Das "Zentrum gegen Vertreibung" soll den "wahren historischen Vorgängen" gerecht werden
Eine Initiative will erreichen, dass die Vertreibung der Künstler und anderen Intellektuellen aus Deutschland ab 1933 thematisiert wird - Bericht und Petition im Wortlaut
Am 21. Dezember erschien in der Wochenzeitung „Freitag“, am 22. Dezember in der Süddeutschen Zeitung eine Anzeige, die aufhorchen ließ: Mitglieder des Willy-Brandt-Kreises, darunter so prominente Zeitgenossen wie Egon Bahr, Günter Grass, Friedrich Schorlemmer, Klaus Staeck oder Daniela Dahn, AktivistInnen der Friedens- und Gewerkschaftsbewegung, unter ihnen Horst Schmitthenner, Willi van Ooyen, Willi Hoffmeister und Lühr Henken, sowie eine Reihe von Friedenswissenschaftlern wie Michael Brzoska, Reinhard Mutz und Werner Ruf wandten sich in einem eindringlichen Appell gegen die geplante Errichtung des von den deutschen Vertriebenenverbänden geforderten "Zentrums gegen Vertreibung" . Wir haben diesen Appell an anderer Stelle dokumentiert: "Wir brauchen kein Zentrum gegen Vertreibung. Wir brauchen ein Zentrum gegen Krieg."
Das Zentrum ist inzwischen beschlossene Sache. Nun gibt es eine andere Initiative, die das "Zentrum gegen Vertreibung" um einen wichtigen Aspekt ergänzen will: Es soll auch all der Künstler und anderen Intellektuellen gedacht und deren Schicksal dokumentiert werden, die ab 1933 Deutschland verlassen mussten.
Wir dokumentieren im Folgenden einen Bericht über diese Initiative sowie den entsprechenden Aufruf.
"Die Vertreibung begann 1933"
Ralph Giordano, Norbert Blüm und andere wollen das geplante "Vertriebenenzentrum" ergänzen
Von Velten Schäfer *
Eine Petition zur Erweiterung des geplanten »Vertriebenenzentrums« um
die Vertreibung von Künstlern und Intellektuellen ab 1933 findet etwa in
Polen Anklang. In Deutschland sucht sie dringend Unterzeichner.
Die Zustimmung von Ralph Giordano, dem großen Moralisten der alten
Bundesrepublik, wird vom »Bund der Vertriebenen« gerne als
Unbedenklichkeitsausweis vorgezeigt, wenn um das »Zentrum gegen
Vertreibung« gestritten wird. Was er unterstütze, könne doch nicht
schlecht sein, lautet in etwa das Argument.
Weniger bekannt ist indes, dass Giordano kürzlich eine Initiative
unterzeichnet hat, die einen solchen Vorwurf andeutet: Die »Petition für
ein Zentrum der verfolgten Künste zur Förderung demokratischer
Erinnerungskultur im Rahmen des Zentrums gegen Vertreibungen«, hinter
der die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft steht.
»Der Deutsche Bundestag möge beschließen«, lautet nämlich deren
Kernforderung, »dass das Zentrum gegen Vertreibung ergänzt wird um das
Thema der Vertreibung der Künstler und anderen Intellektuellen ab 1933.
Diese Lösung entspräche den wahren historischen Vorgängen und würde der
Zusammenarbeit mit einst vom Deutschen Reich okkupierten Ländern gerecht.«
Angeschoben hat die Petition vor allem der frühere ARD- und
WDR-Journalist Hajo Jahn, der kurz nach der Wende die
Lasker-Schüler-Gesellschaft gründete. »Die Vertreibung begann 1933«,
erklärt er. Ein »historisch-politisch korrektes Zentrum« sei »ein
wichtiges nationales Anliegen von internationaler Bedeutung«. Neben
Giordano sehen das auch andere öffentliche Personen so.
Ex-Sozialminister Norbert Blüm, die Schauspielerinnen Iris Berben und
Hannelore Hoger, der frühere Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer und
die Bischöfin Maria Jepsen zählen zu den Unterzeichnern. Dass eine
solche Ergänzung des »Vertriebenenzentrums« internationale Verstimmungen
lockern könnte, zeigt etwa die Unterstützung des früheren polnischen
Außenministers Wladyslaw Bartoszewski, der zu den Kritikern des
Gedenkzentrums gehört. Auch der Deutsche Journalistenverband unterstützt
die Initiative.
Sollte diese letztlich Erfolg haben, könnte das »Ergänzungszentrum«
bereits auf einen reichen Fundus von Materialien über bekannte und
weniger bekannte Künstler und Intellektuelle zurückgreifen, den der
inzwischen pensionierte westdeutsche Journalist Jürgen Serke über
Jahrzehnte zusammengetragen hat. Teile des Materials wurden bereits für
Veranstaltungen und Ausstellungen erschlossen, von denen eine im
Solinger Kunstmuseum zu sehen ist.
Nun allerdings drängt die Zeit. Bis zum 11. Juni habe man noch Zeit, die
erforderlichen 50 000 Unterschriften zu sammeln, heißt es bei der
Gesellschaft in Wuppertal - und die Lage könnte besser sein. Zwar
spiegeln die nur wenigen hundert Unterstützer, die die Petition bisher
im Internet gezeichnet haben, nicht den tatsächlichen Stand wieder,
betont man dort. Dies zeige eher, »dass das wohl kein Thema für die
Internetgeneration ist«. Aber Unterzeichner werden jetzt dringend
gesucht. Gern auch auf konventionelllem Weg.
www.vertreibung-petition.de. Else Lasker-Schüler-Gesellschaft,
Herzogstr. 42, 42103 Wuppertal. Tel: 0202-305198, Fax: 0202-747543
* Aus: Neues Deutschland, 27. Mai 2009
Petition für ein Zentrum der verfolgten Künste zur Förderung
demokratischer Erinnerungskultur im Rahmen des Zentrums gegen Vertreibungen
Der Deutsche Bundestag möge beschließen, dass das "Zentrum gegen
Vertreibung" ergänzt wird um das Thema der Vertreibung der Künstler und
anderen Intellektuellen ab 1933. Diese Lösung entspreche den wahren
historischen Vorgängen und würde der Zusammenarbeit mit einst vom
Deutschen Reich okkupierten Ländern gerecht.
Begründung:
Die großen Vertreibungen begannen bereits ab 1933 mit der
Machtergreifung der Nationalsozialisten. Künstler u. a. Intellektuelle,
Wissenschaftler, Politiker, Gewerkschafter und sogar Sportler wurden als
erste vertrieben.
Stellvertretend für Hunderttausende der Besten aus der deutschsprachigen
und damit abendländischen Kultur seien hier nur genannt:
Dichter wie Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin,
Else Lasker-Schüler, Stefan Zweig; Maler wie Max Ernst, Paul Klee,
Komponisten wie Arnold Schönberg, Paul Hindemith, Kurt Weill,
Theaterleute wie Therese Giehse und Erwin Piscator, Dirigenten wie Otto
Klemperer, Bruno Walter oder Paul Abraham, Philosophen wie Hannah
Arendt, Wissenschaftler wie Albert Einstein und Lise Meitner,
Filmemacher wie Billy Wilder, Juristen wie Fritz Bauer, Historiker wie
Fritz Stern, Mediziner wie Sigmund Freud, Gewerkschafter wie Max Brauer
und Josef Ladig, aber auch Politiker wie Willy Brandt, Henry Kissinger,
Josef Burg, Teddy Kollek, Nahum Goldmann, Georg
Weidenfeld, Otto Braun oder Joseph Wirth.
Viele mussten unter Zurücklassen aller Habe fliehen, weil sie mit
Verhaftung, Folter und Tod rechnen mussten. Als jüdische Mitbürger oder
politisch Verfolgte mussten sie in anderen Staa-ten ein Exil suchen, das
mit der Besetzung durch die Wehrmacht oftmals auch nicht mehr sicher
war. Die Geschichte des Exils (und der Verfolgung, auch des "Inneren
Exils") ist eine Geschichte von persönlichen Schicksalen, die mehr sagen
als abstrakte Zahlen. Es war Kalkül der Nazis, diese oftmals echten
Patrioten und Demokraten aus ihrer Heimat für immer zu vertreiben. Ihre
Werke wurden verbrannt und als "entartet" geächtet. Ihre Biografien
sollten aus dem Gedächtnis der Nation getilgt werden. Sie wurden, bis
auf wenige Ausnahmen, von der Bundesrepublik Deutschland nicht
zurückgerufen. Doch gerade sie sind es, auf die wir stolz sein können.
Dokumentation und Präsentation der Werke und der Schicksale dieser
ersten Vertriebenen im Rahmen eines Zentrums der verfolgten Künste
sollte nationale Verpflichtung sein.
Erstunterzeichner:
Wladyslaw Bartoszewski, Warschau, Außenminister a.D.;
Ingrid Bachér, Düsseldorf; Prof. Dr. Jakob Hessing, Jerusalem; Maria
Jepsen, Hamburg, Bischöfin; Hannelore Hoger, Hamburg; Dr. h.c. Johannes
Gerster, Mainz, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft; Rudolf
Dreßler, Königswinter, Botschafter a.D., Heiner Lichtenstein, Köln; Dr.
Reiner Kunze, Obernzell-Erlau; Dr. Konrad Schily, Witten, MdB; Sylvia
Löhrmann, MdL NRW; Klaus Lohmann, Witten, Ex-OB und -MdB; Iris
Preuß-Buchholz, MdL NRW; Chaim Noll, Beer Scheba, Israel; Dr. Jochen
Boberg, Berlin, Museumsdirektor a.D.; George Dreyfus, Victoria,
Australien, Komponist; Hermann Schulz, Wuppertal, Schriftsteller; Gerold
Theobalt, Wuppertal; Prof. Dr. Manfred Brusten, Wuppertal, Soziologe u.
Holocaustforscher; Prof. Dr. Joachim Dorfmüller, Musikwissenschaftler;
Prof. Ulrich Erben, Düsseldorf, Künstler; Hans Peters,
DGB-Regionsvorsitzender.
Quelle: http://vertreibung-petition.de
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