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Weniger Sparen

Ökonomen raten Chinas Regierung, Staatsverschuldung langfristig auszuweiten

Von Wolfgang Pomrehn *

Irgendwie sind sie richtige Spielverderber, diese Chinesen: Da meinte mancher Linker hierzulande schon, nun habe mehr oder weniger die finale Krise des Kapitalismus begonnen. Immerhin rauschten die ökonomischen Eckdaten in den meisten Industriestaaten Ende 2008 und Anfang 2009 tiefer als je zuvor seit den Krisenjahrzehnten der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in den Keller. Doch in der Volksrepublik zeigte man sich davon wenig beeindruckt. Nach einem kurzen Stottern im vergangenen Winter faßte die chinessiche Wirtschaft schnell wieder Fuß und überbot 2009 mit 8,7 Prozent sogar einmal mehr das Wachstumssoll von acht Prozent.

Chinas ökonomischer Aufstieg scheint selbst durch eine tiefe Krise in seinen wichtigsten Abnehmerländern nicht aufzuhalten zu sein. Dank eines frühzeitig aufgelegten Konjunkturprogramms konnte der Rückgang der Ausfuhren wett und gleichzeitig wichtige Infrastrukturprojekte auf den Weg gebracht werden, wie etwa der Ausbau der Hochspannungsnetze, um neue Windparks effizient anzuschließen. Nun hat eine im Auftrag der OECD, dem Club der reichsten Industriestaaten, verfaßte Studie dem Land bestätigt, daß es schon in den nächsten fünf bis sieben Jahren die USA als größten Hersteller industrieller Güter ablösen könnte.

Aber Ökonomie ist wesentlich mehr als Aufbau neuer Industrien. Der Bericht rät der Regierung, nach dem Konjunkturprogramm nicht in alte Gewohnheiten zurückzufallen und zu sparsam zu sein. Die öffentlichen Ausgaben müßten stattdessen weiter zunehmen und vermehrt in soziale Sicherungssysteme und Erziehung fließen. Seit langem wird in China diskutiert, daß insbesondere der Aufbau verläßlicher öffentlicher Renten- und Krankenversicherungen nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit ist, sondern auch ökonomisch äußerst sinnvoll. Sie könnten nämlich einen Teil der in der Gesellschaft reichlich vorhandenen privaten Spargroschen freisetzen und in den Konsum lenken. Letzteres würde die Entwicklung von auf den Binnenmarkt orientierten Wirtschaftszweigen fördern.

Aber nicht nur die Bürger sitzen auf ihren Spargroschen, auch der Staat ist vergleichsweise knauserig. Mit derzeit rund 25 Prozent des Bruttonationaleinkommens ist die öffentliche Verschuldung im Vergleich zu den Industriestaaten ziemlich gering. Selbst das umfangreiche Investitionsprogramm, das der Binnenkonjunktur Beine machen soll, hat die Staatsverschuldung um lediglich drei Prozentpunkte erhöht. In der OECD, so die Studie, betrage die Verschuldungsrate hingegen etwa 100 Prozent und sei weiter am wachsen.

In den Ohren chinesischer Bürger hört sich das vermutlich ziemlich aberwitzig an. Das Land hat bisher eine international nahezu beispiellose Sparrate. Kaum irgendwo sonst wird ein so hoher Anteil des Einkommens auf die hohe Kante gelegt. Zumindest ein Teil dieser Gelder würden auch die meisten chinesischen Experten lieber direkt in den Konsum fließen sehen, um den Binnenmarkt stärker anzukurbeln. Die Regierung in Peking verfolgt bereits seit einigen Jahren eine Politik in diesem Sinne und hat zum Beispiel die finanzielle Ausstattung der Schulen in den Dörfern verbessert, so daß dort jetzt für die ersten acht Schuljahre keine Schulgebühren mehr erhoben werden dürfen. Doch der Weg bis zum entwickelten Sozialstaat ist noch weit und die Armut insbesondere auf dem Land noch immer groß.

Der Ausbau des Binnenmarktes, den die OECD-Ökonomen im Einklang mit chinesischen Fachleuten einfordern, könnte auch helfen, die übermäßige Abhängigkeit von der Exportindustrie zu mindern. Starke Einbrüche der Ausfuhren hatten die chinesische Wirtschaft im vergangenen Winter kurzfristig erheblich stolpern lassen. Etliche Millionen Wanderarbeiter verloren kurzfristig ihren Arbeitsplatz. Zahlreiche neue Bauvorhaben an Eisenbahnen, Straßen, Stromnetzen und ähnlichem sorgten jedoch einerseits für neue Jobs, und halfen andererseits den Handelsbilanzüberschuß abzubauen. Damit dieser Strukturwandel von Dauer ist, muß allerdings auch der private Konsum stärker angekurbelt werden. Die OECD-Ökonomen empfehlen hierfür unter anderem eine Anhebung der Mindestlöhne.

Sorgen machen einigen Beobachtern Überhitzungstendenzen auf den Immobilienmärkten in den großen Metropolen des Landes. Auch der Umfang der Kreditmenge ist besorgniserregend. In der Volksrepublik ist unter Experten eine erhitzte Debatte im Gange ob und vor allem in welchem Umfang gegengesteuert werden muß. Zu billiges Geld könnte die Inflation in die Höhe treiben. Der könnte auch mit einer Aufwertung des chinesischen Yuan gegengesteuert werden, die ohnehin aus den USA und Europa immer wieder gefordert werden. Dadurch würden Importe verbilligt, was das allgemeine Preisniveau drücken würde. Andererseits würde eine Aufwertung Ausfuhren verteuern und damit der Exportindustrie Steine in den Weg legen. Die Antwort auf dieses Dilemma wird 2010, da sind sich die meisten Beobachter einig, eine langsame, strikt kontrollierte Aufwertung sein, die hinter den ausländischen Forderungen zurückbleibt, aber dennoch Druck abbaut.

* Aus: junge Welt, 6. Februar 2010


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