Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Das Jahr der Rücktritte

Jahresrückblick. Heute: Abgänge 2011. Das Personal wird knapp: Exodus von Spitzenpolitikern ging munter weiter. Den Auftakt machte Guttenberg

Von Sebastian Carlens *

Erster März 2011: Karl-Theodor zu Guttenbergs Rücktritt als Verteidigungsminister markiert einen neuen Höhepunkt beim Exodus von Spitzenpolitikern, der den bürgerlichen Parteien reale Personalprobleme bescheren soll. Der Abgang des einstigen CSU-Hoffnungsträgers steht am Ende einer ganzen Reihe von Skandalen: Auf die »Kundus«- und die »Gorch-Fock«-Affäre folgte eine dilettantisch vorbereitete Bundeswehrreform. Eklats um den Wehrbeauftragten und um geöffnete Feldpostbriefe konnte der Minister noch durchstehen. Seine gefälschte Doktorarbeit beendete dann den unaufhaltsam scheinenden Aufstieg des fränkischen Adligen - vorerst. Netzaktivisten hatten nachgewiesen, daß Guttenberg in seiner Dissertation zu großen Teilen abgeschrieben hatte. Sein Erfolgsrezept im Umgang mit Affären nach der Methode Franz Josef Strauß, das Aussitzen, sollte diesmal nicht funktionieren. Der drohenden Aberkennung seines Doktorgrades durch die Universität Bayreuth versuchte der Minister, durch einen freiwilligen Verzicht zuvorzukommen. »Guttenberg hätte sich selbst, den Werten, die er hochhält, und langfristig auch der Union einen besseren Dienst erwiesen, wenn er nicht nur der Universität Bayreuth einen Brief geschrieben hätte, sondern auch der Kanzlerin«, zürnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Guttenberg verstand, trat zurück und ging ins Exil in die USA. Dort bewies der gefallene Politstar seine tätige Reue durch eine neue Brille und Frisur. Ende November veröffentlichte Die Zeit einen Vorabdruck aus »Vorerst gescheitert. Karl-Theodor zu Guttenberg im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo«. Strauß hat es vorgemacht: Auch für ihn stand nach einem Rücktritt als Verteidigungsminister immer noch der Weg zur Kanzlerkandidatur offen. Der prominenteste Rücktritt 2011 könnte auch das erste Comeback 2012 werden.

Mit der Fehleinschätzung des Jahrzehnts begann der Niedergang des Bundesbankpräsidenten Axel Weber. Wenige Tage nach Bekanntwerden von Liquiditätsproblemen bei der deutschen IKB-Bank ließ er im August 2007 folgendes Statement veröffentlichen: »Befürchtungen bezüglich einer Bankenkrise in Deutschland entbehren jeder Grundlage… Der in einigen Medienberichten hergestellte Vergleich der aktuellen Wirtschaftslage zur Bankenkrise 1931 ist völlig abwegig.« Tatsächlich sollten die Probleme bei der IKB nur der Beginn einer Entwicklung sein, die Deutschland und Europa bis heute fest im Griff hält. Zum 30. April 2011 trat Weber zurück – ein Jahr vor Ende seiner Amtszeit und mitten in der Krise, die keine sein soll.

Im Mai traf es Guido Westerwelle. Der langjährige FDP-Chef gab auf massiven innerparteilichen Druck hin bekannt, nicht erneut für den Vorsitz seiner Partei kandidieren zu wollen. Sein Nachfolger Philipp Rösler verdrängte ihn auch vom Posten des Vizekanzlers – zwar blieb Westerwelle mit dem Außenministeramt ein Gnadenbrot, seine erstaunliche Karriere scheint allerdings beendet. Ihm gelangen mit bizarren Spaßwahlkämpfen im »Guido-Mobil« Rekordergebnisse, doch in der Regierungsverantwortung machte der Liberale keine gute Figur. Es mag ungerecht erscheinen, daß ihm die Verantwortung für die deutsche Enthaltung im Li­byen-Krieg zugeschoben wurde – das hat er keinesfalls allein entschieden. Der Koalitionspartner bot sich jedenfalls als Sündenbock an, als erste Erfolge der Operation »Odyssey Dawn« sichtbar wurden – und Deutschland nicht dabei war. Erst nach Westerwelles unfreiwilligem Gang in die zweite Reihe sollte sich zeigen, daß die Krise der Liberalen viel tiefer reichte. Die »18-Prozent-Partei« hat sich unterhalb der fünf-Prozent-Hürde eingependelt – dies immerhin stabil. Westerwelle erscheint plötzlich als ein Bote aus besseren Zeiten: Die Regierungsverantwortung allein rettet die FDP heute vor parteipolitischer Bedeutungslosigkeit.

Der Rücktritt Christian von Boettichers als Landesvorsitzender der CDU Schleswig-Holstein nimmt sich dagegen beinahe menschlich aus: der damalige Spitzenkandidat für die Landtagswahl im Mai 2012 stürzte über eine Liebesaffäre – zu einer Minderjährigen. Boetticher hatte die damals 16jährige Schülerin über Facebook kennengelernt, aus dem Chatflirt wurde eine Affäre. Die Brisanz der Beziehung muß dem CDU-Mann schon damals klar gewesen sein; er beendete das Verhältnis, als eine Spitzenkandidatur in greifbare Nähe rückte. Genützt hat ihm dies nicht: innerparteiliche Gegner machten die junge Frau ausfindig und lancierten Informationen an die Presse. Unter Tränen gab Boetticher auf; am 14. August trat er als Landesvorsitzender zurück.

Mit Christian Lindners Abgang von der politischen Bühne endete das Personalkarussell des vergangenen Jahres. Der FDP-Generalsekretär erklärte am 14. Dezember, der FDP »eine neue Dynamik ermöglichen« zu wollen – nichtssagender wurde ein Rücktritt selten ausgesprochen. Vielleicht hat Lindner, der in der »Boy-Group« der aktuellen FDP-Führung als letzter Stratege galt, nur Scharfblick bewiesen und das sinkende Schiff rechtzeitig verlassen. Die anstehende Landtagswahl in Schleswig-Holstein im Mai 2012 gilt gemeinhin als Menetekel der Liberalen. Besser, beim drohenden Untergang nicht am Steuerruder zu stehen.

Einer aber überlebte des Jahr 2011 politisch: Bundespräsident Christian Wulff. Nach Bekanntwerden seiner Vorzugskredite rettete sich der Niedersachse von Tag zu Tag über den Dezember – um dann, passend zum neuen Jahr, wieder von neuen Vorwürfen eingeholt zu werden. Bis zum März muß in diesem Jahr vielleicht nicht auf den ersten Rücktritt gewartet werden.

* Aus: junge Welt, 4. Januar 2012


Zurück zur Deutschland-Seite

Zurück zur Homepage