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Rechtsruck in Estland

Bisherige Koalitionsparteien verlieren Mehrheit. Russlandfreundliche Partei legt zu und wird von Regierung ferngehalten

Von Reinhard Lauterbach *

Die Parlamentswahl in Estland am vergangenen Sonntag hat ein widersprüchliches Ergebnis hervorgebracht. Auf der einen Seite verlor die bisherige Koalition aus der wirtschaftsliberalen Reformpartei und den Sozialdemokraten ihre absolute Mehrheit. Andererseits konnte die als »prorussisch« eingestufte Zentrumspartei des Tallinner Bürgermeisters Edgar Savisaar zulegen.

Die Reformpartei von Ministerpräsident Taavi Rõivas verlor drei Mandate, blieb aber mit 30 Prozent stärkste Kraft. Noch stärke Einbußen mussten die Sozialdemokraten hinnehmen. Sie verloren vier Mandate und büßten fast ein Viertel ihrer Sitze ein. Die Zentrumspartei kam dagegen auf 27 Mandate und zieht damit als zweitstärkste politische Kraft des Landes in den neuen Riigikogu ein.

Trotzdem wird sich ihr Einfluss auf die estnische Politik in Grenzen halten, da Rõivas eine Koalition mit der Zentrumspartei noch am Wahlabend ausgeschlossen hat. Die wahrscheinlichsten Regierungsoptionen sind jetzt ein Minderheitskabinett aus Reformpartei und Sozialdemokraten oder eine Erweiterung des Regierungsbündnisses um die konservative Partei »Pro-Patria- und Res-Publica-Union«. Sie hatte zwar die stärksten Verluste zu verbuchen, rutschte von 22 auf 13 Mandate ab und ist nur noch viertstärkste Kraft, aber das dürfte sie als Mehrheitsbeschafferin für Rõivas gefügig machen.

Neu ins Parlament kamen zwei Parteien, eine wirtschaftsliberale und eine, deren Programm auf die Feindschaft gegen Immigranten ausgerichtet ist. Insgesamt war das Ergebnis der Wahlen am Sonntag ein Ausdruck des Rechtsrucks der estnischen Gesellschaft.

Der Wahlkampf stand stark im Zeichen der Ukraine-Krise. Rõivas hatte mehrfach eine ständige Präsenz von NATO-Truppen in Estland verlangt. Als Ersatz für diese einstweilen nicht vorgesehene Stationierung bot die NATO drei Tage vor der Wahl eine demonstrative multinationale Militärparade direkt vor dem Grenzübergang nach Russland in der überwiegend von ethnischen Russen bewohnten Stadt Narva.

Angesichts der Spannungen verzeichnete auch ein freiwilliger Milizverband zur Unterstützung der Armee im Kriegsfall zuletzt erheblichen Mitgliederzuwachs. Mit 15.000 Männern und Frauen ist diese Truppe derzeit fast viermal so stark wie die reguläre Armee des Landes.

Der Erfolg der Zentrumspartei ist mehr auf soziale Themen wie Arbeitslosigkeit und Emigration zurückzuführen und weniger auf eine Unterstützung seitens der russischen Minderheit. Denn der Großteil dieser Gruppe – sie macht etwa 25 Prozent der Bevölkerung Estlands aus – durfte mangels Staatsangehörigkeit nicht wählen.

Die estnischen Russen haben besondere »Nichtbürger«-Ausweise, die allerdings auch ihre Vorteile haben: Sie erlauben visafreies Reisen sowohl im Schengenraum als auch nach Russland. Wenn sie aber die Staatsangehörigkeit erwerben wollen, müssen nach wie alle Menschen, die nicht von estnischen oder solchen Vorfahren abstammen, die schon vor 1940 im Lande ansässig waren, eine Sprach- und Patriotismusprüfung ablegen.

Estland versucht, das Russische in kleinen Schritten aus der Öffentlichkeit zu verdrängen: Auch Schulen mit russischer Unterrichtssprache müssen inzwischen 60 Prozent des Unterrichts in estnischer Sprache abhalten. Lehrer klagen aus diesem Grund, dass die Schüler weder Russisch noch die Staatssprache oder den Lehrstoff ordentlich lernten, und das wirkt sich in Form eines selbstverstärkenden Mechanismus negativ auf den Bildungserfolg russischsprachiger Kinder aus. Als schulische Fremdsprache ist Russisch ohnehin schon in den 90er Jahren durch Englisch ersetzt worden. In letzter Zeit ist zu beobachten, dass auch russische Eltern ihre Kinder eher in estnischen Kindergärten und Schulen anmelden, um ihnen ihre Bildungskarriere zu erleichtern.

Immerhin will die Regierung jetzt aber auch etwas tun für die Russen im Lande. Der alte und wohl auch neue Ministerpräsident Rõivas hat von der EU Geld verlangt, um einen estnischen Fernsehsender in russischer Sprache zu starten. Denn bisher schauen die Minderheit mangels anderer Angebote überwiegend aus Russland kommende Programme, und die Regierung macht sich Sorgen, dass sich dies nachteilig auf ihre politische Loyalität im Krisenfall auswirkt.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 3. März 2015


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