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Chinas Traum und sein Unmut

Nicht allein die Führung in Peking fühlt sich zu Unrecht angegriffen

Von Anna Guhl, Peking *

»One world, one dream« - Die Welt verbunden durch einen Traum. So stellt sich China die Olympischen Spiele in Peking vor, so betrieb es die Vorbereitungen. Seit Freitag keimt wieder Hoffnung, dass dieser Traum Wirklichkeit wird.

Chinas Führung ist bereit, die Gespräche mit persönlichen Vertretern des Dalai Lamas wieder aufzunehmen. Ein ermutigendes Signal wenige Stunden nach Eintreffen des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso und seiner Kommissare in Peking. Gerade die Regierungen Westeuropas hatten sich seit Beginn der Unruhen in Tibet für einen Dialog mit dem Dalai Lama eingesetzt. Chinas Tibetpolitik war in westlichen Medien heftig kritisiert worden, in Paris und London war es zu schweren Angriffen auf das olympische Feuer gekommen. Selbst der Boykott der Spiele wurde diskutiert. Die chinesische Führung, hieß es, habe sich nicht an die Versprechungen gehalten, die Gesellschaft offener, tranparenter und ziviler zu gestalten.

China fühlt sich zu Unrecht angegriffen. Wurden nicht alle Termine gehalten? Pekings Infrastruktur wurde erneuert, modernste Sportstätten wurden geschaffen, Grünanlagen an jeder Ecke angelegt, die Luftqualität wurde verbessert - zumindest gibt man sich größte Mühe -, auch die Pläne zur Regelung des zuweilen chaotischen Verkehrs sind bereits fertig.

Den bisherigen Hauptstörfaktor Taiwan hat China unter Kontrolle. Nicht erst seit dem Sieg der prochinesischen Nationalisten bei den jüngsten Präsidentenwahlen auf der Insel kommen sich beide Seiten durch geduldige und pragmatische Aufarbeitung konkreter Themen näher. Peking hat seine konfrontative Polemik gegenüber Taiwan zurückgenommen -- und sollte nun über Tibet stolpern?

Während aber »der Westen« die Tibetfrage als Auseinandersetzung um Werte und Rechte betrachtet, wird sie in China allein als nationales und Souveränitätsproblem wahrgenommen. Wenn im Westen der Dalai Lama als Buddhist und religiöser Führer einer Glaubensgemeinschaft anerkannt und empfangen wird, fühlt sich Peking in seinem Kerninteresse angegriffen. Unterschiede in der Wahrnehmung führen wieder einmal zu Unverständnis und Unmut auf beiden Seiten, die Kommunikation gerät ins Stocken. Und je größer der Druck wird, um so schneller tourt Chinas Propagandaapparat, der Staat demonstriert Stärke in den eigenen Medien, gepaart mit bemüht kontrolliertem Nationalismus, der geschickt für das eigene Image und die Legitimation eingesetzt wird.

Wenige Wochen vor Beginn der Eröffnungsfeier der Pekinger Spiele am 8. August ist die Kluft zwischen den Mächtigen in Westeuropa und China plötzlich so groß wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. In Chinas Internetforen wird »der Westen« einhellig verurteilt. Sogar vor Vergleichen mit der Besetzung Pekings durch die Armeen der seinerzeit acht mächtigsten Staaten um die Wende zum 20. Jahrhundert schreckt man nicht zurück. Vor allem junge Chinesen rufen zum Boykott französischer Waren auf. Französische Supermärkte sollen gemieden werden. In bisher nie dagewesener Geschlossenheit machen Chinesen in aller Welt ihrer Empörung über die China-Berichterstattung in westlichen Medien Luft, wenden sich gegen die undifferenzierte Wahrnehmung Chinas und seiner Entwicklung und stellen selbst ihren eigenen Umgang mit der westlichen Umwelt in Frage. Dabei sind die meisten von ihnen kaum Freunde der chinesischen Führung, viele sind gerade wegen ihrer Politik ins Ausland gegangen und genießen durchaus die bürgerlichen Freiheiten, die westliche Gesellschaften bieten. Doch wer bisher annahm, dass im Westen ausgebildete und mit dortiger Denkweise vertraute junge Intellektuelle und Geschäftsleute einfach auf das westliche Demokratiemodell aufspringen, wird nun eines besseren belehrt. Der wachsende materielle Wohlstand in China selbst, Reisemöglichkeiten und Karrierechancen für junge engagierte und motivierte Chinesen lassen auch den Nationalstolz wieder erwachen. Neue Hoffnung keimt, nach Jahrhunderten internationaler Ächtung und Ausgrenzung Chinas endlich wieder gehört und ernst genommen zu werden.

Es ist ja auch nicht Tibet, das die westliche Welt umtreibt. Vielerorts besteht ein breiter Konsens, dass Tibet völkerrechtlich zu China gehört, und das nicht erst seit Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949. Auch die Tatsache, dass bis zur Machtübernahme der Kommunisten dort feudale Leibeigenschaft herrschte, wird niemand ernsthaft in Frage stellen wollen. Ebenso nicht, dass sich vor allem in den Jahren von Reform und Öffnung enorm viel in Tibet getan hat: Eine moderne Infrastruktur wurde aufgebaut, öffentliche Sozialeinrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen wurden eingerichtet, das Leben wurde auch dort materiell reicher, bunter, angenehmer und lebenswerter. Was den Westen sorgt, ist Chinas rasantes, ungebremstes Wirtschaftswachstum, das zunehmend die globalen Wirtschaftsprozesse beeinflusst: Rohstoffe werden knapper und die Konkurrenz wird heftiger. China greift alte Besitzstände auf neuen Absatzmärkten an, mischt die internationalen Finanzmärkte auf und muss immer öfter zur Diskussion brisanter Themen hinzugebeten werden, weil ohne China vieles nicht mehr zu regeln ist.

Schon ist China nicht allein für viele Länder in der Dritten Welt ein attraktives Modell, weniger in politisch-ideologischer Hinsicht, mehr als politisch pragamatisch handelnder Handels- und Wirtschaftspartner. China kann viel geben, um noch mehr zu nehmen, was es für die eigene Wirtschaftsentwicklung braucht. In Peking weiß man: Nur die materielle Modernisierung -- und die forciert sie wie alle aufstrebenden Großmächte in der Vergangenheit -- kann das Land stark und unangreifbar machen, im Inneren wie von außen. Und darauf hat »der Westen« bisher keine effektive Antwort, er fühlt sich getrieben, unter Druck gesetzt und reagiert ebenfalls »klassisch«, indem er seine »Stärken« ins Spiel bringt: politische und bürgerliche Freiheiten, Rechtsicherheit, Trans-parenz. Und findet immer noch ausreichend Ansatzpunkte für Kritik an China, das sich zwar sehr verändert hat, wo aber gewisse Grundfesten unverändert blieben -- und damit auch die Gefahr, in die »alten Muster« zurückzufallen.

* Aus: Neues Deutschland, 29. April 2008


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