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Das Ende der alten Welt

Kommunale Basisdemokratie und soziale Republik – Das Vermächtnis der Kommunarden

Von Helmut Bock *

Mit der »friedlichen Revolution« vom 18. März 1871 hatte das Volk von Paris seine Entwaffnung verhindert. Es hatte die 250 Feldgeschütze der republikanischen Nationalgarde mit bloßen Händen verteidigt, die Regierung Thiers, die Staatsbeamtenschaft und die Armee nach Versailles gescheucht, sodann in freier, demokratischer Entscheidung den Rat seiner Stadtgemeinde gewählt. Die »Commune de Paris« – den Bewohnern seit der Zeit Napoleons I. verweigert – hatte sich wieder konstituiert.

Es begann an einem Palmsonntag

Doch am 2. April, dem »Palmsonntag« und Fest der römisch-katholischen Prozessionen, dröhnte Artilleriefeuer aus dem Süden. Ohne Vorankündigung begannen die auf Kirche und Christengott verschworenen »Versailler« den Bürgerkrieg gegen die Kommune. Im Norden und Osten war Paris seit sechs Monaten schon von den Armeekorps der deutschen Eroberer umstellt. Nun aber stand es tagtäglich unter der Last infernaler Gefechte – oft derart verbissen, dass Straßen und Brücken, Dörfer und Forts, die morgens von der Versailler Armee erobert wurden, sich am Abend wieder in den Händen der Nationalgardisten befanden.

Die Versuche, basisdemokratische Kommunen auch in Marseilles, Lyon, Saint-Etienne, Creuzot, Toulouse und Narbonne zu errichten, waren bereits mit Militärgewalt unterdrückt. Erst am 18. April 1871 beschloss der Rat der Pariser Kommune seine »Erklärung an das französische Volk«. Wie zu erwarten war, enthielt dieses Dokument verfassungspolitische Gedanken, die sowohl für Paris als auch für Frankreich richtungweisend sein sollten: »Die am 18. März dank der Initiative des Volkes begonnene kommunale Revolution eröffnet eine neue Epoche der praktischen, positiven und wissenschaftlichen Politik.« Lokale oder regionale Basisdemokratien in Gestalt souveräner Kommunen der Städte, Dörfer und Landschaften sollten zu einer Neugestaltung Frankreichs führen. Indem sich diese Kommunen nicht als zentral staatliche Institutionen, sondern als Organe der örtlichen Volksdemokratie und Gemeindepolitik erschufen, sollten sie die politische und soziale Erneuerung »von unten auf« sichern, das konstitutive Fundament der neuen und dritten »Republique France« bilden.

Die Pariser Kommunarden wollten eine Wiederherstellung der Monarchie verhindern und zu diesem Zweck mit der Tradition zentral staatlicher Machtstrukturen, ihrer Vorrechte und Monopole, brechen. Dabei sahen sie sich als geschichtlich Handelnde noch immer im Entwicklungsprozess der Großen Französischen Revolution, die 1789 begann, jedoch nicht vollendet schien. Die weltbewegende Losung »Liberté! Égalité! Fraternité!« war in Staat und Gesellschaft nur als besitzbürgerlicher Liberalismus, nicht als gleichheitliche und soziale Volksdemokratie verwirklicht worden. Auf die bürgerlich-demokratischen Revolutionen von 1789, 1830, 1848 waren jeweils monarchistische Restaurationen mit gesellschaftspolitischen Rückschritten gefolgt.

Dass sich nun gerade die Kommunebewegung in der Großen Revolution verwurzelt sah, offenbarte sich staatsrechtlich in der erweiterten Garantie der Menschen- und Bürgerrechte. Die autonomen Kommunen der Gegenwart sollten »jedem Franzosen die freie Entfaltung seiner Anlagen und Fähigkeiten als Mensch, Bürger und Arbeiter« sichern. Denn die vielen Millionen der frühproletarischen, kleinbürgerlichen und bäuerlichen »Passivbürger« waren noch immer von Wahlrecht, Waffenrecht, Koalitions-, Versammlungs- und Demonstrationsrecht, sogar der Vaterlandsverteidigung ausgeschlossen und harsch auf die von Unternehmern diktierten Vertragsbedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz verwiesen. Nun aber verhieß die Erklärung der Kommune »die absolute Garantie der Freiheit der Person, des Gewissens und der Arbeit, der Versammlungen und der Presse«. Dieses Dokument verknüpfte das Ringen um den Bestand der Republik mit den Grundrechten des staatsbürgerlichen Individuums und mit den Absichten einer geistigen wie wirtschaftlichen Emanzipation der Arbeitenden. Die aus der »kommunalen Revolution« erwachsende Politik sollte gewissermaßen alles Unrecht, alle Ungerechtigkeiten beseitigen – sie sollte »das Ende der alten Welt des Despotismus, der Pfaffen-, Militär- und Beamtenwirtschaft, der Ausbeutung, des Wuchers, der Monopole und Privilegien« bewirken, »denen das Proletariat seine Knechtschaft, das Vaterland sein Unglück und seinen Zusammenbruch verdankt. «

Obgleich diese gedachte Umwälzung eine Emanzipation der arbeitenden Klassen integrierte, war sie keine »Revolution der Arbeiterklasse« – etwa im Sinne der von Marx prognostizierten »sozialistischen Revolution«. Noch weniger war sie eine »Diktatur des Proletariats«. Ihr alles umfassendes Ziel, das gegen die monarchistische Parlamentsmajorität gerichtet war, lautete: »Anerkennung und Festigung der Republik«. Deren unabdingbare demokratische Voraussetzung aber hieß: »Die organische Zelle der französischen Republik ist die Gemeinde, die Kommune.« Die kommunale Basisdemokratie wurde als die Grundlage der Staatlichkeit des Landes begriffen.

Wohl existierte im zeitgenössischen Bewusstsein ebenfalls das Zukunftsbild einer »Weltrepublik«. Die basisdemokratische und zugleich republikanische Hauptorientierung der jetzt aktuellen Revolution wollte aber die Erfüllung der Lebensbedürfnisse der Massen in der Gemeinde mit der konsequenten »Volkssouveränität« und realen Volksnähe des nationalen Staates verbinden. Folglich war diese Umwälzung keineswegs auf »die Zerstörung der Einheit Frankreichs« oder gar die Auflösung des französischen Staatsverbundes gerichtet. Vielmehr sollte an Stelle der provisorischen Regierung Thiers und des in Versailles tagenden Parlaments eine verwandelte Staatsspitze treten. Eine »Delegation der föderierten Kommunen« sollte die Zentralverwaltung des Landes übernehmen.

Republik der freien Gemeinden

Die »Erklärung an das französische Volk« wurde am 20. April 1871 im »Journal Officiel« und danach in den Pariser Zeitungen veröffentlicht. Eine halbe Million von Druckexemplaren erschien in Form von Maueranschlägen. Als Flugblatt gefertigt, wurde sie überdies von Luftballons ins Land getragen. Das geschah freilich erst, als alle Versuche, Kommunen auch in der Provinz zu begründen, unterdrückt, also gescheitert waren. Die Konstituierung der neuen französischen Republik als einer Bundesrepublik freier Städte und Gemeinden fand aber nicht statt. Allein die Zweimillionenstadt Paris war der Boden des geschichtlichen Experiments – der praktischen Erprobung einer nur wenig vorbedachten Theorie

Wenn das Wesen der Kommune als »Sozialismus« zu bezweifeln bleibt, so ist ein anderes mit Sicherheit zu verneinen: Trotz ihrer historischen Verwurzelung in der Großen Revolution und trotz der unablässig drängenden Zwänge des Bürgerkriegs vermieden die Kommunarden, ein Plagiat des Jakobinismus von 1793/94 zu sein. Sie verfochten keine Diktatur von »Schreckensmännern«, wie Verdächtigungen und Verfälschungen unterstellten. Die Versammlung der Stadtverordneten ließ die Guillotinen verbrennen und zerschlagen. Obwohl die Agenten Thiers' in der Stadt umher schlichen und Presseorgane mit Denunziationen und Falschmeldungen bedienten, unterhielt die Kommune kein Revolutionstribunal nach dem Geiste Maximilien Robespierres, auch keine Staatssicherheitspolizei vom Typus der bolschewistischen Tscheka. Sie begnügte sich mit der Schließung kommunefeindlicher Redaktionen. 21 Konservative, die in den besitzbürgerlichen Stadtbezirken gewählt wurden, aber vor den Gefahren des Bürgerkrieges kapitulierten und ihr Mandat zurückgaben, wurden durch demokratische Nachwahlen ersetzt – und niemand krümmte ihnen ein Haar. Es war späterhin Lenin, der sich irrigerweise als eine Art Erbwalter der Kommunarden ausgab, aber ihnen vorwarf, der »Großmut gegenüber ihren Feinden« sei eine Ursache ihres Untergangs gewesen.

Gerade weil diese volkstümliche und ungemein arbeitsame Kommunalverwaltung nicht aus traditionellen Staatsbeamten, sondern aus Lokalpolitikern, Journalisten, kleinen Gewerbetreibenden, nicht zuletzt Arbeitern (25 von 92 Ratsmitgliedern) bestand, erfüllte sie ihre amtlichen Funktionen mit den Erfahrungen des Berufslebens und existenziellen Daseins – und zumal mit sozialem Gewissen. Dies eben bewirkte, dass in der Kommune eine wohlfahrtsstaatliche Tendenz waltete. Und weil zu ihrer Zeit die Regierungen Europas eine Sozialpolitik zu Gunsten der arbeitenden Klassen nicht praktizierten, verstand sich die Kommune als eine Alternative zu den Ausbeutergesellschaften. Sie benutzte die damals bekannten antikapitalistischen Theorien und Bestrebungen für die rhetorische Formulierung ihrer Maßnahmen und Gesetze, bezeichnete diese zurecht als »sozial«, nicht selten aber auch als »sozialistisch«. Im Prinzip jedoch achtete und bewahrte sie das privatkapitalistische Eigentum an Produktionsmitteln und Kapital. Eine »Expropriation der Expropriateure« fand nicht statt. Am meisten umstritten blieb ihr Verzicht, die Bank von Frankreich mitsamt der eingelagerten drei Milliarden Francs und Wertpapiere zu beschlagnahmen. Tatsächliche und grundstürzende »Sozialisten« oder gar »Kommunisten« waren die Pariser Kommunarden nicht.

Bourgoiser Hass und Blutrausch

Dennoch waren sie unmittelbare »Wegbereiter« einer Gesellschaft, in der neue Menschen leben und ein neues Menschenbild herrschen sollte. Die Kommune hat in den zwei Monaten ihrer Existenz Beachtliches auf den Weg gebracht, nicht nur in Bildung und Schulwesen, sondern insbesondere auch einen Wandel im Arbeits- und Sozialwesen eingeleitet: Arbeitsschutzbestimmungen, erste Betriebsräte und Gewerkschaften, Tarifvertrag und Frauenemanzipation. Alle französischen Revolutionen hatten die Unmündigkeit der Frau beibehalten – erst die Kommune bewirkte die Bildung eines Frauenbundes und einer Frauengewerkschaft und debattierte die Gleichberechtigung bis hin zu den Löhnen.

Das alles wurde von den Besitzklassen Frankreichs und Europas als die »Greuel der Kommune« beschrieen. Über sämtliche Grenzen hinweg schlug der Kommune bourgeoiser Hass entgegen. Zu deren Henkern zählte das frisch gegründete Deutsche Kaiserreich. Die Liquidierung der Kommune in einwöchiger Straßenschlacht, im Blutrausch der Versailler Armee und ihrer bürgerlichen Claqueure, kulminierte am Pfingstsonntag, dem 28. Mai 1871, als an der Friedhofsmauer des Père Lachaise gefangene Kommunarden von Mitrailleusen, den ersten Maschinengewehren, zerfetzt wurden. Es waren 147 Männer und Frauen, die nach dem Buchstaben des »Gesetzes« und mit »geistlichem Beistand« exekutiert wurden. Insgesamt starben 17 000 Kommunarden, 38 565 gerieten in Gefangenenschaft.

Das Vermächtnis der Pariser Kommunarden mahnt bis in unsere Tage: Kommunale Basisdemokratie und soziale Republik!


»Meine Herren, mögen die Bestrebungen der Kommune in Ihren Augen auch noch so verwerfliche oder verrückte sein, seien Sie fest überzeugt, das ganze europäische Proletariat und alles, was noch ein Gefühl für Freiheit und Unabhängigkeit in der Brust trägt, sieht auf Paris.

Meine Herren, und wenn auch im Augenblick Paris unterdrückt ist, dann erinnere ich Sie daran, daß der Kampf in Paris nur ein kleines Vorpostengefecht ist, daß die Hauptsache in Europa uns noch bevorsteht und daß, ehe wenige Jahrzehnte vergehen, der Schlachtruf des Pariser Proletariats ›Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange!‹ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden wird.«

August Bebel am 25. Mai 1871 vor dem Deutschen Reichstag



* Prof. Dr. Helmut Bock, Jg. 1928, Mitglied der Leibniz-Sozietät und der Historischen Kommission beim Parteivorstand der LINKEN, hat zahlreiche Bücher über das Zeitalter der Großen Französischen Revolution verfasst. In der Schriftenreihe des Vereins »Helle Panke« sind von ihm jüngst erschienen: »Wer bedroht wen? Bürgerliche Revolution und soziale Empörung« (64 S., 3 €) sowie »Globalisierung und Militarisierung. Von Kriegsschuld und Friedensdenken seit 500 Jahren« (72 S., 3 €; zu beziehen über den Verein, Kopenhagener Str. 76, 10437 Berlin oder über Tel.: 030/47 53 87 24 und E-Mail: info@helle-panke.de).

Aus: Neues Deutschland, 28. Mai 2011



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