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Unglücklich das Land, das Helden braucht

Vor 75 Jahren besetzte die Wehrmacht das entmilitarisierte Rheinland – Eine Weiche in Richtung Krieg

Von Kurt Pätzold *

Unter den mordspatriotischen Liedern der Deutschen besetzte »Die Wacht am Rhein« fraglos den ersten Platz. Von einem Schwaben gedichtet und später mehrfach vertont, erlangte es seine Popularität zuerst im deutsch-französischen Krieg von 1870/1871. Der Friede von Frankfurt machte aus dem Fluss, der bis dahin in einem Teil seines Laufs Deutschlands Grenze gewesen war, nun auf seiner längsten Wegstrecke – von den Alpen bis in die Nordsee – einen »deutschen Strom«. 1914 sangen die Soldaten des Kaisers auf ihrem Weg an die Westfront und, wie sie glaubten, nach Paris wieder das Lied. In einer seiner Strophen hieß es: »Solang ein Tropfen Blut noch glüht, noch eine Faust den Degen zieht, und noch ein Arm die Büchse spannt, betritt kein Feind hier deinen Strand!« Da hatten sie den Mund sehr voll genommen.

Nach der Niederlage wurden nicht Teile des Rheinlandes von den Truppen der Siegermächte – Franzosen, Belgiern und US-Amerikanern – besetzt, sondern es wurde auch im Friedensvertrag von Versailles (Artikel 42 u. 43) bestimmt, dass das gesamte zum Deutschen Reich gehörende linke Rheinufer und eine 50 Kilometer breite Zone entlang des rechten entmilitarisiertes Gebiet werden und bleiben sollte. Deutschland durfte dort keine Befestigungen besitzen und keine Streitkräfte unterhalten oder irgendwelche Schritte zu einer Mobilmachung unternehmen. Das sollte den Sicherheitsbedürfnissen Frankreichs und Belgiens Rechnung tragen. Verstöße gegen diese Bestimmungen wurden als feindselige Handlungen und Störung des Weltfriedens bezeichnet. Waren diese Bestimmungen dem Deutschen Reich 1919 diktiert worden, so verpflichtete es sich in einem der Verträge von Locarno, mit Frankreich, Belgien, Großbritannien und Italien 1925 geschlossen, sich nun selbst (Art.4, Paragraph 3), die Entmilitarisierung weiter zu respektieren.

Nachdem aber die Faschisten im Reich die Macht an sich gerissen hatten, setzten sie sich mehrfach über Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages hinweg. Jeweils folgenlos. Das machte Hitler und die deutschen Militärs dreister. Am 7. März 1936 ließen sie ihre Truppen über die Rheinbrücken marschieren. Mit klingendem Spiel rückte die Wehrmacht in Städte wie Trier, Saarbrücken, Düsseldorf ein. Bewohner empfingen sie enthusiastisch. »Jubelnde Nation«, notierte in Dresden auch Victor Klemperer, der ungeahnt auf einem Platz der Stadt in eine Übertragung der rechtfertigenden Rede Hitlers hineingeraten war, die jener am gleichen Tage im zum Beifallschor umfunktionierten Reichstag gehalten hatte. Allgemein fand der als Jude verfolgte Romanist die Meinung vor, es werde der eigenmächtige Schritt international glatt durchgehen. Und so sah er den Lauf der Dinge auch voraus – deprimiert, denn das musste die Macht der Faschisten nur festigen.

Nicht anders ermittelte der Berliner US-Korrespondent William L. Shirer die Meinung unter ausländischen Journalisten in Berlin. Er hatte Hitlers Rede in der Kroll-Oper vor der Naziversammlung gehört. Vertragsbrüchig seien die Anderen geworden, behauptete der Diktator, namentlich Frankreich. Dort hatte das Parlament wenige Tage zuvor endlich den im Mai des Vorjahres mit der Sowjetunion geschlossenen Beistandsvertrag ratifiziert. Hitler erklärte das zum deutschfeindlichen Akt und setzte zu einem seiner hysterischen Wutausbrüche an: »Ich werde nicht zulassen, dass die internationale kommunistische Diktatur von Gräuel und Hass auf das deutsche Volk übergreift!« Und weiter: »Ich zittere bei dem Gedanken, was passieren würde, wenn diese zerstörerische asiatische Lebensauffassung, dieses Chaos der bolschewistischen Revolution Erfolg hätte.«

Und dann unterbreitete er allen europäischen Völkern ein sieben Punkte umfassendes »Friedensprogramm« sowie Frankreich und Belgien einen »Nichtangriffspakt« für 25 Jahre. Danach schwor er: »Deutschland wird niemals den Frieden brechen!« Shirer notierte, diese Vorschläge seien »purer Schwindel«, und fuhr fort, »wenn ich genügend Mut besäße (oder der amerikanische Journalismus ihn hätte), dann müsste ich das in meinem Bericht heute Abend so übermittelt haben. Doch man erwartet von mir die Arbeit eines Korrespondenten ...« Dabei sah er klar, was getan werden könne. Wenn die überlegene französische Armee einschritte und Hitler »mit einer Besetzung des westlichen Rheinufers demütigen« würde, könnte es »sein Ende bedeuten«.

Doch nichts geschah, von diplomatischen Gesten abgesehen. Dabei hätte ein Einrücken der französischen Armee keineswegs Krieg bedeutet. Die deutsche Generalität wusste, dass sie sich auf ihn momentan nur mit der Aussicht einer Niederlage einlassen konnte. So hatten die deutschen Truppen Befehl, sich zurückzuziehen, falls die Franzosen den status quo zu sichern unternahmen. Indessen konnte die deutsche Führung schon am folgenden Tage ihres Erfolgs sicher sein. Hitler begab sich in die Berliner Staatsoper zur Feier des »Heldengedenktages«, wozu der aus Republikzeiten herrührende »Volkstrauertag« seit 1934 umfunktioniert worden war. Die Verklärung des Weltkriegs feierte Triumphe. Im Rund des Theaters hatte sich mit dem »Führer« der zur Ikone stilisierte Feldmarschall August von Mackensen in der Uniform der Totenkopf-Husaren eingefunden. Dazu – wie ein Omen – der österreichische General August Krauß, Förderer der Nazis im Alpenland, der in der Uniform der K.u.K.-Armee erschien. Kriegsminister von Blomberg beschwor die Einheit von faschistischer Partei und Armee, welche durch die »nationalsozialistische Revolution« neu erschaffen worden sei. Es folgte die obligatorische Militärparade.

In diese Feierlichkeiten hinein passten Verse, wie die der »Wacht am Rhein«: »Reich, wie an Wasser deine Flut, ist Deutschland ja an Heldenblut!« Da war Bertolt Brechts »Das Leben des Galilei« noch nicht geschrieben. Doch zu den im Lauf der Geschichte schwer gewonnenen Wahrheiten gehörten die Worte schon, die der Dichter dem Naturwissenschaftler und Philosophen in den Mund legte: »Unglücklich das Land, das Helden braucht.« Nur bis zur Mehrheit der Deutschen war dieses Wissen nicht gedrungen.

Ende März 1936 erinnerte die US-amerikanische Reporterin Dorothy Thompson in einem Artikel an die Passagen, in denen sich Hitler in »Mein Kampf« über das Verhältnis zu Frankreich geäußert hatte. Er hatte den Nachbarstaat als »Todfeind unseres Volkes« bezeichnet und gefordert, jedes Opfer »zu einer Vernichtung der französischen Hegemoniebestrebung in Europa« zu bringen. Es wäre wünschenswert und vielleicht erhellend gewesen, wenn im Kabinett in Paris und im Generalstab der französischen Armee ein Minister oder ein General diese Passagen vorgelesen hätte, bevor dort die Entscheidung fiel, die deutsche Herausforderung unbeantwortet zu lassen. Thompsons Artikel schloss mit dem Satz: »Europa kann sich nur noch eine kleine Weile so dahintreiben lassen.« Diese Weile dauerte nahezu dreieinhalb Jahre.

* Aus: Neues Deutschland, 5. März 2011


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