Gedämpfte Jubelarien
Der Dalai Lama wird 75, eine gute Gelegenheit für propagandistische Tiraden gegen die Volksrepublik China. Doch der Hype um "Seine Heiligkeit" läßt nach
Von Colin Goldner *
Am heutigen Dienstag (6. Juli) feiert »Seine Heiligkeit« der 14. Dalai Lama, Tendzin Gyatsho, seinen 75. Geburtstag. Die hiesige Qualitätsjournaille, von Bild bis Spiegel, wird ihm den gewohnten Ehrerbietungsstrauß flechten aus schwiemeliger Hofberichterstattung und propagandistischen Breitseiten gegen China, die einschlägig Verdächtigen aus Politik und TV-Unterhaltung, von Roland Koch bis Marcus Lanz, werden ihm artig ihr Sprüchlein aufsagen. Und selbst Bundesaußenminister Guido Westerwelle wird, ungeachtet der Schwulenfeindlichkeit des »Führers vom Dache der Welt«, seine Reverenz erweisen.
Der Umstand, daß der Dalai Lama als oberster Repräsentant einem brutalen
und ausbeuterischen theokratischen Unterdrückersysteme vorstand, bleibt
dabei, wie üblich, unerwähnt. Kein Wort über die bittere Armut, in der
die große Masse der Menschen in Tibet dahinzuvegetieren genötigt war,
über ihre elenden Behausungen, die immer wieder grassierenden
Hungersnöte; kein Wort zu Schuldknechtschaft und Sklaverei, in der sie
unentrinnbar und über Generationen hinweg gehalten wurden, ausgebeutet
bis aufs Blut von einer winzigen Schicht aus Adel und hohem Klerus.
Allein die Familie des Dalai Lama, die nach seiner Inthronisierung 1939
in den höchsten Adelsstand erhoben worden war, besaß 27 Landgüter samt
der diese bewirtschaftenden Familien: mehr als 40000 Menschen in
persönlicher Leibeigenschaft.
Schlechtes Karma
Privilegierte beziehungsweise benachteiligte Lebensumstände wurden
erklärt und gerechttfertigt durch die buddhistische Karmalehre,
derzufolge sich das gegenwärtige Leben als Ergebnis angesammelten
Verdienstes bzw. aufgehäufter Schuld früherer Leben darstelle. Wer sich
als unterdrückter und ausgebeuteter Bauer gegen die miserablen
Lebensumstände zur Wehr zu setzen wagte, häufte, so die Doktrin der
Lamas, schlechtes Karma an, mit der Folge furchtbarer Strafen im
Zwischenleben zwischen Tod und Wiedergeburt, und noch elenderer
Lebensbedingungen in der nächsten Inkarnation. Ganz zu schweigen von
drohenden Strafen in diesem Leben: das Strafrecht des tibetischen
Priesterstaates zeichnete sich durch Willkür und unglaubliche
Grausamkeit aus. Unbotmäßigen wurde bei lebendigem Leibe die Haut
abgezogen, bei leichteren Vergehen stach man ihnen die Augen aus oder
hackte ihnen die Hände ab. Derlei Strafmaßnahmen waren bis in die Ägide
des gegenwärtigen Dalai Lama hinein üblich, jedes Kloster verfügte
insofern über eine eigene Folterkammer.
Wesentliches Unterdrückungsinstrument des Priesterstaates war
allgegenwärtige und sämtliche Ebenen des Lebens durchziehende religiöse
Indoktrination, die mit der Lehre des Buddhismus, wie man sie aus
anderen Ländern Südostasiens kennt und wie sie, streckenweise zumindest,
durchaus fortschrittliche Ideen in sich trägt, wenig bis gar nichts zu
tun hat. Der tibetische Buddhismus ist ein abstruses Konglomerat aus
animistischem Geister- und Dämonenglauben. Den gab es in Tibet schon in
vorbuddhistischer Zeit, verbunden mit menschenunwürdigen Demuts- und
Unterwerfungsritualen. Wie jede Religion basiert er wesentlich auf
raffiniert und gezielt geschürter Angst vor dem Jenseits, respektive dem
Zwischenleben, Bardo genannt, bis zur nächsten Reinkarnation. Horrende
Monster-, Vampir- und Teufelsvorstellungen durchziehen dieses
Bardo-Zwischenleben, das zwischen 49 Tagen und Äonen unvorstellbarer
Länge dauert. Wer die Gebote der Lamas nicht befolgt, findet sich
unweigerlich in einer der sechzehn Höllen des Bardo wieder. Eine davon
besteht aus einem »stinkenden Sumpf von Exkrementen«, in dem man bis zum
Hals versinkt; zugleich wird man »von den scharfen Schnäbeln dort
lebender riesiger Insekten bis aufs Mark zerfressen und zerpickt«. In
anderen Höllen wird man verbrannt, zerschlagen, zerquetscht, von
Felsbrocken zermalmt oder von Teufelsmonstern mit riesigen Rasiermessern
in tausend Stücke zerschnitten - und das immer wieder aufs Neue. In der
dann folgenden Reinkarnation wird man womöglich nicht als Mensch
wiedergeboren, sondern als Tier, als Hund etwa oder als Wurm. Als
Höchststrafe für einen Mann gilt eine Wiedergeburt als Frau.
Was derlei pathologischer Strafwahn mit Höllenqual, mit Teufeln,
Monstern und Vampiren in den Köpfen einfach strukturierter, ungebildeter
Menschen anrichtet - ganz zu schweigen von den Köpfen drei- oder
vierjähriger Kinder, die man damit vollstopft -, läßt sich nicht einmal
ansatzweise erahnen. Der Dalai Lama jedenfalls erklärt unmißverständlich
und mit wie üblich infantil-kicherndem Unterton, daß die in den
buddhistischen Texten mit sadistischem Detaillreichtum beschriebenen
Folterqualen keineswegs metaphorisch zu verstehen seien, sondern daß
diese karmischen Strafen, samt den 16 Höllen, wirklich und ganz real
existieren. Der Höllen- und Monsterwahn war das wesentliche Macht- und
Unterdrückungsinstrument der Lamas, mit dem sie die Menschen mit bis an
den schieren Irrsinn heranführenden Ängsten besetzten.
Von alledem ist in den Geburtstagselogen für »Seine Heiligkeit« nicht
die Rede. Statt dessen werden die Glückwunsch- und Ergebenheitsadressen
in gewohnter Manier genutzt, nicht zuletzt vom ihm selbst, für
propagandistische Tiraden gegen die Volksrepublik China, deren im
zurückliegenden Vierteljahrhundert geleistete soziale und
wirtschaftliche Aufbauarbeit im Gebiet der tibetischen Ethnien in der
Berichterstattung völlig ausgeblendet wird. Vielmehr wird die
Volksrepublik vom Gros der Westmedien als gnadenlos repressive
Besatzungsmacht vorgestellt, deren langfristiges Ziel in der völligen
Auslöschung der tibetischen Kultur liege.
Tatsächlich gibt es nicht den geringsten Hinweis auf einen - wie der
Dalai Lama es nennt - »fortschreitenden kulturellen Genozid« in Tibet,
ganz im Gegenteil: Tibetische Kultur und Freizügigkeit - Wissenschaft,
Literatur, Kunst - blühen in einem Maße, wie dies zu Zeiten des
Lama-Regimes völlig undenkbar war. Die stete Klage über Verstöße Pekings
gegen die Rechte der tibetischen Bevölkerung - zutreffend in der Tat bis in die 1980er hinein - spiegelt längst nicht mehr die Realität Tibets wider. Entgegen anderslautender Propaganda gibt es auch keinerlei
Einschränkung in der Ausübung religiöser Praktiken und Riten -
ungeachtet dessen, was von ihnen zu halten ist. Lediglich Angehörige des
Klerus bekommen Probleme, wenn sie, wie etwa im Vorfeld der Olympischen
Spiele in Peking, Gewalt gegen die chinesische Zivilbevölkerung vom
Zaune brechen.
Langlebenszeremonien
Während hiesige Tibet-Unterstützergruppen Langlebenszeremonien für
»Seine Heiligkeit« veranstalten oder online Gebete und Glückwünsche für
ihn sammeln - in London fand am Wochenende gar ein eigenes Tibet-Konzert statt -, nimmt außerhalb der westlichen Hemisphäre kaum jemand Notiz vom Geburtstag des vormaligen »Gottkönigs«. Am wenigsten in Tibet, wo
weitaus weniger Menschen sich noch für ihn oder seine seit 1959 im
nordindischen Dharamsala ansässige »Exilregierung« interessieren, als er
und seine Anhängerschaft meinen oder großsprecherisch vorgeben.
Und auch hierzulande ist der Hype -im Vergleich zu den großaufgezogenen
Feierlichkeiten und Lobreden anläßlich seines 70. - spürbar gedämpft.
Während der Dalai Lama vor fünf Jahren noch Dutzende von Orden,
Auszeichnungen und Ehrendoktoraten erhielt, nebst »Hessischem
Friedenspreis«, in Büchern, Bildbänden, einer Sonderausstellung mit
Porträtfotos und gar einem eigenen Film über sein Lebenswerk gewürdigt
wurde, ist zu seinem 75. das öffentliche Interesse an ihm geringer
geworden. Der Grund dafür dürfte in der Erinnerung von Journalisten und
Redakteuren an die gnadenlose Manipulation der Medien liegen, die er im
Zuge der Olympischen Spiele 2008 in Szene gesetzt hatte: Seine absurden
Versuche etwa, den marodierenden und um sich prügelnden Mob tibetischer
Mönche, der ganze Straßenzüge Lhasas in Schutt und Asche gelegt und
zahlreiche Tote zu verantworten hatte, als verkleidete chinesische
Soldaten auszugeben. Selbst der Stern, über Jahre hinweg treuestes
Hofberichterstattungsorgan, ging vor geraumer Zeit schon mit einer
kritischen Titelgeschichte auf Distanz.
Nach wie vor aber gibt es immer noch zahllose Gutgläubige, die, über
Geschichte und Gegenwart Tibets nur unzureichend informiert, das
romantische Bild einer friedvollen, harmonischen Mönchsrepublik unter
der Führung eines gütigen, hochweisen und allzeit friedfertigen Dalai
Lama kultivieren und von hiesigen Meinungsmachern bewußt in dieser
Fehlauffassung bestärkt werden. Der insofern hochgezogenen
Tibet-Schimäre wird das Zerrbild einer aggressiven und kulturfeindlichen
Volksrepublik China gegenübergestellt, wie es der Realität nicht entspricht.
* Colin Goldner ist Autor der kritischen Biographie »Dalai Lama: Fall
eines Gottkönigs«, erschienen im Alibri-Verlag in Aschaffenburg. Zum
Weiterlesen: www.gottkoenig.de
Aus: junge Welt, 6. Juli 2010
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