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"Da werden SS-Leute auf einmal zu Freiheitskämpfern"

Nach Entsorgung antifaschistischen Mahnmals plant Estland Ehrung sogenannter Unabhängigkeitsbewegung. Ein Gespräch mit Igor Iwanow *



In Estland soll ein »Denkmal für die nationale Unabhängigkeitsbewegung« errichtet werden. Drohen damit nach der Entsorgung des »Bronzesoldaten«, eines Denkmals zur Erinnerung an die Befreiung vom Faschismus, im April aus dem Zentrum der Hauptstadt Tallinn in einen Vorort, neue Auseinandersetzungen?

Sobald in Estland von der Unabhängigkeitsbewegung die Rede ist, führt das zu heftigen Debatten, da SS-Leute zu so-genannten Freiheitskämpfern werden und ihre Greueltaten ignoriert werden. In Estland werden aus Todeslegionen Kämpfer für die Unabhängigkeit oder gegen den Bolschewismus.

Das Mahnmal mit dem Bronzesoldaten wurde nach und nach entsorgt. Zuerst wurde das ewige Feuer am Denkmal »aus wirtschaftlichen Gründen« gelöscht. Dann wurde der Sowjetstern entfernt und anschließend die Bronzeplatten mit Namensgravuren. Schließlich wurde das Monument umgewidmet und galt fortan »den Opfern des Zweiten Weltkriegs«. Als es trotzdem weiterhin Anziehungspunkt für Menschen war, die dort am 9. Mai das Kriegsende feierten, wurde beschlossen, es an einen abgelegenen Ort zu verlagern.

Das jetzt geplante Denkmal für die sogenannte Unabhängigkeitsbewegung besteht aus einer Säule mit einem Ordenskreuz, auf dem eine Landkarte zu sehen ist. Diese Karte umfaßt einen Landstrich, der beim Friedensschluß von Tartu Estland zugesprochen wurde, heute jedoch zu Rußland gehört. Daß dies nach der Verlegung des Bronzesoldaten zu neuen Auseinandersetzungen führen kann, ist klar. Außerdem erzeugt das Aussehen des Kreuzes bei vielen Assoziationen an die Panzer der deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg, die ein ähnliches Emblem trugen.

Bei den Protesten gegen den Abbau des Bronzesoldaten im Frühling kam ein junger Mann ums Leben, Dutzende wurden verhaftet. Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?

Von den drei als angebliche Rädelsführer der April-Ereignisse Verhafteten wurden die letzten beiden erst am Freitag vergangener Woche vorläufig aus der Haft entlassen. Im Januar soll ihre Gerichtsverhandlung stattfinden. Auch weitere Mitglieder der Organisationen Night Watch und der demokratischen und antifaschistischen russischen Jugendbewegung Nashi wurden verfolgt. Meine Organisation, SIIN, ist vom Bildungsministerium inzwischen als antiestnisch gebrandmarkt worden. Das hat dazu geführt, daß uns die Fördermittel gestrichen wurden. Wie viele andere auch habe ich nach den April-Ereignissen unter einem Vorwand meinen Job verloren. Viele von uns stecken in großen finanziellen Nöten.

In Estland ist es wiederholt zu Ehrungen und Treffen ehemaliger SS-Angehöriger gekommen. Der Justizminister feierte seinen Geburtstag unter einer Hakenkreuzfahne, ohne daß das ein Nachspiel gehabt hätte. Gibt es eine antifaschistische Bewegung in Estland, und wenn ja, wie ist ihre Situation?

Es gibt eine antifaschistische Bewegung, aber sie wird massiv behindert. Als Antifaschisten aus Lettland im April zu uns kommen wollten, wurden sie an der Einreise gehindert. Wer nicht Este ist und unliebsame Positionen vertritt, wird als Radikaler und Extremist verschrieen, auch wenn das nicht im geringsten der Wahrheit entspricht.

In Estland leben etwa 240 000 Russinnen und Russen. Mit welchen Problemen hat die russische Minderheit zu kämpfen?

In Estland leben 1320000 Menschen, davon sprechen etwa 33,5 Prozent die russische Sprache. Sie kommen aus Rußland, der Ukraine, Weißrußland, Armenien, Aserbaidschan, Georgien etc. Seit 1994 wird die estnische Staatsbürgerschaft nicht mehr automatisch, sondern nur noch denen und ihren direkten Nachkommen verliehen, die vor 1940 in Estland lebten. Alle anderen wurden zu Nichtstaatsbürgern erklärt und erhielten Ausweise als Staatenlose. Um Este zu werden, muß man seitdem ein Antragsverfahren durchlaufen – mit Nachweisen estnischer Sprach- und Geschichtskenntnisse. Heute gibt es etwa 120000 Menschen in Estland, die keine Staatsbürgerschaft besitzen, ich gehöre auch dazu. Wir können zum Beispiel nur an kommunalen Wahlen teilnehmen, nicht jedoch an nationalen Wahlen. Wir betrachten das als Diskriminierung und sind der Ansicht, daß alle Menschen, die zum Zeitpunkt der estnischen Unabhängigkeit in Estland lebten, die Staatsbürgerschaft erhalten müssen. Wie sollen wir sonst am gesellschaftlichen Leben teilnehmen?

Interview: Ruth Firmenich

* Igor Ivanov ist Vorsitzender der russischen Jugendorganisation SIIN in Estland)

Aus: junge Welt, 24. November 2007



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