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"Botschaften anderer Staaten sind tabu"

Julian Assange muß sich auf langes Exil in der Vertretung Ecuadors in London einrichten. Ein Gespräch mit Norman Paech


Wikileaks-Gründer Julian Assange hat sich in London in die ecuadorianische Botschaft gerettet, um einer Ausweisung nach Schweden und anschließend möglicherweise in die USA zuvorzukommen. Muß er über Jahre hinaus dort bleiben, um nicht verhaftet zu werden?

Das hängt im wesentlichen davon ab, ob und wann ihn die britische Regierung ausreisen läßt. Es gibt in der Geschichte der Diplomatie ähnliche Fälle – der ungarische Kardinal József Mindszenty z.B. hat 15 Jahre in der US-Botschaft in Budapest verbracht.

Großbritannien hatte gedroht, die Botschaft zu stürmen, um Assange zu verhaften. Wie kommt die Regierung dazu, so leichtfertig diplomatische Spielregeln in Frage zu stellen?

Sie hat offensichtlich schnell eingesehen, daß sie mit dieser ungewöhnlichen Äußerung zu weit gegangen ist. Ich vermute, daß diese Entgleisung dem Druck der USA geschuldet ist, die Assange mit dem Umweg über Schweden vor Gericht stellen wollen. Eine solche Drohung ist völlig unakzeptabel – sie widerspricht sowohl dem Völker- als auch dem Diplomatenrecht.

Theaterdonner also?

Auf jeden Fall. Botschaften anderer Staaten sind absolut tabu für Sicherheitsorgane und andere Behörden des Gastlandes.

Den USA würde man aber doch zutrauen, sich hemdsärmelig über internationales Recht hinwegzusetzen …

Nicht, was die offene Verletzung diplomatischer Regeln angeht. Wenn sie die mißachteten, würden sie einen Sturm der Empörung aller Gesandschaften und Botschaften auf sich ziehen. Denn das wäre nicht nur eine Aggression gegen einen einzelnen Staat, sondern zugleich gegen das Völkerrecht, das von allen UN-Staaten geschützt wird.

Die USA haben zwar keine Hemmungen, Menschen zu entführen – sie kidnappten z.B. 1989 den ehemaligen Präsidenten von Panama, Manuel Noriega, und ein Jahr später den mexikanischen Arzt Dr. Machain. Das Eindringen in eine Botschaft wäre aber auch für die USA ein ausgesprochen heikles Unternehmen.

Welche Möglichkeiten gibt es für Assange? Kann man ihn aus der Botschaft herausschmuggeln?

Das würden die Briten bestimmt zu verhindern wissen. Er kann die Botschaft zwar verlassen – aber nur in einem ihrer Dienstfahrzeuge in Begleitung eines Diplomaten. Wenn er aussteigen würde, um nur einen Kaffee zu trinken, könnte er sofort festgenommen werden. Der Botschafter könnte ihn zwar im Auto zum Flughafen bringen – er könnte dort aber nicht aussteigen, ohne daß sofort die Handschellen klicken.

Assanges Lebensraum wird also auf unbestimmte Zeit auf die Botschaft begrenzt bleiben?

Auf deren Gelände kann er sich frei bewegen, er kann dort Journalisten und Besucher empfangen – soweit ihm die ecuadorianische Botschaft das zugesteht. So unkomfortabel wird sein Leben also nicht sein, das Gebäude ist kein Asylbewerberheim.

Und gesetzt den Fall, er muß wegen eines Notfalls ins Krankenhaus?

Das könnte brenzlig werden, wahrscheinlich würde die britische Polizei die Gelegenheit zu einem Zugriff nutzen. Wenn er krank wird, würde man wohl zunächst Ärzte zur Botschaft bestellen.

Er ist in Schweden wegen sexueller Belästigung und versuchter Vergewaltigung angeklagt – nach meinem Eindruck mit recht dünnen Beweisen. Assange fürchtet nun, daß Schweden ihn an die USA ausliefern könnte, wo ihm wegen der Veröffentlichung Tausender geheimer E-Mails die Todesstrafe droht. Könnte es so kommen?

Wäre es Griechenland, würde ich sagen: Die Souveränität dieses Staates ist so durchlöchert, daß die USA jede Möglichkeit hätten, eine Auslieferung durchzusetzen. Wie es um die politische Souveränität Schwedens zur Zeit steht, kann ich nicht sagen. Es gibt jedenfalls keine völkerrechtliche Verpflichtung dazu, einem solchen Ersuchen nachzugeben.

Ihre Prognose bitte: Wie geht es weiter?

Assange muß sich wohl auf einen längeren Aufenthalt in der Botschaft einrichten. Irgendwann wird es eine diplomatische Lösung geben: Entweder bewegen sich die USA, oder Schweden sichert zu, daß er nicht ausgeliefert wird.

Interview: Peter Wolter *

* Norman Paech, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, ist Professor für Völkerrecht in Hamburg

* Aus: junge Welt, Samstag, 18. August 2012


Solidarität mit Ecuador

Asyl für Assange: Lateinamerika verurteilt Drohungen aus London. Gipfeltreffen am Sonntag

Von André Scheer **


Der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, hat am Donnerstag abend in einer Erklärung der Regierung Ecuadors für die »mutige Entscheidung« gedankt, ihm Asyl zu gewähren. Zugleich warnte er: »Auch wenn heute ein historischer Sieg errungen wurde, haben unser Kämpfe gerade erst begonnen.« Es müsse darum gehen, das Vorgehen der US-Behörden gegen Wikileaks zu beenden und die Freilassung des seit über 800 Tagen inhaftierten »Whistleblower« Bradley Manning zu erreichen. Der Obergefreite der US-Streitkräfte war im Mai 2010 festgenommen worden, weil er Videos und Dokumente über den Irak-Krieg an die Enthüllungsplattform weitergeleitet haben soll, darunter die als »Collateral Murder« bekanntgewordenen Aufnahmen der Ermordung irakischer Zivilisten aus einem US-Kampfhubschrauber.

Trotz des von Quito gewährten Schutzes sitzt Assange weiter in der ecuadorianischen Botschaft in London fest. Die Vertretung war auch am Freitag von Polizisten umstellt, und die britische Regierung weigert sich weiter, Assange freies Geleit zu gewähren. Außenminister William Hague beharrt darauf, daß die britische Regierung »verpflichtet« sei, Assange an Schweden auszuliefern, »und wir haben die volle Absicht, dies zu tun«. Demgegenüber kündigte der frühere spanische Richter Baltasar Garzón, der die Verteidigung Assanges übernommen hat, an, internationale Gerichte anzurufen, wenn London weiter eine Ausreise seines Mandanten verweigere. »Was das Vereinigte Königreich tun muß, ist, die diplomatischen Verpflichtungen der Flüchtlingskonvention zu erfüllen und ihm freies Geleit zum Abzug zu gewähren«, sagte der Jurist gegenüber spanischen Journalisten.

In Lateinamerika stehen unterdessen weiter die Drohungen der britischen Regierung, die ecuadorianische Botschaft zu stürmen, im Mittelpunkt der Diskussionen. Wie Ecuadors Außenminister Ricardo Patiño am Mittwoch (Ortszeit) erklärte, hatte die britische Regierung in einer diplomatischen Note gewarnt, sie könne unter Berufung auf ein 1987 beschlossenes Gesetz die Immunität der Vertretung aufheben, um Assange festzunehmen. In Quito verurteilten die Abgeordneten der ecuadorianischen Nationalversammlung bei einer Sondersitzung am frühen Freitag morgen diese Drohungen und forderten die Regierung auf, dazu eine außerordentliche Zusammenkunft des UN-Sicherheitsrats zu beantragen. London wurde von den Parlamentariern aufgefordert, »friedliche Lösungen für jede internationale Kontroverse zu finden, die den Prinzipien der Unabhängigkeit und juristischen Gleichheit der Staaten, dem friedlichen Zusammenleben und der Ächtung jeder Art von Aggression entsprechen«.

Die Union Südamerikanischer Nationen (UNASUR) und die Bolivarische Allianz für die Völker Unseres Amerikas (ALBA) haben auf Antrag Quitos für Sonntag bereits die Außenminister der Mitgliedsstaaten zu außerordentlichen Gipfeltreffen im ecuadorianischen Guayaquil einberufen, während der Generalrat der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) am Freitag abend über eine solche Zusammenkunft entscheiden wollte. Diese würde dann am kommenden Donnerstag in Washington stattfinden. Dort beharrt die US-Administration bislang darauf, daß es sich bei der Angelegenheit um eine »Angelegenheit zwischen den Ecuadorianern, den Briten und den Schweden« handele, wie es die Sprecherin des State Department, Victoria Nuland, am Donnerstag abend (Ortszeit) erklärte. Ihr lägen auch »keine Informationen« vor, daß Washington Druck auf London ausgeübt habe, die Botschaft zu stürmen und Assange zu verhaften. Ein entschiedenes Dementi klingt anders.

** Aus: junge Welt, Samstag, 18. August 2012


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