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Arme Menschen sterben früher

Der Deutsche Caritasverband startet Kampagne "Armut macht krank"

Von Aert van Riel *

Von Armut bedrohte Menschen haben überdurchschnittlich oft einen schlechten Gesundheitszustand. Dies belegen zahlreiche Studien. Der Deutsche Caritasverband will nun mit seiner Kampagne »Armut macht krank« auf die Situation der Benachteiligten aufmerksam machen.

Deutschland gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Doch die Vermögen sind ungleich verteilt. Inzwischen können sich viele Menschen hierzulande nicht einmal mehr einen guten Gesundheitszustand leisten. Die Lebenserwartung einer Frau aus der Armutsrisikogruppe, die also 60 Prozent oder weniger des mittleren Einkommens der Bevölkerung zur Verfügung hat, liegt rund acht Jahre unter der von Frauen, die zu einer hohen Einkommensgruppe gehören. Bei Männern beträgt der Unterschied sogar elf Jahre. In Deutschland gelten rund 12,6 Millionen Menschen als armutsgefährdet.

Auf die Schwachstellen und ungenügenden Zugänge im Gesundheitssystem für ärmere Menschen will nun der Deutsche Caritasverband mit seiner gestern gestarteten Kampagne »Armut macht krank« aufmerksam machen. Der katholische Wohlfahrtsverband richtet sich dabei mit konkreten Forderungen an die Bundespolitik. »Wir wollen, dass die Praxisgebühr abgeschafft wird«, erklärte Präsident Peter Neher vor Journalisten im Franziskanerkloster in Berlin-Pankow. Denn wer seinen Lebensunterhalt mit Arbeitslosengeld II bestreitet, muss genau überlegen, wofür er das wenige Geld überhaupt ausgeben kann. »Dies führt unter anderem dazu, dass notwendige Arztbesuche aufgeschoben werden, um die Praxisgebühr zu sparen«, so Neher. Im vergangenen Jahr bezogen durchschnittlich 4 617 266 Personen Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt.

Zudem seien nicht verschreibungspflichtige Medikamente, Fahrtkosten, Kosten für eine Brille oder Krankengymnastik für viele Menschen schwer finanzierbar. Kritik übte der Caritas-Chef auch an den Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen, die in den vergangenen Jahren eingeführt beziehungsweise ausgeweitet wurden. Diese würden die Menschen im Armutsrisiko abschrecken. »Die Befreiungsregelung bei Zuzahlungen für Medikamente und Heil- beziehungsweise Hilfsmittel muss unbürokratischer gestaltet werden«, forderte Neher. Wohnungslose und Schwerbehinderte müssten grundsätzlich freigestellt werden.

Vergangenes Jahr hatten 248 000 Menschen in der Bundesrepublik keine Wohnung. Etwa 22 000 haben auf der Straße gelebt. Dies wirkt sich auch auf ihren Gesundheitszustand aus, der häufig katastrophal ist. Männliche Obdachlose werden im Durchschnitt gerade einmal 46 Jahre alt. Oft »verschleppen« sie Krankheiten, die nach Angaben der Caritas gut zu behandeln wären. Um die Situation der Wohnungslosen zu verbessern, will der Wohlfahrtsverband die »niedrigschwelligen Angebote« ausbauen. Dazu gehören Straßenambulanzen, die nach dem Willen der Caritas über die gesetzliche Krankenversicherung finanziert werden sollen. Der Verband leistet mit seinem »Arztmobil« selbst medizinische Versorgung für Wohnungslose.

Zu den im Gesundheitssystem benachteiligten Gruppen zählen auch Asylbewerber. Sie sind nicht krankenversichert. Bei akuten Erkrankungen, Schmerzen, Schwangerschaft und Geburt haben sie allerdings einen Rechtsanspruch auf ärztliche Behandlung. Ansonsten stehen Behandlungen im Ermessen der Behörden. Der Caritasverband will, dass »Asylsuchende, geduldete Personen und Menschen mit einem humanitären Aufenthaltstitel zur gesundheitlichen Regelversorgung einen Zugang haben«.

In einer besonders schwierigen Lage sind kranke Menschen, die illegal in Deutschland leben. Denn für sie kann ein Arztbesuch die Abschiebung zur Folge haben. Öffentliche Stellen sind nämlich dazu verpflichtet, den illegalen Aufenthalt von Migranten zu melden. Dies gilt auch für Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft. Vielen Flüchtlingen droht in ihren Heimatländern Ausgrenzung oder Verfolgung. Dagegen forderte Neher, »dass Menschen, die illegal in Deutschland leben, ihre Daten nicht preisgeben müssen, wenn sie einen Arzt brauchen«.

* Aus: neues deutschland, 12. Januar 2012


Caritas-Präsident Neher: "Armut macht krank"

Kampagne zeigt Schwachstellen im deutschen Gesundheitssystem **

Berlin, 11.01.2012 // "Armut macht krank." In einem der reichsten Länder der Welt ist dies ein provozierender Zustand. Die Gesundheit eines Menschen darf nicht von seinem Einkommen oder seiner Bildung, dem Aufenthaltsstatus oder seinem sozialen Netz abhängen. Das betonte Caritas-Präsident Dr. Peter Neher beim Start der Kampagne 2012 in seinem Statement, das wir im Folgenden im Wortlaut dokumentieren.

"Armut macht krank." - so das Motto unserer diesjährigen Jahreskampagne. "Wo es an Einkommen, Bildung und Perspektiven fehlt, ist Krankheit ein häufiger Begleiter." Mit dieser Botschaft möchten wir auf Schwachstellen und ungenügende Zugänge im deutschen Gesundheitssystem aufmerksam machen.

Deutschland hat ein solidarisch ausgerichtetes Gesundheitssystem mit hoher Qualität. Allen gesetzlich Versicherten stehen die gleichen Leistungen zu, unabhängig davon welchen Beitrag sie leisten. Es ist Konsens in Deutschland, dass gesundheitliche Chancengleichheit ein Menschenrecht ist. Dennoch gibt es gravierende Unterschiede mit Blick auf das Krankheitsrisiko und die Lebenserwartung.

Nicht allein das individuelle Verhalten des Einzelnen entscheidet über seine oder ihre Gesundheit. Das Wohnumfeld und der Arbeitsplatz, die sozialen Beziehungen, der Bildungsstand und das Einkommen beeinflussen die Gesundheit maßgeblich. Das heißt: das Krankheitsrisiko steigt und die Lebenserwartung sinkt, wenn Menschen einen niedrigen Bildungsstand haben, lange arbeitslos sind, in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten oder über wenig oder kein Einkommen verfügen. Die Lebenserwartung einer Frau aus der Armutsrisikogruppe liegt rund acht Jahre unter der einer Frau aus einer hohen Einkommensgruppe. Bei Männern sind es elf Jahre.

Nach EU-Kriterien leben Menschen im Armutsrisiko, die 60 Prozent oder weniger des mittleren Einkommens des jeweiligen Landes zur Verfügung haben. In Deutschland betrifft dies rund 12,6 Mio. Menschen. Das ist mehr als jeder sechste Einwohner. Menschen in anhaltender Armut tragen ein höheres Risiko, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, Diabetes mellitus oder eine chronische Bronchitis zu bekommen.

Es ist eine tiefe existentielle Erfahrung, krank zu sein - vor allem bei schweren Krankheiten. Kranksein wird schon in der Bibel gleichgesetzt mit einer umfassenden Störung und Bedrohung des Menschen. Kranke werden ausgegrenzt, sie leben am Rand der Gesellschaft. Jesus wehrt sich gegen diese Ausgrenzung und will deshalb kranke Menschen nicht länger vom Leben ausschließen. Im biblischen Sinn bedeutet Gesundheit auch, selbstbestimmt am Leben der Gesellschaft teilzuhaben. Die biblische Option für die Kranken zielt darauf, Ausgrenzung zu überwinden, sie zu eigenverantwortlichem Handeln zu befähigen und sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Auch dies will die Kampagne erreichen: den Gedanken der Solidarität im Gesundheitswesen stärken.

Langzeitarbeitslose Menschen

Langzeitarbeitslosigkeit zählt zu den größten Armutsrisiken in unserer Gesellschaft. Experten gehen davon aus, dass rund 400.000 bis 450.000 Menschen keine Perspektive auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt haben. Das Risiko, arbeitslos zu werden und auch zu bleiben trifft besonders stark gering- und nichtqualifizierte Menschen. Nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien - insbesondere die Kinder - leiden bei anhaltender Arbeitslosigkeit zunehmend unter physischen und psychischen Belastungen.

Wer von Arbeitslosengeld II lebt, überlegt jede Ausgabe genau. So werden notwendige Arztbesuche aufgeschoben, um die Praxisgebühr zu sparen. Auch die Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen, die in den vergangenen Jahren eingeführt bzw. ausgeweitet wurden, schrecken diese Menschen ab. Nicht verschreibungspflichtige Medikamente, die Fahrtkosten zu medizinischen Behandlungen, die Kosten einer Brille oder Krankengymnastik sind für diese Gruppe häufig schwer finanzierbar.

Die Praxisgebühr wurde eingeführt, um medizinisch nicht notwendige Arztbesuche einzuschränken. Diese steuernde Wirkung hat die Praxisgebühr nicht erreicht, sie ist allein ein ergänzendes Finanzierungsinstrument mit hohen Bürokratiekosten.

Wir fordern: Die Praxisgebühr muss baldmöglichst abgeschafft werden. Wenn die Ursache häufiger, aber medizinisch nicht notwendiger Arztbesuche in Vereinsamung und fehlenden sozialen Kontakten liegt, ist zu überlegen, ob nicht soziale Angebote beispielsweise der offenen Altenhilfe hilfreicher wären.

Die Befreiungsregelung bei Zuzahlungen für Medikamente und Heil- bzw. Hilfsmittel muss unbürokratischer gestaltet werden. Bestimmte Gruppen (Wohnungslose, Schwerbehinderte) müssen grundsätzlich freigestellt werden. Die Eigenbeteiligung bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten sowie bei Hilfsmitteln für behinderte Menschen muss für Härtefälle ebenfalls abgeschafft werden.

Wohnungslose Menschen

248.000 Menschen hatten im vergangenen Jahr keine Wohnung; 106.000 Menschen waren von Wohnungslosigkeit bedroht. Rund 22.000 Personen haben 2011 auf der Straße gelebt. Wohnungslose Menschen leiden besonders häufig unter einem schlechten Gesundheitszustand. Dies wirkt sich unmittelbar auf ihre Lebenserwartung aus: Laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe haben männliche Obdachlose eine durchschnittliche Lebenserwartung von 46 Jahren. Sie liegt damit rund 30 Jahre unter dem Durchschnitt.

Viele Wohnungslose scheuen davor zurück, in eine Arztpraxis zu gehen. Wenn sie krank werden, "verschleppen" sie die Krankheit, bis es nicht mehr geht. Unser Gesundheitssystem ist auf diese Menschen nicht ausgerichtet. Es fehlen niedrigschwellige Angebote für Menschen, die auf der Straße leben. Völlig lebensfremd ist die Vorstellung, diese Gruppe würde Quittungen und Belege sammeln, um sie bei einer Krankenkasse einzureichen. Nur vereinzelt gibt es Projekte, die Wohnungslose, aber auch andere arme Menschen, medizinisch versorgen. Dazu gehören beispielsweise die Straßenambulanzen. Heute können Sie mehr über diese Arbeit erfahren, wenn Sie später mit den Mitarbeitenden des Arztmobil sprechen. Für wohnungslose oder obdachlose Menschen sind die Straßenambulanzen oft der einzige Ort, um medizinisch versorgt zu werden.

Wir fordern: Wohnungslose und obdachlose Menschen brauchen einen regulären Zugang zum Gesundheitssystem. Dafür müssen niedrigschwellige Angebote wie z.B. Straßen-ambulanzen ausgebaut und über die Gesetzliche Krankenversicherung finanziert werden. Zur Abfederung der derzeit bestehenden Lücken sind unbürokratische Fonds nötig, die im Notfall ungedeckte Kosten übernehmen

Bezieher von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz

Auch für Menschen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, ist die gesundheitliche Versorgung ungenügend. 2009 waren rund 121.000 Personen betroffen: es sind Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, eine Duldung haben oder vor einem Bürgerkrieg geflohen sind. Die Höhe der Grundleistungen, die sie erhalten, liegt mehr als 30 Prozent unter dem Niveau des Existenzminimums. Das alleine ist schon ein Skandal.

Diese Menschen sind nicht krankenversichert, haben aber einen Rechtsanspruch auf ärztliche Behandlung bei akuten Erkrankungen, bei Schmerzen, bei einer Schwangerschaft und Geburt. Dann erhalten sie die notwendige ärztliche und zahnärztliche Versorgung. Sonstige Behandlungen stehen im Ermessen der Behörden.

Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, leben weitgehend ausgeschlossen von der Gesellschaft mit einem Gefühl der Perspektivlosigkeit. Sie müssen an einem Ort bleiben, leben in Gemeinschaftsunterkünften und bekommen primär Sachleistungen. Durch hohe Hürden werden sie vom Arbeitsmarkt ferngehalten. Diese Lebensbedingungen machen die Menschen krank.

Wir fordern: Asylsuchende, geduldete Personen und Menschen mit einem humanitären Aufenthaltstitel müssen zur gesundheitlichen Regelversorgung einen Zugang haben. Das Asylbewerberleistungsgesetz muss endlich abgeschafft werden. Das Zwei-Klassen-System in der Grundsicherung ist abzulehnen.

Menschen in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität

Sehr schwierig ist auch die Situation für Menschen, die ohne legalen Aufenthaltstitel in Deutschland leben. De jure haben sie einen Anspruch auf ärztliche Behandlung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. De facto nehmen die meisten diesen Anspruch jedoch nicht wahr.

Öffentliche Stellen wie beispielsweise Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft sind verpflichtet, die Ausländerbehörden zu informieren, wenn sie vom illegalen Aufenthalt eines Ausländers erfahren. Ein gewisser Schutz der Daten gilt seit einiger Zeit für die Notfallversorgung in öffentlichen Krankenhäusern.

Wer aber Angst haben muss, den Behörden gemeldet und damit abgeschoben zu werden, geht nicht zum Arzt. Nicht selten werden Erkrankungen verschleppt und entwickeln sich zu schwer heilbaren, mitunter lebensbedrohlichen Krankheiten. Besonders betroffen sind Schwangere. Aus Angst vor Entdeckung verzichten sie auf alles, was bei uns aus gutem Grund Standard ist: sie machen keine Vorsorgeuntersuchungen, haben zum Teil keine medizinische Betreuung während der Geburt und keine Versorgung danach. Es sollte außer Frage stehen, dass die gesundheitliche Versorgung eines Menschen höher einzuschätzen ist als das Bestreben des Staates, illegale Zuwanderung zu vermeiden.

Wir fordern: Menschen, die illegal in Deutschland leben, müssen Zugang zum Gesundheitssystem erhalten, ohne ihre Daten preisgeben zu müssen. Schwangere brauchen einen gesetzlich geregelten besonderen Schutz gegen Abschiebung.

Wir brauchen keine Medizin-Tafeln

Diese Beispiele belegen: "Armut macht krank." In einem der reichsten Länder der Welt ist dies ein provozierender Zustand. Die Gesundheit eines Menschen darf nicht von seinem Einkommen oder seiner Bildung, dem Aufenthaltsstatus oder seinem sozialen Netz abhängen. Wir brauchen keine Medizin-Tafeln in Deutschland. Was wir brauchen, ist ein Gesundheitssystem, das auch die Menschen nicht aus dem Blick verliert, die am Rande der Gesellschaft leben.

Dabei sind nicht allein Gesundheitspolitiker, Krankenkassen und Ärzte gefordert. Reagieren Bürger verständnisvoll oder abweisend, wenn in ihrer Arztpraxis wohnungslose Menschen behandelt werden? Wie stark werden Menschen in prekären Lebenslagen durch Caritas-Dienste dabei unterstützt, ihr Recht auf Gesundheit und Zugang zu Leistungen durchzusetzen? Wir werden hier auch selbstkritisch auf unsere eigene Arbeit schauen.

Notwendig ist sicher auch ein verändertes Bewusstsein in der Bevölkerung für gesundheitliche Fragen. Die Verantwortung des Einzelnen soll ihm nicht abgenommen werden. Ein Präventionsgesetz kann dazu beitragen, mehr Menschen, vor allem auch Kinder und Jugendliche, über Gesundheitsthemen zu informieren. Wir brauchen aber auch eine Politik, die Armut und Arbeitslosigkeit bekämpft, die Hauptursachen für ein erhöhtes Krankheitsrisiko und eine geringere Lebenserwartung. Nur so kann auf Dauer der Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit durchbrochen werden: Jeder verdient Gesundheit.

Mein herzlicher Dank geht auch in diesem Jahr an die Düsseldorfer Agentur BBDO für die Entwicklung der Kampagne, die sie erneut unentgeltlich übernommen hat. Ein weiterer Dank gilt der Glücksspirale, die die Produktion der Kampagnenmaterialien wieder finanziell unterstützt hat.

** Quelle: Pressemappe des Deutschen Caritasverbands e.V., 11. Januar 2012; www.caritas.de


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