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Herr Xu und der Groll der Minderheit

Die Eskalation in Xinjiang war voraussehbar, auch wenn das nicht jeder wahrhaben will

Von Anna Guhl, Peking *

Trotz des offiziellen Verbots waren in Ürümqi, der Hauptstadt des chinesischen Autonomen Gebiet Xinjiang-Uigur, am Freitag mehrere Moscheen geöffnet. Diese sollten aus Sicherheitsgründen ursprünglich geschlossen bleiben. Seit einer Woche war es wiederholt zu Zusammenstößen zwischen der muslimischen Minderheit der Uiguren und Chinesen gekommen.

Ich mache mir Sorgen, denn meine SMS an chinesische Freunde im fernen Ürümqi sind nicht angekommen. Ich denke an unbeschwerte Ferientage in Ürümqi und Umgebung vor zwei Jahren zurück. Xu, unser Reiseleiter, ein junger, selbstbewusster Chinese, hatte uns auf dem Flughafen in Ürümqi empfangen. Stolz hat er uns durch das moderne Ürümqi und die alten Stätten entlang der traditionellen Seidenstraße in der näheren Umgebung geführt. Für Xu gehört die Region seit der Han Dynastie zum rechtmäßigen chinesischen Territorium. Seine Eltern lebten zwar ursprünglich in der zentralchinesischen Provinz Hunan. Während der »Kulturrevolution« in den 60er Jahren wurden sie nach Xinjiang »umgesiedelt«. Xu ist in Ürümqi geboren und aufgewachsen. Er kann sich keine andere Heimat als Ürümqi mehr vorstellen.

Für Xu hat es in Xinjiang immer Han-Chinesen gegeben, und das Verhältnis zu den vielen anderen Nationalitäten in der Region ist aus seiner Sicht entspannt, eigentlich freundschaftlich. Von Ressentiments, gar Feindseligkeiten oder Konflikten zwischen Chinesen und Angehörigen nationaler Minderheiten will Xu nichts wissen. Und doch lebt die muslimische Bevölkerung separat in einem eigenen Viertel in der Hauptstadt. Das Straßenbild von Ürümqi ist chinesisch geprägt: Mehrstöckige Bürohäuser, moderne Einkaufspassagen, weite Plätze, breite Straßen, viele Leuchtreklamen. Ürümqi unterscheidet sich wenig von anderen chinesischen Provinzhauptstädten. Erst auf dem zweiten Blick nimmt der Besucher die arabischen Schriftzeichen an Läden und Restaurants wahr. Im Zentrum von Ürümqi erhebt sich auf dem weiten Platz des Volkes ein überlebensgroßes Monument, das an den siegreichen Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee vor 60 Jahren erinnern soll. Morgens wie abends tummeln sich am Fuße des hohen Steines die Bürger von Ürümqi. Sie tanzen und lachen, treiben Sport. Auch Muslime und andere Nationalitäten sollen unter ihnen sein, behauptet Xu. Nur, mir sind sie dort nicht aufgefallen. Ich habe sie allein in ihrem, dem muslimischen Viertel erlebt. Dort, wo sie ihr alltägliches Leben gestalten, ihren Basar haben, ihre Musik hören und ihre Sprache sprechen. Chinesen sind in diesen Gassen kaum zu finden. Allein als Ordnungshüter, bewaffnet und in Uniform tauchen sie immer wieder wie aus dem Nichts an Kreuzungen und Straßenecken auf.

Nun sind die uigurische Bürger ins Zentrum von Ürümqi gekommen, auf den Volksplatz und die angrenzenden Straßen. Sie verlangten zunächst nach Aufklärung der Vorfälle in Shaoguan im fernen Guangdong Ende Juni, als zwei Uiguren bei Massenschlägereien in einer Spielzeugfabrik umgekommen sind. Als Polizei aufläuft, wehren sie sich und schlagen los. Der Groll auf die chinesischen Mitbürger und ihren stets vorhandenen chinesischen Großmachtdrang sitzt tief. Dazu bedurfte es auch nicht der Aufrufe aus dem Ausland. Sie wollen ihre Interessen und Rechte in den gesellschaftlichen Abläufen besser wahrgenommen wissen, mehr mitbestimmen, mehr teilhaben am wachsenden gesellschaftlichen Reichtum, mehr Beachtung und Anerkennung ihrer Leistungen, ihrer Kultur und Tradition auch unter der chinesischen Bevölkerung finden.

Dabei will die Führung in Peking auch die Regionen entwickeln, die bisher wenig vom großen Kuchen Reform und Öffnung abbekommen haben. Ähnlich wie in Tibet investiert die chinesische Regierung auch in Xinjiang Millionen in den Aufbau einer modernen Infrastruktur und leistungsfähigen Wirtschaft. Auch in Xinjiang sind die Wachstumsraten der letzten Jahre durchweg zweistellig. Kurz vor den Toren von Ürümqi entstand der größte Windpark des Landes und versorgt Ürümqi weitestgehend mit »grünem« Strom. Xinjiang verfügt über beste Bedingungen für ertragreiche Landwirtschaft. Natürlich ist Chinas Führung auch an den zahlreichen Bodenschätzen, wie Kohle, Erdgas und Erdöl interessiert. Die Region, die fünfmal größer ist als die Bundesrepublik, aber mit knapp 19 Millionen Einwohner, eher dünn besiedelt, eignet sich hervorragend für Testzwecke in der Raumfahrt- und Raketentechnik.

Da sich Xinjiang auch in unmittelbarer Nähe zu Pakistan und Afghanistan befindet, wird das Territorium als äußerst sensibel für die chinesische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik angesehen. Regionale Organisationen, die sich mit den Interessen und Rechten von Minderheiten in diesem Gebiet befassen, sind für die chinesische Regierung von vorherein suspekt. Daher gibt es auch ständig Querelen zwischen der deutschen und chinesischen Regierung hinsichtlich des 2004 in München gegründeten »Weltkongress der Uiguren«, der aus chinesischer Sicht allein dem Terrorismus, Separatismus und religiösen Fanatismus das Wort redet. Dabei hat er sich als deutsche Organisation entsprechend geltendem deutschem Recht als Interessensvertretung der im Ausland lebenden Uiguren gegründet.

Für die chinesische Führung stehen derzeit wirtschaftliche Entwicklung und gesellschaftliche Stabilität ganz oben auf der politischen Agenda. Sie wird – ohne Rücksicht auf ihr Ansehen im Ausland und wenn notwendig auch mit Gewalt – alles dafür tun, damit schnellstens Ruhe und Ordnung in die Provinz einkehren. Allerdings wird sie sich den Verfehlungen in ihrer Minderheitenpolitik in den vergangenen 60 Jahren stellen müssen. Und sie wird nicht umhin kommen, neue Wege im Umgang mit den Minoritäten einzuschlagen. Auf Dauer werden die Konflikte weder in Tibet noch in Xinjiang mit Gewalt und Unterdrückung zu lösen sein.

* Aus: Neues Deutschland, 11. Juli 2009


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