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Von der Bygde in die Stadt?

Grönlands Siedlungen kämpfen mit großen finanziellen und sozialen Problemen

Von Andreas Knudsen, Kopenhagen *

Hat eine Siedlung oder Bygde, wie sie in Grönland genannt werden, eine Zukunft, wenn hier höchstens 500 Menschen leben? In der kleinsten, Moriusaq im Norden der größten Insel der Welt, sind es gar nur zwei, während die Durchschnittsgröße bei 150 liegt. Das Durchschnittseinkommen in Grönland liegt bei 179 000 Kronen (24 000 Euro) pro Jahr und damit etwa 40 000 Kronen unter dem dänischen Durchschnitt.

Und wenn ein Bygdeneinwohner laut Statistik jährlich mit 98 000 Kronen, im extremsten Fall mit 66 000 Kronen, auskommen muss, ist der Unterschied indiskutabel. Gleichzeitig hat die Grönländische Selbstverwaltungsregierung in den letzten Jahren Millionendefizite im Budget notieren müssen und wird sie laut ihrer eigenen Prognose auch in den nächsten Jahren haben. Im Zuge der Übernahme der vollen Selbstverwaltung am 21. Juni diesen Jahres werden weitere Aufgaben, die bisher von Dänemark finanziert wurden, an Grönland übergehen und müssen selbst getragen werden.

Das sind die harten Fakten, mit denen sich die Selbstverwaltung unter der sozialistischen IA-Partei stellen muss. Das Land soll entwickelt werden, doch zu welchem Preis? Die wenigen Einwohner leben weit verstreut über ein Land, das nur mit Schiff oder Flugzeug bereist werden kann. Vermutet oder erkundet sind zahlreiche Rohstoffe und viele multinationale Konzerne warten nur darauf, dass die Finanzkrise abklingt, bevor sie mit der Erschließung der Vorkommen beginnen. Wollen die Grönländer sich einen großen Anteil am erwarteten Boom sichern, müssen sie qualifizierte Arbeitskraft anbieten können, doch mangelt es an Technikern aller Art, Gesundheitspersonal, Lehrern usw. Ein Grund, warum die sozialdemokratische Siumut-Partei nach 30 Jahren Regierungsverantwortung eine schlimme Niederlage erlitt, war die Unzufriedenheit der Bevölkerung unter anderen mit dem Ausbildungsniveau. Am geringsten ist es oft gerade in den Bygden, in der die Kinder aller Klassenstufen oft in Zwergschulen von nur einem oder wenigen Lehrern unterrichtet werden. Zudem werden Bygden oft mit sozialen Problemen wie Alkoholismus, Kindermissbrauch und Arbeitslosigkeit gleichgesetzt, aber die gibt es auch in den Städten und vermitteln nicht das ganze Bild.

Was also tun? Die grönländische Öffentlichkeit diskutierte in den letzten Wochen heftig und kontrovers den Vorschlag einiger Politiker, die Bygden aufzugeben und ihre Bewohner in den Städten anzusiedeln. Die Ressourcen könnten konzentriert, die Infrastruktur vereinfacht und Einkommensunterschiede ausgeglichen werden. Doch die Ablehnung dieser Überlegungen durch die Bevölkerung war heftig.

Anthon Frederiksen, Grönlands Innen- und Umweltminister, dementierte die Pläne und verwies auf eine umfassende Analysearbeit, die sein Ministerium gegenwärtig ausführt. »Wie müssen herausfinden, welche Ressourcen es in den verschiedenen Bygden gibt – sprach- und ausbildungsmäßig, Altersstruktur, Unternehmen usw. Wir wollen das ganze Land entwickeln zum Wohle aller Einwohner.«

Wesentlich konkreter war Asii Chemnitz, die Bürgermeisterin der ostgrönländischen Kommune Sermersooq. Allein in ihrer Kommune gibt es vier Minenprojekte, die in den nächsten Jahren begonnen werden sollen und eine Menge Herausforderungen und Möglichkeiten mit sich führen werden. »Wir müssen auf Ausbildung und verbesserte Infrastruktur setzen. E-Learning und Internet insgesamt müssen uns Ressourcen zuführen und Transport sparen. Die Arbeitsverträge der öffentlich Angestellten, insbesondere der Lehrer, müssen so geändert werden, dass sie auf lokaler Basis flexibel eingesetzt werden können. Wie sollen wieder Mikrokredite vergeben wie es früher möglich war, um Handwerk und lokale Initiativen aller Art zu fördern. Nur so können wir uns entwickeln«, erklärte sie gegenüber ND, als sie anlässlich eines Arbeitsbesuches in Dänemark weilte. Sie verwies ausdrücklich auf die Erfahrungen, die der Nobelpreisträger Mohammad Yunus damit in Bangladesch sammelte. Ja, es gibt eine Zukunft, auch wenn man fernab vom Schuss wohnt und der Ausgangspunkt schwierig ist.

Grönland hat 57 000 Einwohner. Etwa 25 000 leben in Städten (15 000 in der Hauptstadt Nuuk, 5400 in Sisimiut und 4500 in Ilulissat). Rund 50 Prozent der Bevölkerung wohnen in der Mitteregion der Westküste. In Ostgrönland leben etwa 3500 Menschen in elf Siedlungen. In den 59 Bygden leben rund 9500 Einwohner.

* Aus: Neues Deutschland, 5. November 2009


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