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Die Erfindung eines Messias

Immer wieder Hitler? Von des Diktators Bibliothek bis hin zu seinem Imperium

Von Manfred Weißbecker *

Bei kaum einem Buch, das von Faschismus und Krieg handelt und auf dem deutschen Büchermarkt gepriesen wird, fehlt im Titel der Name Hitlers. Wie es scheint, erwarten davon Verlage und wohl auch Autoren ein lukratives Geschäft, zumindest ein Ergebnis, das nach ihrer Vorstellung andere, sachlichere oder gar problemorientierte Aufmacher nicht bieten würden. Hitlers Krieger, Hitlers Heerführer, Hitlers politische Soldaten, Hitlers Fälscher, Hitlers Beamte, Hitlers Frauen, Hitlers Kinder, Hitlers Ostkrieg, Hitlers Judenhass, Hitlers Berlin, Hitlers München usw. usf.

Vor Jahr und Tag belieferte insbesondere der ZDF-Geschichtsexperte Guido Knopp den Markt reichlich mit solchen Filmen und Büchern. Mit ihnen, ihren Macharten und Schwächen hatte sich sogar ein Deutscher Historiker-Tag kritisch zu befassen. Harte Urteile wurden ausgesprochen. Zudem gab es vor zwei, drei Jahren viel Wirbel um Spielfilme, insbesondere um die Darstellung der letzten »Untergangs«-Tage in Hitlers Leben. Manch ein Regisseur und Schauspieler versuchte sich auch an der – von Charlie Chaplin eigentlich längst beantworteten – Frage, ob man über den Mann aus Braunau und Massenmörder lachen dürfe, ohne dass einem das Lachen im Halse stecken bleibe.

Nun belebt sich offensichtlich in jüngster Zeit erneut das Titelheld-Geschäft, wenngleich mitunter auch kritisch und um ein differenziertes Bild bemüht. Hitlers Pressechef stellt Stefan Krings vor. Die facettenreiche und informative, aus neu erschlossenem Quellenmaterial geschöpfte Arbeit trägt im besten Sinne des Wortes biografischen Charakter. Krings will keine »Re-Interpretation« zu Hitler liefern. Er versteht seine Studie über Otto Dietrich als Teil einer »sozialwissenschaftlichen Biografik«, die seit den 90er Jahren vor allem von Ulrich Herbert mit dessen Biografie über den NS-Juristen und und SS-Führer Werner Best angeregt worden ist.

Der Reichspressechef der NSDAP – so die offizielle Amtsbezeichnung Dietrichs – erscheint in Krings Band als eine Person typisiert, die sich selbst als »Zuarbeiter, Organisator oder auch halbintellektuellen Propagandisten des charismatischen Führers« begriffen habe und »zugleich Fühlung mit der Bürokratie« hatte. Breiten Raum nimmt das Kompetenzgerangel mit Goebbels und Max Ammann ein. Neben beiden sei Dietrich ein »Hauptdarsteller« auf der Bühne der Presselenkung im NS-Reich gewesen.

Demgegenüber befasst sich Ludolf Herbst direkt mit Hitler, exakt: mit Hitlers Charisma. Er untersucht – in Anlehnung an eine hier sorgfältiger als gewöhnlich genutzte Theorie von Max Weber –, wie und wann, unter welchen Umständen und mit wessen Hilfe es zur Herausbildung der »Legende vom charismatischen Führer« kam. Herbst spricht sogar von der »Erfindung« der Legende. Er nimmt besonders die frühen Jahre der Weimarer Republik sowie die Jahre 1925/26 und 1928/29 in den Blick. In dieser Zeit wurde tatsächlich der Kult um Hitler geschaffen und »veralltäglicht«. Neu ist des Autors Versuch, die erfolgreiche Entwicklung der NSDAP als Ergebnis einer Bündelung sowohl von Hitlers Selbststilisierung als auch der Inszenierung des Hitlerschen Charismas durch den vor allem von Gregor Strasser organisierten bürokratischen Apparat der Partei darzustellen. Herbst gilt »synergetisches Charisma« als Schlüsselbegriff. Ein genuines Charisma kann er – anders also als Fest, Kershaw und vor allem Hans-Ulrich Wehler – bei Hitler nicht erkennen. Das Charisma habe sich an Hitler »herangemacht«, witzelte dazu die »Süddeutsche Zeitung« am 17. Mai d. J. Dass »Die Zeit« drei Tage später kritisch von einer »überzogenen« These des Verfassers sprach, lässt weiteren Streit erwarten. Ansonst: Auch in diesem Buch existiert nicht die DDR-Literatur zum Thema.

Kritisch zu vermerken wäre hingegen eher, dass Herbst zwar das unmittelbare Umfeld Hitlers, seine »Gefolgschaft« detailliert beobachtet, aber fast alles ausklammert, was bürgerliche Eliten und das Militär getan haben, um nach Weltkrieg und Novemberrevolution Ausschau nach einer geeigneten Führerfigur zu halten. Um dann die Nazis und ihren »Führer« hoffähig zu machen und sie als nützlichen Partner für ihre innen- und außenpolitische Zwecke zu nutzen. Deren Beitrag zur »Erfindung« der Legende von Hitlers Charismas wäre also noch zu untersuchen. Doch offensichtlich schaut man lieber auf jene, die der Propagandashow der Nazipartei, modern gesprochen: ihrem Marketing auf den Leim gegangen sind und gern als die eigentlich Schuldigen an Hitlers Wirksamkeit gesehen werden – so jetzt in einer Berliner Ausstellung, die derzeit von Bersuchern regelrecht gestürmt wird

Dass auch die Lektüre von Büchern etwas über den Charakter des Lesenden aussagen kann, belegt Timothy W. Ryback mit dem detailreichen Versuch, Hitlers Denken anhand seiner Bibliothek, seiner Lesegewohnheiten und der Lektüre vor allem während seiner Jugend- und der sogenannten Kampfzeit zu entschlüsseln. So wenig man wirklich schlussfolgern kann, welches tatsächlich auch von Hitler gelesenes Buch sich in welchem seiner Gedankengänge niederschlug, so bietet allein die Aussage Aufklärendes und Erhellendes, dass etwa 7000 der 16 300 Bände, die Hitler sich angeschafft bzw. überwiegend geschenkt bekommen hat, militärgeschichtliche und -politische Darstellungen enthielten. Zudem bildeten die rassistisch-antisemitischen Publikationen des berüchtigten J. F. Lehmann Verlages den Kern des heute verstreut existierenden Bestandes.

Reichlicheren Gewinn bringt die Lektüre des Buches »Hitlers Imperium«, das bereits vielfältige Reaktionen ausgelöst hat. Der in New York arbeitende Historiker beschreibt ausführlich den »gefräßigen Expansionsdrang« und die »Kolonialisierung Europas« durch Hitlerdeutschland sowie die Träume der Naziführung von einem »Euro-Afrika«. Europa zu beherrschen, hieß für Hitler, das Zentrum des geopolitischen Weltssytems in den Händen zu haben. Zu erreichen war dies nur durch den Einsatz militärischer Mittel, abgrundtiefe Unterdrückung und rabiate Ausbeutung eroberter Gebiete. Es lässt den Leser schaudern, wie brutal in »Hitlers Imperium«, das auf seinem Höhepunkt Ende 1941 nach Ausdehnung und Bevölkerungszahl deutlich die USA übertraf, vorgegangen worden ist. Die frühen 40er Jahre seien nach Ansicht des Autors »ein Musterbeispiel« dafür, wie die »Gewalt des Krieges – insbesondere wenn eine kurzsichtige und ideologisch motivierte politische Führung eine überwältigende militärische Überlegenheit besitzt – zu einer fast grenzenlosen Eskalation der Gewaltanwendung und einer ständigen Veränderung von Normen und Regeln führen kann.« So sehr dem zuzustimmen ist, so wenig der Schlussfolgerung, dass dies hauptsächlich Hitler zuzuschreiben und gescheitert sei, weil in den eroberten Ländern deren Nationalismus nicht als »politisches Instrument« genutzt wurde. Hitler pur – in gewisser Weise gibt es ihn also doch noch immer.

Von einer Hitler-Welle in früherem Sinne kann aber nicht gesprochen werden. Ausschließlich auf Hitlers Allmacht zentrierte Darstellungen sind passé. Man bemüht sich stärker um eine Verknüpfung biografischer mit sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Sichtweisen. Dass dies indes mit einem beachtlichen Zuwachs des Umfangs der Darstellungen, auch der Zahl mehrbändiger Publikationen einhergeht, befördert vielleicht die Reputation der Musensöhne Klios, aber auch die Beliebigkeit der Interpretation – jedoch wohl kaum die Zahl der Leser.

Stefan Krings: Hitlers Pressechef Otto Dietrich (1897-1952). Wallstein, Göttingen. 543 S., geb., 58 €.

Ludolf Herbst: Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. S. Fischer, Frankfurt am Main. 330 S., geb., 22,95 €.

Timothy W. Ryback: Hitlers Bücher. Seine Bibliothek – sein Denken. A. d. Amerik. Heike Schlatterer. Mit einem Vorwort von Norbert Frei. Fackelträger, Köln. 345 S., geb., 22,95 €.

Mark Mazower: Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. A. d. Engl. Martin Richter. C.H. Beck, München. 666 S., geb., 34 €.


* Aus: Neues Deutschland, 28. Oktober 2010


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