Als Mensch, als Buddhist, als Tibeter
Dalai Lama und Exilregierung versuchen, Selbstverbrennungen zu erklären
Von Stefan Mentschel, Delhi *
Die in kurzen Abständen verbreiteten
Nachrichtungen über Selbstverbrennungen
von Tibetern sorgen weltweit
für Entsetzen. Doch die tibetische
Exilregierung und der Dalai Lama
halten sich bei der Bewertung der Ereignisse
auffallend zurück.
Keine Woche vergeht ohne eine
neue Meldung darüber, dass sich
in China – oder auch einem Nachbarland
– ein Tibeter mit Benzin
übergossen und in Brand gesetzt
hat. Nach Angaben der in Indien
ansässigen tibetischen Exilregierung
haben sich in den letzten Tagen
erneut drei junge Mönche aus
Protest gegen die Politik Pekings
angezündet. Mindestens zwei von
ihnen seien gestorben, hieß es.
Erst Mitte Februar hatte es in Tibet
und Nepal fünf ähnliche Zwischenfälle
gegeben. Seit Beginn der
Selbstverbrennungen im Jahre
2009 verzeichneten Aktivisten
insgesamt 107 solcher Aktionen,
denen mindestens 90 Menschen
zum Opfer fielen.
Bei den rund 150 000 Tibetern
im indischen Exil wächst mit jeder
neuen Selbstverbrennung die Wut
über die ihrer Meinung nach festgefahrene
politische Situation in
der alten Heimat, aber auch die
Sorge um zurückgebliebene
Freunde und Verwandte. Artikuliert
wird diese Stimmung von der
tibetischen Exilregierung mit Sitz
im nordindischen Dharamsala.
»Wir sind Menschen und wollen
nicht zusehen, wie jemand
stirbt«, sagte Exilpremier Lobsang
Sangay in einem Interview. »Daher
haben wir wiederholt dazu aufgerufen,
nicht zu drastischen Mitteln
zu greifen, wozu Selbstverbrennungen
gehören.« Sangay, der
schon in Indien geboren wurde, an
der Harvard Law School in den
USA Rechtswissenschaften studiert
und gelehrt hat, seit 2011 der
Exilregierung in Dharamsala vorsitzt,
aber noch nie selbst in Tibet
war, äußerte zugleich Verständnis
für die Aktionen seine Landsleute.
Ursache für die Proteste seien »die
fortwährende Besatzung Tibets,
politische Unterdrückung, wirtschaftliche
Marginalisierung und
kulturelle Assimilierung« durch
die chinesische Regierung. Daher
trage Peking auch die politische
Verantwortung für die Selbsttötungen.
Sangay fasste die zwiespältige
Haltung seiner Exilregierung, die
kaum Einfluss auf die Lebenswirklichkeit
der Tibeter innerhalb
Chinas hat, schließlich so zusammen:
»Als Mensch versucht man
also, sie davon (von den Selbstverbrennungen)
abzubringen. Als
Buddhist betet man für sie. Und als
Tibeter bekundet man seine Solidarität.«
Einer allerdings hätte wohl die
Autorität, den Lauf der Dinge zu
beeinflussen – der Dalai Lama.
Viele der buddhistischen Mönche
riefen vor ihren Selbstverbrennungen
den Namen ihres geistlichen
Oberhaupts und forderten
seine Heimkehr nach Tibet. Immer
wieder wurden Klöster zu Schauplätzen
für die selbstmörderischen
Protestaktionen. Die chinesische
Regierung leitet daraus den Vorwurf
ab, der Dalai Lama selbst
stifte seine Anhänger an, sich in
Brand zu setzen.
In der Tat würde der Dalai Lama
zu den Geschehnissen auf der
anderen Seite des Himalaja-Massivs
wohl lieber schweigen. Ein
Grund dafür ist, dass er 2011 alle
politischen und administrativen
Aufgaben an Regierungschef Lobsang
Sangay übertragen hat. Die
Selbstverbrennungen seien ein
»äußerst sensibles politisches
Thema«, erklärte er gegenüber der
britischen BBC. »Wenn ich mich
jetzt einmischen würde, dann wäre
die Übergabe der politische Macht
bedeutungslos gewesen.«
Gleichwohl kommt der 14. Dalai
Lama (der »ozeangleiche Lehrer«)
Tendzin Gyatsho, nicht an dem
Thema vorbei. »Was dort (in Tibet)
passiert, treibt mir die Tränen in
die Augen«, sagte er im indischen
Fernsehen. »Doch die Menschen
tun das nicht, weil sie betrunken
sind oder familiäre Probleme haben,
sondern weil sie in ständiger
Angst (vor den chinesischen Behörden)
leben.«
Im US-Sender NBC versuchte er
sich zudem an einer ethisch-religiösen
Bewertung, die einer
Rechtfertigung sehr nahe kam.
Selbstverbrennungen seien seiner
Ansicht nach eine Form des »gewaltfreien
Widerstands«. Wenn
sich ein Mensch also aus »aufrichtigen
Gründen« und »für das Wohl
seines Volkes« opfere, könne das
aus buddhistischer Sicht durchaus
»positiv« bewertet werden, erklärte
er. Trotzdem stimmten ihn
die Verzweiflungstaten der jungen
Leute »sehr, sehr traurig«. Chinas
Regierung müsse daher endlich
nach den wahren Ursachen der
Proteste in Tibet suchen.
Die Regierung in Peking ihrerseits
hält sich nicht nur den Wiederaufbau
tibetischer Klöster nach
der zerstörerischen »Kulturrevolution
« zugute, sondern verweist
auch auf die ökonomische und soziale
Entwicklung Tibets, die zu
höherem Lebensstandard, besserer
Bildung, medizinischer Versorgung
und zur »rapiden Zunahme
« der tibetischen Bevölkerung
geführt habe. Letzteres auch ohne
den Zustrom von Han-Chinesen in
die Autonome Region. Gerichte
sprechen inzwischen harte Urteile
gegen Tibeter aus, die beschuldigt
werden, andere zur Selbstverbrennung
angestiftet oder derartige
Aktionen nicht verhindert zu
haben.
* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 28. Februar 2013
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