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Flexibel auf Kurs

Mehr Privatwirtschaft, konsequente Planung und Angehen großer Probleme in China

Von Wolfgang Pomrehn *

Die Delegierten des Volkskongresses sind nach Hause gefahren, China hat seinen Führungswechsel abgeschlossen. Und inzwischen läßt sich erahnen, wohin es in den nächsten Jahren gehen soll. Der erste Hinweis ist die Besetzung des Führungspostens der Zentralbank. Diesen behält Zhou Xiaochuan, der bereits seit 2002 auf diesem Stuhl sitzt. In den vergangenen Jahren ist er für verschiedene Lockerungen am Kapitalmarkt verantwortlich gewesen und hat die Lösung der engen Bindung der chinesischen Währung (Renminbi, Volksgeld) an den US-Dollar eingeleitet. Zhou gilt als Befürworter einer weiteren Liberalisierung des Kapitalmarktes. Insbesondere ist damit zu rechnen, daß die Privilegierung staatlicher Betriebe bei der Kreditvergabe in den nächsten Jahren vermindert wird. Bisher haben es Privatunternehmen in der Volksrepublik schwer, an Bankkredite zu kommen. Die Vergabe ist meist eher von politischen Entscheidungen als von konkreten wirtschaftlichen Überlegungen geleitet. Das muß nicht schlecht sein, sofern es im Rahmen sinnvoller Planung erfolgt, ist aber auf allen Ebenen unter den gegebenen Bedingungen ein großes Einfallstor für Korruption.

Vor der hatte der neue Premierminister Li Keqiang in einer seiner ersten Reden nach der Wahl am 15. März eindringlich gewarnt. Wer ein öffentliches Amt annehme, müsse sich von dem Ziel verabschieden, reich zu werden. Ansonsten hatte Li bereits im Vorfeld seiner Wahl wiederholt darauf hingewiesen, daß seiner Ansicht nach Kreditzinsen vom Markt bestimmt und die Währung frei konvertierbar gemacht werden müsse. Allerdings betonte er auch, daß diese Ziele nur schrittweise erreicht werden könnten.

Zwei weitere Personalien deuten darauf hin, daß die neue Führung die Privatwirtschaft stärken und die Liberalisierung des Bankenwesens sowie der Kapitalmärkte vorantreiben will. Finanzminister wird Lou Jiwei. Wie sein ebenfalls neu ins Amt berufener Kabinettskollege Ma Kai, der als Vizepremier vereidigt wurde, gehörte er in den 1990er Jahren zum Stab von Li Keqiangs Vorvorgänger Zhu Rongji. Der war bis 2002 Premier und seinerzeit verantwortlich für die Auflösung zahlreicher staatseigener Betriebe. Mehrere Dutzend Millionen Menschen verloren damals ihren Arbeitsplatz. In vielen Fällen führte das zu teils militanten Streiks und Straßenschlachten, denn für die Arbeiter hingen oft auch Gesundheitsversorgung und vor allem Rentenansprüche an der Zugehörigkeit zum Betrieb. Von »eiserner Reisschüssel« sprach man bis dahin in China, mit der die vergleichsweise gut gestellte Minderheit der städtischen Arbeiter abgesichert worden war. Die Rückkehr zweier Gefolgsleute Zhus in hohe Regierungsämter könnte eine neue Privatisierungswelle ankündigen.

Doch ohne ein gerüttelt Maß an staatlicher Planung wird es auch in Zukunft kaum gehen. Zu den Topthemen des neuen Premiers gehört die Urbanisierung, wie er in seiner ersten Pressekonferenz noch einmal deutlich machte. 100 Millionen Menschen sind seit 2002 vom Land in die Städte gezogen, und dieser Zustrom wird auf absehbare Zeit anhalten. Derzeit lebt in China noch rund die Hälfte der Menschen auf dem Land, während es in Deutschland noch 26 Prozent oder in den USA nur 19 Prozent sind. Und selbst in diesen Ländern nimmt die Verstädterung weiter zu, wobei vor allem die Großstädte und Metropolen wachsen.

Was hierzulande jedoch nur ein munteres Bächlein ist, eines, das in Berlin bereits Regierungspolitiker aller Couleur überfordert, ist in China ein reißender Strom. 400 Millionen Menschen könnten sich bis Mitte der 2030er Jahre auf den Weg in die Städte machen. Lis Ziel ist es, diesen Strom zu kanalisieren, dafür zu sorgen, daß er sich nicht nur in die großen Städte an der Küste ergießt. Ihm schwebt ein Modell abgestufter Urbanisierung mit dem Ausbau vieler kleinerer Städte vor. Auf dem Provinzniveau hat er damit bereits als Gouverneur von Henan Erfahrung gesammelt.

Unter anderem will der Premier wie andere Politiker vor ihm verhindern, daß am Rande der Großstädte unkontrolliert Elendsquartiere wuchern. Bisher ist die spontane Urbanisierung nahezu überall auf der Welt genauso abgelaufen bzw. läuft noch so ab. In China sind den Slums ähnliche Bezirke am Rande der Metropolen klein im Vergleich zu Städten wie Rio de Janeiro, Buenos Aires oder Manila. Dennoch kündigte Li ein Programm an, diese Quartiere durch verbesserte Infrastruktur zu sanieren. Angesichts der großen Renditen, die in Chinas Immobilienwirtschaft zu erzielen sind, ist nicht auszuschließen, daß derlei schnell in Verdrängung der ursprünglichen Bewohner münden kann.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang, daß sich Li nicht zum System der Haushaltregistrierung äußerte. Diese »Hukou« genannten Vorschriften sind vermutlich der wichtigste Grund, weshalb es in China keine größeren Elendsquartiere gibt. Zugleich sind sie aber auch ein wirksames Unterdrückungsmittel. Die Regelung weist jedem Bürger einen offiziellen Wohnsitz zu, den er nur mit Erlaubnis der Behörden ändern kann. An diesen sind unter anderem auch viele Sozialleistungen, manchmal sogar das Recht auf einen Schulplatz für die Kinder gebunden. In der Praxis bedeutet das Hukou-System, daß die vom Land stammenden Arbeiter in der Stadt oft nur als Geduldete leben. Fallen sie auf, weil sie gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder nicht gezahlte Löhne protestieren, können sie von den Behörden leicht abgeschoben werden. In den letzten Jahren hat es einige Erleichterungen gegeben, verschiedene Politiker und Intellektuelle haben wiederholt an prominenter Stelle die Abschaffung gefordert. Aber da Li sich in seiner Antrittsrede und seiner Pressekonferenz nicht dazu geäußert hat, deutet vieles darauf hin, daß eine entsprechende Reform – wenn überhaupt – nur ganz unten auf seiner Prioritätenliste steht.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 28. März 2013


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