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Mitte-Links entmachtet dänische Rechte

Designierte Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt (Sozialdemokratie) steht vor schwieriger Aufgabe

Von Andreas Knudsen, Kopenhagen *

Nach dem Wahlsieg für Mitte-Links in Dänemark hat der rechtsliberale Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen am Freitag seinen Rücktritt bei Königin Margrethe II. eingereicht. Es gilt als sicher, dass die Parteichefs bei der traditionell folgenden »Königinnen-Runde« die Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt als neue Regierungschefin vorschlagen. Die 44-Jährige steht damit als erste Frau vor dem Sprung an die dänische Regierungsspitze und wollte noch gestern Verhandlungen zur Bildung einer Minderheitsregierung einleiten.

Der Wahlabend wurde lang und nervenaufreibender als gedacht, aber am Schluss war klar: Die vier Mitte-Links-Parteien Sozialdemokratie, Sozialistische Volkspartei, Radikale Venstre und Rot-grüne Einheitsliste kommen nach drei Niederlagen dieses Mal zum Sieg. Das Paradoxe der Folketingwahl 2011: Obwohl die Rechtsliberalen (Venstre) als bisher größte Regierungspartei von 26,3 Prozent 2007 auf 26,7 Prozent leicht hinzugewinnen, müssen sie die Macht an zwei Parteien mit Stimmenverlusten abgeben: die Sozialdemokraten, die 0,6 Prozentpunkte verloren und mit 24,9 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit über 100 Jahren erzielten, und die Volkssozialisten (statt 13 nur noch 9,2 Prozent). Zu groß waren die Verluste der bisherigen Partner. So halbierten sich die Stimmen der Konservativen auf 4,9 Prozent. Und auch die Mehrheitsbeschafferin der bisherigen Koalition, die rechtspopulistische Volkspartei, schrumpfte von 13,9 auf 12,3 Prozent.

Die Sozialdemokraten und die Volkssozialisten hatten die vergangenen zwei Jahre dazu genutzt, eine bisher noch nicht gesehene feste Allianz einzugehen und im Dienste eines künftigen starken Koalitionskerns alle Politikfelder so abzustimmen, dass die Unterschiede in den Profilen fast völlig abgeschliffen wurden – was sich vor allem bei den Volkssozialisten bemerkbar machte. So folgte dem einstigen Höhenflug in den Meinungsumfragen am Wahlabend ein Absturz, der bei der Regierungsbildung mehr Rücksicht auf »Flügelparteien« erfordert als geplant. Die Volkssozialisten werden zwar erstmals in ihrer Geschichte Regierungsverantwortung übernehmen, aber der Preis ist offensichtlich hoch, wenn Ideale in Realpolitik umgewandelt werden müssen.

Die designierte Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt steht mit ihrer sich abzeichnenden Minderheitsregierung vor einem schwierigen Spagat. Die sozialliberale Radikale Partei setzt auf eine strikt bürgerliche Wirtschaftspolitik. Schon in den nächsten Monaten will sie, wie im Frühjahr mit der bürgerlichen Koalition vereinbart, eine drastische Verschlechterung der Vorruhestandsregellungen durchsetzen. Am anderen Ende des Spektrums steht die Rot-grüne Einheitsliste, die ihre Stimmenzahl auf 6,7 Prozent verdreifachen konnte und das Zünglein an der Waage sein wird, falls Thorning-Schmidt wirkliche Linkspolitik betreiben will. Die Sprecherin der Liste, Johanne Schmidt-Nielsen, kündigte schon an, dass sie für ihre Politikvorstellungen kämpfen und nicht die relativ passive Rolle unter den sozialdemokratischen Regierungen in den 1990er Jahren wiederholen wolle.

Thorning-Schmidt muss also absehbar wechselnde Mehrheiten für die verschiedenen Politikfelder finden. Vor diesem Hintergrund setzen die bürgerlichen Parteien unverblümt darauf, dass die Mitte-Links Mehrheit im Parlament von vorläufig 50,1 Prozent schnell verschleißt und durch Neuwahlen innerhalb von 18 Monaten beendet wird. Ähnlich trügerischen Hoffnungen gaben sich umgekehrt allerdings auch die Linksparteien nach 2001 hin, als sie bürgerliches Regieren mit Hilfe der rechtsnationalistischen Dänischen Volkspartei nicht für möglich hielten.

Mit Helle Thorning-Schmidt wird erstmals in der Geschichte Dänemarks eine Frau an der Spitze einer Regierung stehen. Sie steht vor schwierigen Aufgaben. Wirtschaftliche Reformen zur Krisenbewältigung werden unumgänglich sein, im Bildungssystem sollen Änderungen durchgesetzt werden, um eine bessere Platzierung auf der PISA-Skala zu erreichen, und die bisherige Außenpolitik mit ihren Kriegsteilnahmen in Irak und Afghanistan muss überdacht werden.

Die von der rechten Volkspartei geprägte Ausländerpolitik soll hingegen nur vorsichtig modifiziert werden, da sie inzwischen von einer Bevölkerungsmehrheit getragen wird. Ab dem 1. Januar übernimmt Dänemark zudem den turnusmäßigen Vorsitz in der EU, der Thorning-Schmidt viel Aufmerksamkeit kosten wird, die sie vermutlich lieber auf das politische Minenfeld daheim richten würde.

* Aus: Neues Deutschland, 17. September 2011


Europäerin

Helle Thorning-Schmidt - die Sozialdemokratin wird dänische Regierungschefin **

Im Jahr 1915 wurde in Dänemark das Frauenwahlrecht eingeführt. Trotzdem dauerte es fast 100 Jahre, bis mit der Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt am Donnerstag erstmals eine Regierungschefin gewählt wurde. Es war bereits ihr zweiter Anlauf, nachdem sie 2007 eine herbe Wahlschlappe einstecken musste.

Helle Thorning-Schmidt, geboren 1966, hat einen Mastergrad in Staatswissenschaften, ihr Studium absolvierte sie in Kopenhagen und später in Brüssel. Die heimliche Hauptstadt Europas wurde prägend für ihr Leben, denn sie trat dort nicht nur in die Sozialdemokratische Partei ein und arbeitete im Büro ihrer Partei beim Europaparlament, sondern lernte in Brüssel auch ihren späteren Mann kennen. Der späte Eintritt in die Partei, ihr akademischer Hintergrund und ihre elegante Erscheinung werden ihr jedoch von konservativen Parteimitgliedern angekreidet als »Sozialdemokratie light«.

Von 1999 bis 2004 war sie Abgeordnete des EU-Parlaments; europäische Fragen werden zu ihren politischen Stärken gerechnet. Seit 2005 ist sie Mitglied des dänischen Parlamentes, des Folketings, und kandidierte schon im gleichen Jahr für den Parteivorsitz. Sie wurde in einer Urabstimmung der Mitglieder gewählt, da sowohl der Vorstand als auch die Parlamentsgruppe von Flügelkämpfen zerrissen und die Partei nach zwei Niederlagen bei Parlamentswahlen politisch praktisch paralysiert waren.

Es ist das bisher größte Verdienst von Helle Thorning-Schmidt, die Flügel der Partei versöhnt und auf ein gemeinsames Ziel eingeschworen zu haben. Die Fähigkeit, Brücken zu bauen, wird sie in ihrer mehr Mitte- als Links-Koalition benötigen, die zudem auf die parlamentarische Unterstützung der linken Einheitsliste angewiesen ist. Mit ihrem Sieg muss Helle Thorning-Schmidt gleichzeitig die bittere Pille schlucken, das schlechteste sozialdemokratische Wahlergebnis der letzten 100 Jahre eingefahren zu haben.

Helle Thorning-Schmidt ist mit Stephen Kinnock verheiratet, dem Sohn des ehemaligen britischen Labour-Vorsitzender Neil Kinnock. Das Paar hat zwei Töchter und wohnt im zentralen Kopenhagener Stadtteil Østerbro.

Andreas Knudsen, Kopenhagen

** Aus: Neues Deutschland, 17. September 2011


Keine Verschnaufpause

Dänen wählen Rechtsregierung ab

Von Jørgen Petersen **


Nach zehn Jahren wurde die bürgerliche Regierung von Lars Løkke Rasmussen endlich abgewählt. Bei einer historisch hohen Wahlbeteiligung von mehr als 87 Prozent stimmten die Dänen für eine politische Wende. Künftig wird eine linksliberale Regierung mit der Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt als erster Premierministerin Dänemarks regieren. Das Wahlergebnis war denkbar knapp – nur17000 Stimmen trennten den rechtsbürgerlichen vom siegreichen linksliberalen Block.

Mit diesen Wahlen haben die Dänen zehn Jahre Sozialabbau und Angriffe auf Bürgerrechte, die dänische Beteiligung an den Kriegen gegen den Irak und gegen Libyen sowie Steuererleichterungen für Reiche und für Banken abgewählt. Vor allem aber drückt das Resultat den Wunsch vieler Menschen nach einem Ende der unerträglichen ausländerfeindlichen und antimuslimischen Politik der ultranationalistischen Dänischen Volkspartei aus, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte Mandate verloren hat. Insbesondere den Gewerkschaften ist die Entlarvung der Sozialdemagogie und der gebrochenen Versprechen der Volkspartei zu verdanken. Generell spielten sie eine entscheidende Rolle bei diesen Wahlen. Noch nie gab es eine derart starke Mobilisierungskampagne. Mit Massendemonstrationen gegen Sozialabbau und Aufrufen zur Wahlbeteiligung konnten so viele Menschen wie nie zuvor zur Stimmabgabe motiviert werden. Bei der Analyse des Wahlergebnisses darf nicht übersehen werden, daß auch die Sozialdemokraten und die Sozialistische Volkspartei, die künftig die Ministerien besetzen werden, Mandate verloren haben. Der »Rote Block« hat lediglich aufgrund der Gewinne jener beiden Parteien gewonnen, die die äußersten Enden des linksliberalen Blocks repräsentieren. Die neoliberalen »Radikalen« haben wesentliche Teile der abgewählten Politik unterstützt und werden auch künftig – und nunmehr gestärkt – versuchen, ihr Programm zu verfolgen. Die linke Kraft innerhalb des linksliberalen Blocks, die Rot-Grüne Allianz, hat ihre Mandate verdreifacht und so entscheidend zum Sieg von Thorning-Schmidt beigetragen.

Im Zuge des Wahlkampfs wurden Forderungen und Erwartungen an eine neue Politik formuliert, die nach dem antisozialen Chaos der letzten Jahre den Wiederaufbau eines Wohlfahrtsstaates als zentrales Ziel haben. Vor allem geht es darum, die Folgen der Krise des Kapitalismus nicht der Arbeiterklasse und der Jugend aufzubürden.

Eine künftige linksliberale Regierung wird die Voraussetzungen für die Kämpfe um eine neue Politik verbessern. Dennoch wird es im dänischen Parlament auch weiterhin eine Mehrheit für die Fortsetzung einer bürgerlichen Wirtschaftspolitik geben. Deshalb gibt es für die Linke keine Verschnaufpause. Es ist jetzt wichtiger als je zuvor, den Kampf für eine neue Politik – und nicht nur einfach eine neue Regierung – fortzuführen. Die Zukunft Dänemarks darf nicht den neuen Ministern überlassen werden.

*** Jørgen Petersen ist Vorsitzender der dänischen Kommunistischen Partei

Aus: junge Welt, 17. September 2011



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