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Estland-Russland: Eskalation im Streit um sowjetisches Ehrenmal

Regierung in Tallinn verbietet Kundgebungen und Demonstrationen zum Tag der Befreiung vom Faschismus

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel über die jüngsten Ereignisse in Tallinn und in Moskau, die Antwort der EU-Kommission auf eine kleine Anfrage sowie ein Interview mit einem Vertreter der Russischen Partei Estlands.



Gedenkverbot in Tallinn *

Streit über sowjetisches Ehrenmal dauert an: Estland untersagt Feiern zum Tag des Sieges über den Faschismus. EU fordert Rußland auf, gegen Botschaftsdemonstranten vorzugehen

Von Tomasz Konicz *

Die estnische Obrigkeit demonstriert zur Zeit der russischen Minderheit des Landes das europäische Verständnis der Begriffe Menschenrechte, Zivilgesellschaft und Demokratie. Bis zum 11. Mai sind in der gesamten baltischen Republik öffentliche Kundgebungen und Demonstrationen verboten. Zum ersten Mal seit der Befreiung des Landes aus dem Würgegriff des deutschen Faschismus und seiner baltischen Kollaborateure wird es mithin nicht möglich sein, den 9. Mai als Tag des Sieges in Estland öffentlich zu begehen. Neben dem Verbot aller öffentlichen Feiern zum Sieg über den Faschismus wird auch die ehemals hochgelobte Reisefreiheit für alle jugendlichen russischen Bürger ausgesetzt, die in Verdacht stehen, einer »kremlnahen« Organisation anzugehören – sie dürfen bis auf weiteres nicht nach Estland einreisen.

Inzwischen wurden erste Details bekannt über den Umgang der estnischen Sicherheitskräfte mit den über 1100 festgenommenen Demonstranten, die gegen den Abriß des sowjetischen Ehrenmals am Freitag im Zentrum Tallinns protestiert hatten. Gegenüber der Nachrichtenagentur Regnum erklärten Freigelassene, stundenlang mit auf den Rücken gefesselten Händen in Frachtdepots des Tallinner Hafens festgehalten worden zu sein, ohne Nahrung oder Wasser zu erhalten und eine Toilette aufsuchen zu dürfen. »Jeder, der aufstand oder es wagte, sich zu beschweren, wurde getreten und mit Schlagstöcken traktiert«, zitierte Regnum einen Demonstranten.

Eine hochrangige Delegation der russischen Duma, die zu Wochenbeginn in Tallinn war, bestätigte am 1. Mai gegenüber der Nachrichtenagentur Itar-Tass die Berichte über Mißhandlungen und sprach von »umfangreichen Verstößen gegen die Menschenrechte«. Der Vizevorsitzende des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten, Nikolai Kowaljow, bestätigte, daß sich unter den im Hafen festgehaltenen und teilweise mißhandelten Demonstranten viele Minderjährige und auch ältere Menschen im Rentenalter befunden hätten. Er rief die Führung in Tallinn zum Rücktritt auf. »Die estnische Regierung hat diese Krise provoziert und ist nicht mit den folgenden Ausschreitungen fertiggeworden«, erklärte Kowaljow. Rußland verlangt nach wie vor, daß das sowjetische Ehrenmal an seinem ursprünglichen Platz im Stadtzentrum wieder aufgestellt wird.

Die estnische Regierung geht inzwischen in die Offensive. Die Lageeinschätzung des Duma-Delegationsleiters Kowaljow bezeichnete ein Sprecher des Außenministeriums als »Propaganda«, die russischen Medien wurden zudem von estnischen Regierungsstellen bezichtigt, »Lügen zu verbreiten«. Das Außenamt legte überdies offiziellen Protest gegen die anhaltenden Demonstrationen russischer Jugendorganisationen vor der Botschaft Estlands in Moskau ein, die als »Psychoterror« bezeichnet wurden. Die estnisch Regierung rief die Europäische Union auf, mit aller Macht in Moskau zu intervenieren. Am Mittwoch schaltete sich die EU-Kommission dementsprechend ein: »Wir teilen die Beunruhigung über die zunehmenden Spannungen um die estnische Botschaft in Moskau und fordern entschlossen von den russischen Behörden, den Verpflichtungen aus der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen zu folgen«, erklärte eine Sprecherin in Brüssel. Über das rücksichtslose Vorgehen der estnischen Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung der tagelangen Proteste verlor die um »diplomatische Konventionen« besorgte EU-Kommission bis dato kein Wort.

Inzwischen haben sich Finnland und Polen eindeutig mit dem estnischen Geschichtsrevisionismus solidarisiert. Der polnische Kulturminister Kazimierz Ujazdowski erklärte sogar, daß seine Regierung bis zum 15. Mai ein Gesetz verabschieden werde, mit dem es leichter fallen werde, »Symbole der kommunistischen Diktatur« aus Polens öffentlichem Raum zu verbannen. Hierzu zählte Ujazdowski auch die Ehrenmale der sowjetischen Soldaten, die Polen aus der brutalen Besatzung durch Nazideutschland befreiten.

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2007

Stellungnahme: Die EU und Estland

Mündliche Anfrage der Europaparlamentarierin Sahra Wagenknecht (Linkspartei.PDS) an die EU-Kommission bezüglich der »geplanten Zerstörung sowjetischer Denkmäler in Estland, die an die Befreiung vom deutschen Faschismus erinnern«:
Estlands Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das die Entfernung eines Denkmals auf dem Tönismägi (Antonshügel) zu Ehren der gefallenen sowjetischen Soldaten im Kampf gegen den Faschismus in Tallinn verlangt. Wie beurteilt die Kommission die geplante Zerstörung von antifaschistischen Denkmälern in Estland – und insbesondere die geplante Zerstörung des Denkmals für gefallene sowjetische Soldaten in Tallinn –, die an den Sieg über den deutschen Faschismus erinnern? Wie beurteilt die Kommission Äußerungen von estnischen Politikern, zur Not das Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten auch ohne gesetzliche Grundlage zerstören zu lassen?

Antwort der EU-Kommission:
Der Kommission ist bewußt, daß die Diskussionen um das Soldatendenkmal in Tallinn, den sogenannten »Bronzenen Soldaten«, eine äußerst sensible historische Angelegenheit betreffen. Jedoch obliegt es den einzelnen Mitgliedstaaten zu entscheiden, wie sie unter Berücksichtigung ihrer internationalen Verpflichtungen, einschließlich der Genfer Übereinkommen vom 12. August 1949 und ihrer Zusatzprotokolle, am besten mit ihrer Vergangenheit umgehen. Die Kommission ist zudem der Auffassung, daß externer Druck der Suche nach einer Lösung für eine solche sensible Angelegenheit nicht zuträglich ist. Die Kommission weist die Frau Abgeordnete darauf hin, daß das von ihr erwähnte Gesetz (Gesetz über illegale Bauwerke) nicht vom estnischen Präsidenten unterzeichnet wurde und daher noch nicht in Kraft getreten ist. Die Rechtsgrundlage für Estland, um in dieser Angelegenheit tätig zu werden, ist das im Januar 2007 angenommene Gesetz über den Schutz von Kriegsgräbern.



"Vorwiegend junge Leute hielten am sowjetischen Ehrenmal Wache"

Russen fordern estnische Regierung zum Dialog auf. Ein Gespräch mit Gennadi Afanassjew **

Interview: Wassily Geist

Warum eskalierte in den vergangenen Tagen die Situation rund um das sowjetische Ehrenmal in Tallinn?

Die Eskalation ist vor allem dem Vorgehen der Polizei geschuldet. Das, was in der Nacht von Donnerstag zu Freitag in der vergangenen Woche in Tallinn passiert ist, war nicht nur eine Folge der Entscheidung der estischen Regierung, sondern auch eines gravierenden Fehlers der Sicherheitskräfte. Die vorerst friedlich versammelten Demonstranten wurden mit Gewalt vom Denkmal weg in die Stadtmitte gedrängt. In den kleinen Gassen Tallinns lösten sich die Emotionen und die gestaute Wut und schlugen in wilde Straßenschlachten und Pogrome um. Zu den Demonstranten gesellten sich dann auch andere Jugendliche, die aus Spaß anfingen, Scheiben einzuschlagen und Warenhäuser zu plündern. So etwas hätte verhindert werden können, wenn die Regierung vorher einen Dialog mit den Menschen eingegangen wäre. Die estnische Regierung hat heute bemerkt, daß es in ihrem Land eine russische Bevölkerung gibt.

Wer waren diese Rebellierenden?

Nach offizieller Statistik kann man heute genau sagen, daß es nicht nur die russischsprachige Bevölkerung war. Mehr als ein Drittel der 1000 Festgenommenen waren Esten. Es waren vorwiegend junge Leute, die am Denkmal Wache hielten und dessen »Verlegung« verhindern wollten. Zwölfjährige, 14jährige ... Das Durchschnittsalter liegt der Statistik nach bei 16 Jahren. Sechzehn Jahre – das ist genau die Zeit, die unser Land unabhängig ist. Das zeigt, daß die Aktivisten Jugendliche sind, die in Estland geboren und aufgewachsen sind und die mit der Sowjetunion nichts zu tun haben. Trotzdem setzen sie sich für das Denkmal ein und repräsentieren einen großen Teil der Meinung der estnischen Bevölkerung. Diese Jungs und Mädchen sind in einen unfairen Kampf mit hart vorgehenden Polizeikräften verwickelt worden.

Wie reagiert die Regierung?

Außer den offiziellen Stellungnahmen kann man sagen, daß sich die Regierung momentan verschanzt. Das Parlament wurde in der zweiten Nacht nach den Unruhen mit einem Zaun gesichert und unzugänglich gemacht. Auf dem Platz davor wurden Panzersperren aus Stahlbeton errichtet, um die Zufahrt zu blockieren.

Welche Position nimmt die »Russische Partei Estlands« in diesem Konflikt ein?

Wir reden mit der Bevölkerung, vor allem mit den jungen Leuten. Am Sonntag sind wir auf die Straße gegangen und haben sowohl mit den Jugendlichen als auch mit den Polizeikräften, die nach wie vor überall präsent sind, gesprochen. Unsere Partei hat auf der Ratssitzung eine Ansprache an die Bevölkerung Estlands verfaßt. Wir appellieren, auf jegliche gewaltsame Auseinandersetzungen zu verzichten. Eine weitere Eskalation des Konflikts bedroht die Sicherheit unseres Landes und dessen Bevölkerung. Wir fordern alle öffentlichen und politischen Kräfte Estlands zu einem sofortigen Dialog auf. Außerdem schlagen wir die Bildung einer öffentliche Vereinigung aus Vertretern der estnischen und der russischsprachigen politischen und gesellschaftlichen Eliten für eine gemeinsame Lösung des Problems vor. Heute hängt von unserem Verstand und unserem gemeinsamen Handeln die weitere Zukunft unseres Staates ab.

** Gennadi Afanassjew ist stellvertretender Vorsitzender der Russischen Partei Estlands und Abgeordneter des Stadtrates von Narwa

Aus: junge Welt, 3. Mai 2007



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