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"Der Weg zur Ernährungssouveränität in El Salvador ist weit"

Víctor Sánchez über die Erfolge und die Mühen der Armutsbekämpfung auf dem Land

Victor Sánchez ist von Beruf Agronom und erlebt seit mehr als 20 Jahren den Kampf um die Verbesserung der Ernährungs- und Lebenssituation von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in seinem Heimatland aus nächster Nähe. Als landwirtschaftlicher Koordinator für die Organisation für Kommunalentwicklung PROCOMES im Landkreis Berlin im Osten El Salvadors ist er seit 2004 im Einsatz. Derzeit ist er in Deutschland auf Informationstour. Über Armut und Hunger und mögliche Gegenstrategien sprach mit ihm für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Ling.



ND: In Lateinamerika und der Karibik hungern derzeit 52 Millionen Menschen. Das sind 6 Millionen mehr als 2008. Wächst auch in El Salvador der Hunger?

Sánchez: El Salvador ist leider keine Ausnahme. Laut der letzten Regierungsstatistik gibt es 100 arme Muncipios (Gemeinden), in denen die Familien, die fünf bis acht Mitglieder haben, mit einem Einkommen von weniger als einem US-Dollar pro Tag auskommen müssen. Die Armut in El Salvador spielt sich vor allem auf dem Land ab. Dort hängen die Menschen stark vom Anbau von Mais und Bohnen ab. Die Produktionskosten sind stark gestiegen, für die Pestizide, den chemischen Dünger. In den letzten 20 Jahren gab es keine Programme, die die Landwirtschaft förderten. El Salvador hat sich in dieser Zeit mehr und mehr zum Land des Konsums statt der Produktion entwickelt, was die Importabhängigkeit erhöht hat.

Das Freihandelsabkommen CAFTA, das El Salvador seit März 2006 unter anderem mit den USA zusammenbindet, setzt El Salvadors Landwirtschaft noch mehr unter Druck, oder?

Sicher. Das Freihandelsabkommen hat nicht zu einer besseren Wettbewerbsfähigkeit unserer Landwirtschaft beigetragen. Dafür bedürfte es besserer Technologie, mehr Investitionen und staatlicher Unterstützung. Stattdessen sorgt die Liberalisierung dafür, dass einheimische Produzenten vom Markt verdrängt werden. Beim Mais verdrängen die Importe aus den USA die einheimische Ware. Während wir den Zentner Mais für 10 US-Dollar verkaufen, verkaufen ihn die US-Produzenten für 5 US-Dollar. Da haben unsere Kleinbauern keine Chance. Der Freihandel hat den meisten von ihnen geschadet.

Ein anderes Problem, was die Armut verschärft, ist der Umstand, dass viele kleinere und mittlere Produzenten nur Böden besitzen, die sich schlecht für Mais- und Bohnenproduktion eignen und eher für Waldwirtschaft infrage kommen. Das fruchtbare Land ist in El Salvador eng begrenzt und wird voll ausgeschöpft. Dieser Umstand und die steigenden Produktionskosten haben generell die Armut und speziell die Unterernährung der Kinder auf dem Land erhöht. El Salvador ist von Ernährungssouveränität weit entfernt.

Wie würden Sie Ernährungssouveränität definieren?

Für uns hat Ernährungssouveränität sehr viel mit der Qualität und der Quantität der einer Familie zur Verfügung stehenden Lebensmittel zu tun. Qualitativ heißt das zum Beispiel chemikalienfrei und quantitativ, dass die notwendige Kalorienmenge gedeckt sein muss. Und eine gewisse Ernährungsvielfalt gehört dazu: Immer nur Mais und Bohnen reicht nicht: Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und ein wenig Fleisch sollten die Ernährungspalette ergänzen. Und dazu gehört, dass ein Land seine Lebensmittel selbst produziert – ein Land, das das nicht macht, ist nicht souverän.

Wie arbeiten sie bei PROCOMES am Ausbau der Ernährungssouveränität?

Wir haben bei PROCOMES vier Programme. Wir arbeiten an der lokalen Entwicklung von Beziehungen zu den Gemeinden und den Rathäusern, um die Projekte langfristig zu verankern. Es gibt ein Programm zur Entwicklung der Umwelt, ein Programm zum Ausbau der Ernährungssouveränität und ein Programm zur Unterstützung von Kleinunternehmern mittels Mikrokrediten. Das ist auch für Mais- und Bohnenproduzenten offen. Wir halten auch einen würdigen Wohnraum für wichtig, mit Strom und Wasseranschluss. PROCOMES ist daran gelegen, Synergien zwischen den einzelnen Programmen zu erzeugen, zum Beispiel durch Mikrokredite für Kleinbauern, die damit die Ernährungssouveränität verbessern helfen. Es ist ein integrativer Ansatz.

Welche Erfolge haben die gemeinsamen Programme bisher zu verzeichnen?

Im Bereich des produktiven Sektors haben wir seit fünf Jahren gute Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit unserem deutschen Partner INKOTA: Rund 120 kleinbäuerliche Familien werden im Landkreis Berlin unterstützt, den Nahrungsmangel zu überwinden. Sie bekommen Hühner für den Aufbau einer kleinen Hühnerhaltung, bestellen Obst- und Gemüseparzellen und legen Saatgutbänke und Baumschulen an. Dadurch können sie sowohl ihre Einnahmen als auch ihre Ernährung verbessern.

Und worin liegen die großen Herausforderungen?

Eine große Herausforderung ist sicher, die Landflucht zu stoppen. Eine Studie von vor fünf Jahren belegte, dass sechs von zehn Jugendlichen in der Region Berlin das Land verließen. Wir legen bei unseren Programmen großen Wert darauf, die Jugendlichen mit einzubeziehen und ihnen Perspektiven vor Ort zu verschaffen. Es gibt viel Partizipationsmöglichkeiten, es gibt ein Jugendzentrum mit Internet und Computerkursen. Das zeigt erste positive Wirkungen. Aber es gibt auf allen Ebenen noch viel zu tun.

* Aus: Neues Deutschland, 6. Oktober 2009


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