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Gedenkverbot in Tallinn

Streit über sowjetisches Ehrenmal dauert an: Estland untersagt Feiern zum Tag des Sieges über den Faschismus. EU fordert Russland auf, gegen Botschaftsdemonstranten vorzugehen

Von Tomasz Konicz *

Die estnische Obrigkeit demonstriert zur Zeit der russischen Minderheit des Landes das europäische Verständnis der Begriffe Menschenrechte, Zivilgesellschaft und Demokratie. Bis zum 11. Mai sind in der gesamten baltischen Republik öffentliche Kundgebungen und Demonstrationen verboten. Zum ersten Mal seit der Befreiung des Landes aus dem Würgegriff des deutschen Faschismus und seiner baltischen Kollaborateure wird es mithin nicht möglich sein, den 9. Mai als Tag des Sieges in Estland öffentlich zu begehen. Neben dem Verbot aller öffentlichen Feiern zum Sieg über den Faschismus wird auch die ehemals hochgelobte Reisefreiheit für alle jugendlichen russischen Bürger ausgesetzt, die in Verdacht stehen, einer »kremlnahen« Organisation anzugehören – sie dürfen bis auf weiteres nicht nach Estland einreisen.

Inzwischen wurden erste Details bekannt über den Umgang der estnischen Sicherheitskräfte mit den über 1100 festgenommenen Demonstranten, die gegen den Abriß des sowjetischen Ehrenmals am Freitag (27. April) im Zentrum Tallinns protestiert hatten. Gegenüber der Nachrichtenagentur Regnum erklärten Freigelassene, stundenlang mit auf den Rücken gefesselten Händen in Frachtdepots des Tallinner Hafens festgehalten worden zu sein, ohne Nahrung oder Wasser zu erhalten und eine Toilette aufsuchen zu dürfen. »Jeder, der aufstand oder es wagte, sich zu beschweren, wurde getreten und mit Schlagstöcken traktiert«, zitierte Regnum einen Demonstranten.

Eine hochrangige Delegation der russischen Duma, die zu Wochenbeginn in Tallinn war, bestätigte am 1. Mai gegenüber der Nachrichtenagentur Itar-Tass die Berichte über Mißhandlungen und sprach von »umfangreichen Verstößen gegen die Menschenrechte«. Der Vizevorsitzende des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten, Nikolai Kowaljow, bestätigte, daß sich unter den im Hafen festgehaltenen und teilweise mißhandelten Demonstranten viele Minderjährige und auch ältere Menschen im Rentenalter befunden hätten. Er rief die Führung in Tallinn zum Rücktritt auf. »Die estnische Regierung hat diese Krise provoziert und ist nicht mit den folgenden Ausschreitungen fertiggeworden«, erklärte Kowaljow. Rußland verlangt nach wie vor, daß das sowjetische Ehrenmal an seinem ursprünglichen Platz im Stadtzentrum wieder aufgestellt wird.

Die estnische Regierung geht inzwischen in die Offensive. Die Lageeinschätzung des Duma-Delegationsleiters Kowaljow bezeichnete ein Sprecher des Außenministeriums als »Propaganda«, die russischen Medien wurden zudem von estnischen Regierungsstellen bezichtigt, »Lügen zu verbreiten«. Das Außenamt legte überdies offiziellen Protest gegen die anhaltenden Demonstrationen russischer Jugendorganisationen vor der Botschaft Estlands in Moskau ein, die als »Psychoterror« bezeichnet wurden. Die estnisch Regierung rief die Europäische Union auf, mit aller Macht in Moskau zu intervenieren. Am Mittwoch schaltete sich die EU-Kommission dementsprechend ein: »Wir teilen die Beunruhigung über die zunehmenden Spannungen um die estnische Botschaft in Moskau und fordern entschlossen von den russischen Behörden, den Verpflichtungen aus der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen zu folgen«, erklärte eine Sprecherin in Brüssel. Über das rücksichtslose Vorgehen der estnischen Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung der tagelangen Proteste verlor die um »diplomatische Konventionen« besorgte EU-Kommission bis dato kein Wort.

Inzwischen haben sich Finnland und Polen eindeutig mit dem estnischen Geschichtsrevisionismus solidarisiert. Der polnische Kulturminister Kazimierz Ujazdowski erklärte sogar, daß seine Regierung bis zum 15. Mai ein Gesetz verabschieden werde, mit dem es leichter fallen werde, »Symbole der kommunistischen Diktatur« aus Polens öffentlichem Raum zu verbannen. Hierzu zählte Ujazdowski auch die Ehrenmale der sowjetischen Soldaten, die Polen aus der brutalen Besatzung durch Nazideutschland befreiten.

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2007


Die neusten Meldungen der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti

Moskauer Oberbürgermeister ruft zum Boykott von Estland auf

MOSKAU, 01. Mai (RIA Novosti). Der Oberbürgermeister von Moskau, Juri Luschkow, hat vorgeschlagen, einen Boykott über Estland zu verhängen. Das sagte er am Montag (30. April) auf einer Kundgebung der Moskauer Gewerkschaftsföderation. „Die Regierung von Moskau und die Moskauer Stadtduma schlagen vor, Estland für all jene Handlungen zu boykottieren, die seine Behörden gegenüber dem Denkmal für den sowjetischen Befreier und den Gräbern unserer Soldaten unternommen haben“, unterstrich Luschkow. Wie er sagte, zeigte die estnische Regierung „ihr negativstes, man kann sogar sagen, faschistisches Gesicht“. „Wir müssen die estnischen Waren boykottieren. Wir müssen den Unternehmern sagen: Hört auf, mit Estland zusammenzuwirken“, betonte der Oberbürgermeister.

Die estnischen Behörden demontierten am 27. April das Denkmal für den sowjetischen Soldaten. Die Handlungen der Behörden provozierten Massenunruhen. Seit dem 27. April nahm die Polizei insgesamt mehr als 1000 Menschen fest. Während der Unruhen kam ein russischer Bürger ums Leben. Weitere Dutzende Menschen wurden verletzt. Am Vortag wurde das Denkmal, das zuvor im Stadtkern von Tallinn stand, auf dem Soldatenfriedhof der Stadt aufgestellt.
Am Denkmal für den sowjetischen Befreier wurden 1947 die sterblichen Überreste von 13 sowjetischen Soldaten beigesetzt, die bei der Befreiung Estlands von den faschistischen deutschen Truppen im Herbst 1944 gefallen waren. Insgesamt befinden sich in Estland etwa 450 Soldatengräber aus den Zeiten des Zweiten Weltkrieges, in denen 50 000 sowjetische Soldaten ruhen.


Denkmal-Streit: Historische Mißverständnisse zwischen Moskau und Tallinn - "Newsweek"

MOSKAU, 02. Mai (RIA Novosti). Die estnischen Behörden sind in den vergangenen Tagen bei der Durchsetzung eines nicht gerade offensichtlichen Ziels unangemessen brutal gegen die Verteidiger des sowjetischen Soldatendenkmals vorgegangen, schreibt die russische Ausgabe des Magazins „Newsweek“. Das Abtragen des sowjetischen Denkmals wurde jedoch nun mal als ein wichtiges Staatsanliegen betrachtet.

Die gegenseitige Wut war durch eine eindeutige Vermischung von historischen Begriffen verursacht worden. Sowohl Russland als auch Estland (und Osteuropa insgesamt) setzen stur ein Gleichzeichen zwischen dem Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg und dem Beginn der Sowjetisierung der Länder, die die Rote Armee von den Nazis befreit hat. Indessen fallen diese beiden Ereignisse weder zeitlich zusammen, noch sind sie in ihrem historischen Wesen identisch. Der prosowjetische Machtwechsel im Baltikum erfolgte lange vor dem Tag des Sieges und selbst vor dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges, während dieser Prozess im restlichen Osteuropa lange nach der Einnahme Berlins vor sich ging.

Für Russland ist das Problem der Sowjetisierung Osteuropas bei weitem nicht so prinzipiell wie die Anerkennung dieses Landes als Sieger über den Faschismus. Ein Kompromiss könnte helfen: Die Seiten müssen anerkennen, dass der Tag des Sieges und die Siegessoldaten von den kommunistischen Regimes zu trennen sind. „Hätten wir uns (für die Sowjetisierung) entschuldigt, so hätte das unsere Beziehungen mit dem Baltikum vereinfacht, und die Probleme mit den Denkmälern hätte es nicht gegeben“, meint der Historiker Leonid Gibianski.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hatte im vergangenen Jahr die „kommunistischen Verbrechen“ verurteilt. „Die UdSSR hat die demokratischen Traditionen zerstört, die in Europa jahrhundertelang existiert hatten“, betont PACE-Abgeordneter Göran Lindblad, Initiator der Resolution. Nach seiner Ansicht könnte aber Russland sein Image verbessern, wenn es sich bei den Ländern Osteuropas entschuldigen würde.

Diese Meinung teilen allerdings bei weitem nicht alle. „Selbst wenn wir uns vor Osteuropa entschuldigen würden, würde das nichts ändern“, stellt Tatjana Wolokitina, Leiterin des Zentrums für Studien des Stalinismus in Osteuropa des Slawistik-Instituts der Russischen Wissenschaftsakademie, fest. „Dies wäre eher ein Weg, die eigene Schwäche zu zeigen.“


Denkmalstreit: Jugendorganisationen stören Pressekonferenz mit Estlands Botschafterin

MOSKAU, 02. Mai (RIA Novosti). Etwa 20 Aktivisten von Jugendorganisationen sind am Mittwoch ins Pressezentrum der Wochenschrift „Argumenty i Fakty“ eingedrungen, wo um 12.00 Uhr Moskauer Zeit eine Pressekonferenz der estnischen Botschafterin Marina Kaljurand beginnen sollte.

Im Gebäude befinden sich Aktivisten der Bewegungen „Die Unseren“ und „Junges Russland“, der überregionalen gesellschaftlichen Vereinigung Russlands und einer Reihe anderer Bewegungen.

Wie RIA Novosti vor Ort berichtet, wurde dabei im Gebäude Pfeffergas eingesetzt. Einem Anwesenden, der keine Luft mehr bekam, musste medizinisch geholfen werden. Die Jugendlichen skandieren: „Der Faschismus geht nicht durch!“. Laut den Veranstaltern wird die Pressekonferenz solange nicht beginnen, bis die Eindringlinge das Haus verlassen haben. Mitglieder einiger Jugendorganisationen haben das Tor vor dem Eingang zum Pressezentrum abgesperrt. Die Protestierenden sind zumeist Teilnehmer der Bewegung „Die Unseren“. Die anderen gehörten den Organisationen „Neue Menschen“ und „Die Einheimischen“.

„Wir werden die estnische Botschafterin nicht durchlassen“, sagte ein Aktivist der Bewegung „Die Unseren“. Ihm zufolge wurde diese Aktion im Voraus, wenn auch kurzzeitig organisiert. Wie der Vertreter der Organisation „Junges Russland“, Maxim Mischtschenko, sagte, wollen die Teilnehmer der Aktion die estnischen Behörden dazu bringen, dass diese sich für die Verlegung des Denkmals des Befreiungssoldaten aus dem Stadtzentrum von Tallinn auf den Militärfriedhof entschuldigen. Die russischen Jugendorganisationen protestieren seit mehreren Tagen vor der estnischen Botschaft in Moskau.

Die Verlegung des „Bronzesoldaten“ vom Hügel Tonismägi in Tallinn hatte in der vergangenen Woche Massenunruhen in der estnischen Hauptstadt ausgelöst. Die Gegner der Verlegung wurden von der Polizei auseinander gejagt. Hunderte Personen wurden festgenommen.


Russlands Wirtschaftssanktionen gegen Estland würden zum Eigentor werden - „Kommersant“

MOSKAU, 02. Mai (RIA Novosti). Bei den Sanktionen, die Russland Estland im Streit um das sowjetische Soldatendenkmal angedroht hat, geht es nicht nur darum, was Tallinn dadurch verlieren könne, sondern auch wie viel Moskau bereit ist, dafür zu zahlen, schreibt die Tageszeitung „Kommersant“ am Mittwoch (2. April).
Nach Angaben der estnischen Statistikbehörde gehörte Russland im vergangenen Jahr zu den fünf größten Importeuren und war nach Finnland der zweitwichtigste Exporteur für Estland (im ersten Quartal 2007 lag Russland sogar auf Platz eins).

Russland verdient in Estland gar nicht schlecht: Der Unterschied zwischen dem estnischen Export nach Russland und dem russischen Export nach Estland belief sich auf umgerechnet knapp eine Milliarde Dollar. Sollte Russland also Estland mit einer Einschränkung des Warenexports bestrafen wollen, so würden die russischen Exporteure dafür zahlen müssen. Der zweite Weg wäre eine Einschränkung des Imports aus Estland.

Wie eine Analyse der Außenhandelsstatistik Estlands zeigt, wäre der erste Weg effektiver. Drei Viertel des russischen Exports machen Benzin und Heizöl aus, deren Preise in den letzten Jahren gewachsen sind. Über die estnischen Häfen befördert Russland 66 Prozent des eigenen Benzin- und 53 Prozent des Heizölexports sowie fünf Prozent des gesamten Dieseltreibstoffexports (vorwiegend in die EU-Länder).
Viel geringer hängen Russland und Estland von der Metallausfuhr über die baltischen Hochseehäfen ab. Dennoch würden die Wirtschaften beider Länder für einen Verzicht auf den Transport von Treibstoffen und Metall über Estland zahlen müssen.

Ein Verzicht Russlands auf den Kauf von Waren aus Estland (es handelt sich um einige Dutzend Millionen Dollar im Jahr) würde lediglich zu einem Preisrückgang für die estnischen Lebensmittel führen. Mit einer Einschränkung der Einfuhr estnischer Tankwagen würde aber Russland nicht nur Estland, sondern auch den russischen Bahnmonopolisten RZD bestrafen.


Estnische Botschafterin: Verlegung von Soldatendenkmal wegen Krawallen beschleunigt

MOSKAU, 02. Mai (RIA Novosti). Die schnelle Verlegung des sowjetischen Soldatendenkmals ist von den estnischen Behörden wegen der Unruhen in Tallinn beschlossen worden. Das sagte die estnische Botschafterin Marina Kaljurand am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Moskau. Auch wenn die Ausgrabungsarbeiten Anfang April begonnen hätten, das Denkmal sollte bis zum 9. Mai an der alten Stelle bleiben, damit die Menschen den gewohnten Ort hätten besuchen können. „Wegen der Ereignisse in Tallinn wurde beschlossen, das Denkmal möglichst schnell zu verlegen“, so die Botschafterin.

In der Nacht zum 27. April wurde das Denkmal für den Befreiungssoldaten auf Beschluss der estnischen Behörden vom Hügel Tönismägi abtransportiert. Die Gegner dieser Entscheidung wurden von der Polizei auseinander gejagt. Der „Bronzesoldat“ ist jetzt auf dem Tallinner Kriegsfriedhof aufgestellt. Am selben Ort sollen die sterblichen Reste der Soldaten umgebettet werden, die bei der Grabfreilegung auf dem Hügel Tönismägi gefunden wurden.

Marina Kaljurand bemerkte, das Denkmal sei noch unvollständig. „Dort ist nur die Soldatenfigur ohne Mauer dahinter aufgestellt. Diese Mauer wird neu gebaut“, versicherte die Botschafterin. Sie wies die Information zurück, der zufolge das Denkmal in mehrere Teile zerlegt worden sei. Die Botschafterin verwies darauf, dass es in Estland mehr als 200 bewachte Soldatengräber aus dem Zweiten Weltkrieg gebe.


Estlands Präsident fordert Beendigung des Streits um sowjetisches Soldatendenkmal

TALLINN, 02. Mai (RIA Novosti). Estlands Präsident Toomas Hendrik Ilves hat das Volk aufgerufen, den Streit um das sowjetische Kriegsdenkmal in Tallinn zu beenden. „Das Denkmal und die sterblichen Überreste von sowjetischen Soldaten werden ihre Ruhe auf einem Friedhof finden. Jetzt muss man damit aufhören, das Andenken an die Kriegsopfer zu politischen und anderen unpassenden Zwecken zu nutzen“, sagte er.

Das Denkmal für den sowjetischen Befreier im Stadtkern von Tallinn wurde am 27. April demontiert. Das Vorgehen der Behörden provozierte Massenunruhen, bei denen die Polizei insgesamt mehr als 1000 Menschen festnahm. Während der Unruhen kam ein russischer Bürger ums Leben. Dutzende Menschen wurden verletzt.

Am 30. April wurde das Denkmal für den sowjetischen Befreier auf dem Soldatenfriedhof in Tallinn aufgestellt. Seine feierliche Enthüllung findet am 8. Mai statt. An diesem Tag feiert Europa die Befreiung vom Faschismus.

Denkmal-Streit: Familien der estnischen Diplomaten verlassen Moskau

TALLINN, 02. Mai (RIA Novosti). Das estnische Außenministerium evakuiert aus Moskau die Familien der Mitarbeiter der estnischen Botschaft. Dies teilte Ministeriumssprecherin Ehtel Halliste der RIA Novosti mit. "Aus Moskau wurden die Familien mit Kindern nach Tallinn gebracht. Die anderen Mitarbeiter der Botschaft verbleiben in Moskau", sagte sie.

Russische Jugendorganisationen protestieren seit Tagen vor der estnischen Botschaft in Moskau gegen den Abriss des sowjetischen Kriegsdenkmals im Zentrum von Tallinn. Die estnischen Behörden hatten das Denkmal am 27. April abgetragen und mit der Umbettung der am Denkmal begrabenen sowjetischen Soldaten begonnen, die im Zweiten Weltkrieg bei der Befreiung Estlands von der deutschen Wehrmacht gefallen sind. Tausende Menschen gingen in Tallinn auf die Straße, um gegen das Vorgehen der Behörden zu protestieren. Die Sicherheitskräfte setzten gegen die Demonstranten Gewalt ein.

In den Folgetagen kam es in der estnischen Hauptstadt Tallinn zu schweren Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten. Bei den Massenkrawallen wurde ein Mensch getötet, Dutzende wurden verletzt. Die Polizei nahm mehr als eintausend Demonstranten fest. Am 30. April wurde der Bronzesoldat auf dem Tallinner Kriegsfriedhof aufgestellt.


Denkmalstreit: Estnischer Premier rechtfertigt Verlegung des Bronzesoldaten

TALLINN, 02. Mai (RIA Novosti). Die Verlegung des sowjetischen Kriegsdenkmals aus dem Zentrum von Tallinn war aus der Sicht der Staatssicherheit der einzige mögliche Schritt, um die politischen Provokationen zu beenden. Das sagte der estnische Ministerpräsident Andrus Ansip. Wäre das Denkmal nicht verlegt worden, hätte das zu Ereignissen führen können, im Vergleich zu denen die jüngsten Massenkrawalle in Tallinn harmlos seien, sagte Ansip am Mittwoch (2. Mai) im estnischen Parlament. "Für einige symbolisierte das Monument im Zentrum der Stadt Okkupation und Deportation, für andere Gedenken an die Opfer und für dritte Sehnsucht nach Totalitarismus und trug deshalb nicht zur Einigkeit der estnischen Gesellschaft bei.

Ursprünglich sollte das Denkmal nach der Exhumierung der an ihm begrabenen Soldaten feierlich verlegt werden, teilte Ansip mit. Doch angesichts der Pogrome vom 26. April musste die Regierung auf ihrer Sondersitzung eine andere Entscheidung treffen.

"Das Denkmal wurde auf dem Friedhof aufgestellt, wo er an die Kriegsopfer erinnern wird. Dort ist es kein Symbol mehr für die Deportation und Ermordung von 100 000 Esten", sagte Ansip.

Die estnischen Behörden hatten am 27. April den "Bronzesoldaten" auf dem Tönismägi-Hügel im Zentrum von Tallinn abgetragen und mit der Umbettung der am Denkmal begrabenen sowjetischen Soldaten begonnen, die im Zweiten Weltkrieg bei der Befreiung Estlands von der deutschen Wehrmacht gefallen sind.

Tausende Menschen gingen in Tallinn auf die Straße, um gegen das Vorgehen der Behörden zu protestieren. Die Sicherheitskräfte setzten gegen die Demonstranten Gewalt ein. In den Folgetagen kam es in der estnischen Hauptstadt Tallinn zu schweren Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten. Bei den Massenkrawallen wurde ein Mensch getötet, Dutzende wurden verletzt. Die Polizei nahm mehr als eintausend Demonstranten fest. Am 30. April wurde der Bronzesoldat auf dem Tallinner Kriegsfriedhof aufgestellt. Dorthin sollen auch die Soldatengräber verlegt werden.

Estland: Hacker legen Internetseite von Zeitung Postimees lahm

TALLINN, 02. Mai (RIA Novosti). In der Nacht zum Mittwoch ist die Online-Ausgabe der führenden estnischen Zeitung Postimees von einer Spam-Flut überrollt worden. Wie das Blatt berichtete, enthielten die Mails Angriffe auf Premierminister Andrus Ansip und forderten seinen Rücktritt. Die estnische und die russischsprachige Versin wurden mit Tausenden von Kommentaren aus aller Welt überschwemmt, die auf Russisch verfasst worden sind. Die Techniker konnten die Rubrik jedoch zeitweilig für den Zugang sperren und unzulässige Stellungnahmen löschen. Die Redaktion musste sich allerdings bei den Usern auch dafür entschuldigen, dass durchaus korrekte Zuschriften der „Zensurschere“ zum Opfer fielen.

Postimees teilte mit, dass die Rubrik Lesermeinungen seit den Morgenstunden wieder zugänglich ist. Hackerattacken auf Internetseiten estnischer Regierungsstellen und anderer Webseiten des Landes hatten nach dem Beschluss eingesetzt, die am sowjetischen Kriegsdenkmal begrabenen Soldaten umzubetten.

Russland hatte Estland mehrmals aufgefordert, das Denkmal nicht anzurühren. Dennoch wurde es in der Nacht zum 27. April auf Regierungsgeheiß abgerissen. Die Verteidiger des Bronzesoldaten sind von der Polizei mit Tränengas und Leuchtraketen auseinander getrieben worden. Hunderte wurden in Gewahrsam genommen. Bei den Ausschreitungen ist ein russischer Staatsangehöriger ums Leben gekommen. In den vergangenen Tagen sind die Internetseiten des estnischen Präsidenten, des Außenministeriums, des Parlaments und anderer Ämter zeitweilig blockiert worden. Auch die Internetpräsenz der Regierung war nur begrenzt zugänglich.


EU-Kommission über Ereignisse vor estnischer Botschaft in Russland besorgt

BRÜSSEL, 02. Mai (RIA Novosti). Die EU-Kommission ist über die heutigen Ereignisse vor der estnischen Botschaft in Russland besorgt. Das sagte der offizielle Sprecher der EU-Exekutive, Johannes Laitenberger, am Mittwoch in einem Pressegespräch. In diesem Zusammenhang forderte er von den russischen Behörden die Erfüllung ihrer Verpflichtungen im Rahmen der Wiener Diplomaten-Konvention und eine Sicherheitsgarantie für die estnische diplomatische Vertretung. „Die EU-Kommission ruft die russische Führung zur Lösung des aktuellen Problems mit Estland durch einen Dialog auf“, ergänzte Laitenberger.

Vor der estnischen Botschaft in Moskau findet seit sechs Tagen eine große Kundgebung der Aktivisten von mehreren russischen Jugendorganisationen statt, die gegen den Abriss des Denkmals für die sowjetischen Befreiersoldaten in Tallinn protestieren. Das estnische Außenamt hatte seinerseits in einem Kommentar zum heutigen Versuch der Aktivisten der Bewegung „Naschi“ („Die Unsrigen“), eine Pressekonferenz der estnische Botschafterin Marina Kaljurand zu verhindern, erklärt, die russische Seite lasse eine grobe Verletzung der Wiener Konvention zu.

Das Außenamt verwies darauf, dass die estnische Botschafterin in der Redaktion der Zeitung „Argumenty i Fakty“ („Argumente und Fakten“) von Anhängern der erwähnten Organisationen mit Gas attackiert worden sei. „Wütende junge Menschen haben außerdem die estnische Flagge vom Wagen der Botschafterin gerissen. Physische Handlungen gegenüber diplomatischen Vertretern eines anderen Staates sind unerhört und inakzeptabel“, so das Außenministerium. Es seien „unverzügliche Aktivitäten seitens der internationalen Völkergemeinschaft erforderlich“. „Der Zwischenfall ist ein Beweis dafür, dass die russischen Behörden die Prinzipien der Wiener Diplomaten-Konvention grob verletzen“, so der Kommentar.

Außenministerium: Russland erfüllt Wiener Diplomaten-Konvention

MOSKAU, 02. Mai (RIA Novosti). Russland weist die Behauptungen Estlands und der EU-Kommission zurück, es hätte die Wiener Konvention über die Unantastbarkeit der ausländischen diplomatischen Vertretungen während der Protestaktionen vor der estnischen Botschaft in Moskau verletzt. „Die russische Seite erfüllt voll und ganz ihre Pflichten im Sinne der Wiener Konvention von 1961“, sagte der offizielle Sprecher des Auswärtigen Amtes, Michail Kamynin, am Mittwoch RIA Novosti.

Aktivisten von russischen Jugendorganisationen protestieren seit sechs Tagen vor der estnischen Botschaft in Moskau gegen den Abriss des Monuments für die sowjetischen Befreiersoldaten in Tallinn. Kamynin informierte, dass zur estnischen Botschaft in Moskau zusätzliche Polizeikräfte verlegt worden seien, und versicherte, dass sich die Situation vor der diplomatischen Vertretung „im Rahmen des Gesetzes“ entwickele. „Straftäter werden zur Verantwortung gezogen“, versicherte er. „Die Schuld für die Ereignisse um die Botschaft Estlands liegt aber voll und ganz auf der estnischen Seite, die sich für die Verlegung des Denkmals entschieden hat.“

Das estnische Außenministerium hatte heute (2.Mai) der russischen Seite eine „grobe Verletzung der Prinzipien der Wiener Konvention“ vorgeworfen. Ein Sprecher der EU-Kommission verlangte seinerseits von Moskau, seine Pflichten in Übereinstimmung mit der Wiener Diplomaten-Konvention zu erfüllen.

Russische Abgeordnete werden über Ergebnisse ihrer Estland-Reise am 10. Mai berichten

MOSKAU, 02. Mai (RIA Novosti). Die Abgeordneten der Staatsduma, die in den jüngsten Tagen die Situation in Estland nach dem Abriss des Bronzesoldaten beobachtet haben, werden am 10. Mai ihren diesbezüglichen Bericht geben. Das teilte der Vorsitzende des Dumaausschusses für die Angelegenheiten der Veteranen, Nikolai Kowaljow, der an der Spitze der Delegation gestanden hatte, am Mittwoch RIA Novosti mit.

In der vergangenen Woche war es in Estland zu Massenunruhen gekommen, nachdem das Monument für die sowjetischen Befreiersoldaten in der Stadtmitte von Tallinn in der Nacht zum 27. April abgetragen worden war. Die Polizei wandte gegen die Protestierenden Tränengas, Lärm- und Lichtgranaten an. Mehrere Hunderte Menschen wurden festgenommen. Ein Teilnehmer der Kundgebung, Bürger Russlands, kam dabei ums Leben.

Nach Einschätzung der russischen Parlamentarier hätte der 20-jährige Dmitri Ganin gerettet werden können, wenn er rechtzeitig medizinische Hilfe erhalten hätte. Kowaljow unterstrich, dass der Verletzte im Laufe von mehr als eineinhalb Stunden keine Hilfe erhalten habe, obwohl alle Polizeibeamten, die bei der Zerstreuung der Unruhen zum Einsatz kamen, besondere medizinische Ausrüstung bei sich hatten. Kowaljow zufolge hat die estnische Seite versichert, dass die Umstände des Todes von Ganin gründlich untersucht werden. Ferner informierte der Abgeordnete, dass die anderen Delegationsmitglieder und er sich in Tallinn mit den festgenommenen Teilnehmern der Protestaktion getroffen hätten. Diese Menschen werden nach seinen Worten „im Terminal des Tallinner Hafens unter absolut unmenschlichen Bedingungen gehalten.“

Während der Massenunruhen seien etwa 1200 Menschen, sowohl russischsprachige Einwohner als auch estnische Bürger, festgenommen worden, fuhr Kowaljow fort. Derzeit befänden sich noch 51 Teilnehmer der Aktion in Haft. Dennoch hätten die estnischen Behörden den russischen Abgeordneten ein Treffen mit dem ebenfalls festgenommenen Leiter der Organisation „Nachtwache“, Dmitri Linter, untersagt, bedauerte Kowaljow. Er schätzte allerdings die Übergabe von Videoaufnahmen der Massenunruhen in Tallinn an die russische Delegation hoch ein. „Wir schätzen diesen Schritt als einen Akt des guten Willens der estnischen Seite, als ihre Kooperationsbereitschaft ein, damit objektive Informationen erhalten werden können“, so der Parlamentarier.
Bezüglich möglicher Wirtschaftssanktionen gegen Estland sagte Kowaljow, sie seien kaum zweckmäßig, denn dadurch könnten Interessen der russischsprachigen Einwohner dieses Landes betroffen werden.


Merkel zum Denkmalskandal in Estland: Russland muss Sicherheit estnischer Diplomaten wahren

TALLINN, 02. Mai (RIA Novosti). Bundeskanzlerin Angela Merkel hat am Mittwoch in einem Telefongespräch mit dem estnischen Premier Andrus Ansip gesagt, dass Deutschland alles Mögliche tun wird, damit Russland die internationalen diplomatischen Pflichten wahrt. Das teilte der Pressedienst der estnischen Regierung mit. Russland müsse verstehen, dass es seine Pflicht sei, die Sicherheit der Botschafterin und der Diplomaten zu garantieren, sagte Merkel.

Die Kanzlerin war über die Ereignisse in Moskau unterrichtet und sagte, dass Deutschland als EU-Vorsitzender alles tun werde, damit Russland den internationalen diplomatischen Pflichten nachkomme. So hieß es vom Pressedienst.

Ministerpräsident Ansip beschrieb gegenüber Angela Merkel die Situation in den letzten Tagen in Estland, die Ereignisse um die estnische Botschaft in Russland und den Besuch der Delegation der russischen Staatsduma in der estnischen Hauptstadt Tallinn.

Mitglieder russischer Jugendorganisationen demonstrieren seit mehreren Tagen an der estnischen Botschaft in Moskau gegen die Entscheidung der estnischen Behörden, das Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten aus dem Zentrum von Tallinn zu entfernen. Der Leiter des Pressedienstes des estnischen Außenministeriums, Ehtel Halliste, teilte mit, dass die Familien der Mitarbeiter der estnischen Botschaft aus Moskau nach Tallinn evakuiert würden.




"Vorwiegend junge Leute hielten am sowjetischen Ehrenmal Wache"

Russen fordern estnische Regierung zum Dialog auf. Ein Gespräch mit Gennadi Afanassjew

Warum eskalierte in den vergangenen Tagen die Situation rund um das sowjetische Ehrenmal in Tallinn?

Die Eskalation ist vor allem dem Vorgehen der Polizei geschuldet. Das, was in der Nacht von Donnerstag zu Freitag in der vergangenen Woche in Tallinn passiert ist, war nicht nur eine Folge der Entscheidung der estischen Regierung, sondern auch eines gravierenden Fehlers der Sicherheitskräfte. Die vorerst friedlich versammelten Demonstranten wurden mit Gewalt vom Denkmal weg in die Stadtmitte gedrängt. In den kleinen Gassen Tallinns lösten sich die Emotionen und die gestaute Wut und schlugen in wilde Straßenschlachten und Pogrome um. Zu den Demonstranten gesellten sich dann auch andere Jugendliche, die aus Spaß anfingen, Scheiben einzuschlagen und Warenhäuser zu plündern. So etwas hätte verhindert werden können, wenn die Regierung vorher einen Dialog mit den Menschen eingegangen wäre. Die estnische Regierung hat heute bemerkt, daß es in ihrem Land eine russische Bevölkerung gibt.

Wer waren diese Rebellierenden?

Nach offizieller Statistik kann man heute genau sagen, daß es nicht nur die russischsprachige Bevölkerung war. Mehr als ein Drittel der 1000 Festgenommenen waren Esten. Es waren vorwiegend junge Leute, die am Denkmal Wache hielten und dessen »Verlegung« verhindern wollten. Zwölfjährige, 14jährige ... Das Durchschnittsalter liegt der Statistik nach bei 16 Jahren. Sechzehn Jahre – das ist genau die Zeit, die unser Land unabhängig ist. Das zeigt, daß die Aktivisten Jugendliche sind, die in Estland geboren und aufgewachsen sind und die mit der Sowjetunion nichts zu tun haben. Trotzdem setzen sie sich für das Denkmal ein und repräsentieren einen großen Teil der Meinung der estnischen Bevölkerung. Diese Jungs und Mädchen sind in einen unfairen Kampf mit hart vorgehenden Polizeikräften verwickelt worden.

Wie reagiert die Regierung?

Außer den offiziellen Stellungnahmen kann man sagen, daß sich die Regierung momentan verschanzt. Das Parlament wurde in der zweiten Nacht nach den Unruhen mit einem Zaun gesichert und unzugänglich gemacht. Auf dem Platz davor wurden Panzersperren aus Stahlbeton errichtet, um die Zufahrt zu blockieren.

Welche Position nimmt die »Russische Partei Estlands« in diesem Konflikt ein?

Wir reden mit der Bevölkerung, vor allem mit den jungen Leuten. Am Sonntag sind wir auf die Straße gegangen und haben sowohl mit den Jugendlichen als auch mit den Polizeikräften, die nach wie vor überall präsent sind, gesprochen. Unsere Partei hat auf der Ratssitzung eine Ansprache an die Bevölkerung Estlands verfaßt. Wir appellieren, auf jegliche gewaltsame Auseinandersetzungen zu verzichten. Eine weitere Eskalation des Konflikts bedroht die Sicherheit unseres Landes und dessen Bevölkerung. Wir fordern alle öffentlichen und politischen Kräfte Estlands zu einem sofortigen Dialog auf. Außerdem schlagen wir die Bildung einer öffentliche Vereinigung aus Vertretern der estnischen und der russischsprachigen politischen und gesellschaftlichen Eliten für eine gemeinsame Lösung des Problems vor. Heute hängt von unserem Verstand und unserem gemeinsamen Handeln die weitere Zukunft unseres Staates ab.

* Gennadi Afanassjew ist stellvertretender Vorsitzender der Russischen Partei Estlands und Abgeordneter des Stadtrates von Narwa

Interview: Wassily Geist

* Aus: junge Welt, 3. Mai 2007


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