle einen Konsens begründet, in keiner Weise mit den alten und neuen Faschisten zusammenzuarbeiten. Doch im Januar legten Abgeordnete der UMP und des FN in der Nationalversammlung zum ersten Mal einen gemeinsamen Gesetzentwurf vor: Ausgerechnet im Namen des »Kampfes gegen Rassismus« soll demnach die Niederschlagung des royalistischen Aufstands der Vendée 1793/94 gegen die Französische Revolution als »Völkermord« verurteilt werden. Damit habe die UMP »den Rubikon überschritten«, kommentierte L’Humanité am 18. Januar.

Der den Sozialisten nahestehende Think-tank »Terra Nova« prognostiziert bereits, daß sich UMP und FN weiter annähern werden und hält sogar einen Zusammenschluß zu einer »Patriotischen Partei« nicht für ausgeschlossen. Jedenfalls ist davon auszugehen, daß bei den im nächsten Jahr stattfindenden Kommunalwahlen erstmals offizielle Bündnisse, Absprachen und Koalitionen zwischen den beiden Rechtsparteien geschlossen werden dürften. Bei der vergangene Woche von Le Monde veröffentlichten Umfrage sprachen sich 39 Prozent der Befragten für eine Zusammenarbeit aus, bei den UMP-Anhängern betrug die Unterstützung sogar 51 Prozent.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 12. Februar 2013


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