Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Eskalation der Gewalt in Tibet (Xizang) - Gegenseitige Schuldzuschreibungen

Es geht nicht nur um Menschenrechte - Fünf Berichte unter Vorbehalten - Kritische Prüfung der Informationen angemahnt


Prüfen - nicht spekulieren!

Es ist nicht leicht, die in den letzten Tage eskalierenden Auseinandersetzungen in Tibet darzustellen oder gar zu kommentieren. Dazu sind die Nachrichten, die aus Tibet bzw. von Exil-Tibetern aus Indien oder aus Peking zu uns kommen, zu unterschiedlich.

Tibet (chinesisch: Xizang) ist nach der Inneren Mongolei die zweitgrößte Provinz der Volksrepublik China und von der Fläche ungefähr drei Mal so groß wie Deutschland. Das ausgedehnteste und höchstgelegene Hochland der Erde liegt im Durchschnitt 4.500 m ü.M. und ist von lauter Gebirgsgiganten umgeben (Sieben- bis Achttausender). Zugleich ist die Provinz mit seinen zwei Millionen Einwohnern eine der am dünnsten besiedelten Regionen der Erde (2 Einwohner je qkm).

Unabhängig von der wechselvollen Geschichte Tibets und seiner geistlichen Führer und auch unabhängig von der im Zeitverlauf unterschiedlich dosierten Repressionspolitik der Pekinger Zentralregierung ist an der völkerrechtlichen Zugehörigkeit zu China nicht zu zweifeln. Rufe nach Unabhängigkeit Tibets (immerhin fast ein Achtel des gesamten chinesischen Staatsgebiets) werden daher stets auf den erbitterten Widerstand der chinesischen Staatsführung stoßen und sind politisch verantwortungslos. Möglich, dass die Verbesserung der Menschenrechtssituation in Tibet (und die Situation scheint in der Tat dramatisch schlecht zu sein) nur parallel zur Besserung der allgemeinen Menschenrechtslage in China (die insgesamt ja auch nicht zum besten bestellt ist) sich vollziehen kann und nicht vorher im Alleingang.

Völlig unterschiedlich reagieren auch Politiker, Friedensbewegte und Politikwissenschaftler auf die Einwirkungen von außen - die ja nicht zu läugnen sind. Während die einen spontan weltweit in Umlauf gesetzte Solidaritätsadressen an den Dalai Lama unterzeichnen und die Verantwortung für die Gewaltexzesse ausschließlich auf chinesischer Seite sehen, machen andere auf die weltpolitische Dimension des Konflikts aufmerksam. Natürlich kommt den USA, Japan oder der Europäischen Union eine Schwächung Pekings sehr zupass. War ihnen der Aufsteiger China wirtschaftlich und politisch doch zu sehr über den Kopf gewachsen. Die Rivalitäten zwischen den USA und China sind in Zentralasien und in Afrika mit den Händen zu greifen. Hier geht es nicht zuletzt um ökonomische Interessen, um Märkte und um die knapper werdenden fossilen Energievorräte dieser Welt.

So ist auch der Vorwurf, westliche Geheimdienste hätten bei den Unruhen ihre Hand mit im Spiel, nicht leicht zu entkräften - aber auch nur schwer zu belegen. Ein russischer Politikwissenschaftler vertritt die Meinung, dass vor allem jüngere Exiltibeter gegen den Willen des Dalai-lama, der sich strikt an das Prinzip der Gewaltfreiheit halte (sollten sich Frau Merkel und Herr Koch an dieser Haltung ihres "Freundes" ein Beispiel nehmen!) auch Gewaltmaßnahmen befürworten würden, wenn es denn der "Befreiung" ihrer früheren Heimat dienen könnte.

Aber damit sind wir selbst schon dabei Spekulationen anzustellen. Wichtiger scheint mir, die Nachrichten aus Tibet und über Tibet mit gehöriger Skepsis entgegenzunehmen und kritisch zu prüfen. Nur unter diesem Vorbehalt dokumentieren wir hier und auf anderen Seiten unseres China-Dossiers Berichte und Analysen über den Tibet-Konflikt.

P. Strutynski


Anhaltende Spannungen in Tibet

Exil-Kreise sprechen von 100 Opfern bei Aufständen, Peking vermeldet zehn Tote

Von Daniel Kestenholz, Bangkok *


Die Gewalt in Tibet nach den heftigsten anti-chinesischen Protesten in Tibet seit 1989 eskaliert. Am Sonntag soll es erneut Tote gegeben haben, die Proteste der Mönche weiteten sich aus. Nach Regierungsangaben kamen bei den Unruhen am Freitag zehn Menschen ums Leben. Anwohner in Lhasa und Exil-Kreise sprachen von bis zu 100 Opfern.

Nach den schweren Unruhen in Tibet weisen die chinesischen Behörden ausländische Nichtregierungsorganisationen aus dem Hochland aus. Ein Mitarbeiter in Lhasa berichtete der »Frankfurter Rundschau« am Sonntag: »Alle Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisationen sind angewiesen worden, Lhasa bis spätestens Montag zu verlassen.«

An diesem Montag endet um Mitternacht auch die Frist, bis zu deren Ablauf sich die Anführer der Unruhen der Polizei stellen sollen, wenn sie noch mit Nachsicht und Strafminderung rechnen wollen. Es wurde befürchtet, dass die Polizei nach Ablauf der Frist und der Abreise der Ausländer massiv gegen die Tibeter vorgehen werde. »Dann werden die Sicherheitskräfte zuschlagen«, meinte der Mitarbeiter.

Tibets exilierter Führer, der Dalai Lama, den Peking als Rädelsführer hinter den Unruhen ausgemacht hat, warf den Chinesen »Völkermord« vor. Tibeter gälten als »Bürger zweiter Klasse«, so der Dalai Lama, der eine internationale Untersuchung zu den Vorfällen forderte, die von Peking als die »sorgfältige Planung reaktionärer separatistischer Kräfte« verurteilt wurden – so auch das Hissen der verbotenen tibetischen Nationalflagge in Lhasa.

Die chinesischen Machthaber beschuldigen die »Dalai Clique« um den exilierten Dalai Lama, das spirituelle Oberhaupt der Tibeter, als Rädelsführer hinter den Unruhen, bei denen »Unschuldige« ums Leben gekommen seien. Das Staatsfernsehen CCTV strahlte am Wochenende Bilder von brennenden Autos in Lhasa aus.

Während Peking Separatisten den »Krieg des Volkes« erklärte, nannte der Dalai Lama die Proteste nichts als jahrelang angestauter Hass gegen die Besatzer, der sich entladen habe – und mit der Härte Pekings noch verstärkt würde: Nach einem von Radio Free Asia interviewten Augenzeugen seien am Freitag bei Lhasas Zentralgefängnis Drapchi 26 bei den Unruhen verhaftete Tibeter standrechtlich erschossen worden. Im Ganden-Kloster hätten sich vier Mönche bei lebendigem Leib verbrannt, während chinesische Verwaltungsgebäude und auch das ehrwürdige Ramoche Kloster schwere Zerstörungen erlitten.

Tibets Hauptstadt wirkte am Wochenende wie eine Geisterstadt nach den Gewalttaten von Tibetern gegen zugewanderte Chinesen, die längst Tibets Mehrheitsbevölkerung ausmachen. Lhasa war damit beschäftigt, Autowracks von den Straßen und den Schutt von in Brand gesteckten Gebäuden ethnischer Han-Chinesen wegzuräumen. Panzer und Militärfahrzeuge sicherten Kreuzungen, die Stadt blieb Sperrzone für ausländische Touristen. Demonstranten waren lange keine mehr zu sehen nach der blutigen Niederschlagung von fast einwöchigen Protesten, die am letzten Montag als Friedensmärsche von Mönchen begonnen hatten. Sie erinnerten damit an die Flucht des Dalai Lama aus Tibet vor genau 49 Jahren. Doch im Tagesverlauf kam es erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften und Toten.

Den internationalen Aufrufen zur Deeskalation schlossen sich auch deutsche Politiker an. In einem fast einstündigen Telefonat mit Chinas Außenminister Yang Jiechi am Sonntag sagte sein deutscher Kollege Frank-Walter Steinmeier dem Auswärtigen Amt zufolge, die Bilder der Zerstörung und die »zutiefst bedauerlichen Nachrichten über Tote und Verletzte« zeigten, dass Gewalt keine Lösung der Probleme sein könne. Steinmeier appellierte an Yang, »größtmögliche Transparenz« über die Ereignisse in Tibet herzustellen. Der Obmann der Fraktion DIE LINKE im Auswärtigen Ausschuss, Wolfgang Gehrcke, appellierte »an alle Beteiligten des Konflikts, zur Gewaltfreiheit zurückzukehren.« Gestern fanden die weltweiten Appelle jedoch noch kein Gehör.

* Aus: Neues Deutschland, 17. März 2008


Olympische Spiele setzen China unter Druck

Internationales Olympisches Komitee erteilt Boykottaufrufen eine Absage

Von Daniel Kestenholz, Bangkok *


Bei den Mönchsprotesten in Myanmar wusste die Junta ihren Hauptverbündeten China stramm hinter sich. Jetzt sind Mönchsproteste in China ausgebrochen – im von China beherrschten Tibet. Und das ausgerechnet vor den Olympischen Sommerspielen in Peking, mit denen China sein Image aufpolieren will.

Peking verspricht die »besten Spiele aller Zeiten«. Alles wird diesem Ziel untergeordnet. Selbst auf der politischen Weltbühne gibt sich China versöhnlich wie nie, sitzt lächelnd am Tisch mit alten Rivalen wie Indien und Japan. Nur keine Probleme vor der Olympia, sondern sich als glaubwürdige und belastbare Großmacht beweisen. Das »neue China« war auch ein wesentlicher Grund, weshalb das Internationale Olympische Komitee (IOC) den Chinesen den Zuschlag für die Spiele gab.

Jetzt aber zeigt sich, dass China Olympia vorab als gigantische PR-Aktion sieht, sich selber in den Himmel zu heben. Es genießt den Glimmer und Glanz, scheut aber die Verantwortung. Als Gipfel der Vermessenheit plant Peking sogar, die Olympische Flamme auf den Mount Everest zu tragen, wozu die Aufstiegsrouten für übrige Bergsteiger gesperrt werden.

Alles hat den Olympischen Spielen untergeordnet zu sein. Soweit lief auch alles nach Plan. Bis die Tibet-Unruhen ausbrachen, die China unter Handlungsdruck setzen. Mit den Olympischen Spielen steht China im Scheinwerferlicht der Welt – was auch die Protestierenden bedacht haben dürften.

Die Proteste, so der Dalai Lama, seien »ein Ausdruck der tief verwurzelten Abneigung des tibetischen Volkes unter der gegenwärtigen Herrschaft«. Laut dem 1959 nach einem gescheiterten Aufstand aus Tibet geflohenen Dalai Lama sollen die Olympischen Sommerspiele in Peking zum Anlass für »mehr Druck« gegen Chinas krasse Menschenrechtsvergehen in Tibet genommen werden. An die chinesische Führung appellierte er, »keine Gewalt anzuwenden und die seit Langem schwelende tiefe Abneigung der Tibeter mittels Dialog anzugehen«.

Die USA und EU mahnten China zu Zurückhaltung, wobei Washington zu einem Dialog mit dem Dalai Lama aufrief, mit dem Peking spinnefeind ist. Weltweit wurden Aufrufe zum Boykott der Olympischen Sommerspiele in Peking laut, was Jacques Rogge, Präsident des IOC, zurückwies: »Ein Boykott löst gar nichts, sondern straft im Gegenteil unschuldige Athleten.« Der Hollywood-Star und langjährige Tibet-Aktivist Richard Gere unterstützt einen Boykott, sollte China Tibet weiter mit den Füßen treten. Laut dem konvertierten Buddhisten habe China Tibet seit der Annexion Mitte des letzten Jahrhunderts »missverstanden«. Es sei unerklärlich, wie China »in Momenten wie diesen so töricht und kurzsichtig handeln kann«. »Es ist wie mit einem Dampfkochtopf«, so Gere. »Das Gesetz emotionaler Physik diktiert, dass angestaute Gefühle irgendwann explodieren müssen.«

Die anstehende Olympiade scheint sich tatsächlich als Katalysator für die Unabhängigkeitsbewegung Tibets zu erweisen. Die Weltaufmerksamkeit ist auf ein China gerichtet, das mit Olympia in Peking die »besten Spiele aller Zeiten« und »Harmonie der Völker« verspricht. Bloß zu seinen inneren Konfliktherden Tibet, der muslimischen Unruheprovinz Xinjiang, den Millionen von Umweltopfern und land- und rechtlosen Bauern schweigt die Zentralführung. Peking weiß, der Unruhefunke von Tibet könnte sehr wohl auf andere Konfliktherde im Land überspringen. Tibet wird so zu einer Kardinalfrage für Peking.

Die massive Protestbewegung gegen die chinesischen Besatzer hat bereits ein Eigenleben entwickelt, das nur mit noch mehr Repression unter Kontrolle zu bringen scheint. Gleichzeitig zu den Protesten in Tibet hatte vergangenen Montag im indischen Dharamsala, dem Exilort des Dalai Lama, ein Protestmarsch begonnen, der die chinesische Grenze zum Beginn von Olympia am 8. August erreichen wollte. Doch hatte Indien seiner riesigen tibetischen Exilgemeinde in Vergangenheit kaum je Vorschriften gemacht, brachen Polizeikräfte den Marsch am Donnerstag mit Gewalt ab. Nach Aussagen von Beobachtern handelte Delhi auf Druck Pekings. Einzelne Exil-Tibeter traten in einen Hungerstreik, andere versuchen, den Marsch neu zu beginnen, während Chinas frischgebackener Außenminister Yang Jiechi versichert, dass es niemand schaffen werde, China Olympia zu vermiesen.

* Aus: Neues Deutschland, 17. März 2008


Tibet-Problem: Äußere Kräfte nutzen Lamas für subversive Tätigkeit gegen China - Experte

MOSKAU, 18. März (RIA Novosti). Die tibetischen radikal-nationalistischen Organisationen in westlichen Ländern nutzen friedlich gesinnte buddhistische Mönche (Lamas) zur Vorbereitung von Terror- und Subversionsakten gegen die Staatsmachtorgane im Tibetischen autonomen Bezirk der VR China.

Diese Auffassung vertrat der russische Buddhismusexperte Alexej Maslow, Gastprofessor an der Universität New York, im Gespräch mit RIA Novosti.

„Die drastische Verschärfung der politischen Situation im Tibetischen autonomen Bezirk der VR China war durch die subversive Tätigkeit der politischen Umgebung des Dalai-lama - der so genannten ‚Exilregierung von Tibet’ - provoziert worden, die den geistlichen Führer Tibets und die Mönchsgemeinschaft zur Verschleierung ihrer subversiven Tätigkeit gegen China benutzt“, sagte Maslow.

„Die ausgeprägt friedliche Einstellung des Dalai-lama und seine Bereitschaft, ein Abkommen mit der Regierung Chinas einzugehen, kann die jüngere Generation der Unabhängigkeitskämpfer von Tibet nicht mehr zufriedenstellen. Sie betrachten sich selbst nicht als Staatsbürger der VR China und sind daher bereit, ihr Möglichstes zu tun, um China zu schaden“, so der Experte.

Ihm zufolge habe der Dalai-lama niemals für die Unabhängigkeit von der VR China plädiert und nie zu einem bewaffneten Kampf gegen die chinesischen Behörden öffentlich aufgerufen, sondern nur den eigenen „mittleren Weg“ vorgeschlagen, der eine umfassende Autonomie im Rahmen Chinas vorsieht.

Nach Vermutung des Wissenschaftlers strebt die jüngere Generation der Tibeter, die außerhalb des chinesischen Tibet - in Indien und Nepal - aufgewachsen sind, danach, ihre politischen Ambitionen zu verwirklichen und mit dem Thema des Kampfes für die Unabhängigkeit der historischen Heimat zu spekulieren.

„Diese Vorgehensweise wird durch den Umstand gefördert, dass mehrere westliche nichtstaatliche Organisationen und humanitäre Fonds, so International Campaign for Tibet, Social and Ressource Development Fund, Tibet Information Network, Tibet Institute, Freedom House und andere, der tibetischen separatistischen Bewegung bedeutende Finanzhilfe gewähren“, sagte der Experte.

Auf die Gewaltakte eingehend, an denen tibetische Mönche beteiligt waren, sagte Maslow, die Videoaufzeichnungen zahlreicher Akte von Selbstverstümmelung, da buddhistische Mönche sich aus Protest gegen die chinesischen Behörden verletzten, seien kein normaler Ausdruck erhabener religiöser Gefühle, die den echten Buddhisten eigen seien.

Die tibetischen Mönche hätten ebenso wie Angehörige anderer buddhistischer Strömungen niemals eine politische Tätigkeit betrieben und erst recht keine Waffen in die Hand genommen, denn dies sei vom Buddhismus im Prinzip verboten.

„Als eine religiöse Lehre verbietet es der Buddhismus, Lebewesen Schaden zuzufügen, ganz zu schweigen von Selbstverstümmelung oder Selbstmord“, sagte Maslow.

Wie der Premier des Staatsrates der VR China, Wen Jiabao, am Dienstag auf einer Pressekonferenz sagte, waren die jüngsten Unruhen von Anhängern des Dalai-Lama initiiert, organisiert und durchgeführt worden.

Wie der chinesische Regierungschef zugleich bemerkte, sei China zu einem offenen Dialog mit dem Dalai-lama in dem Fall bereit, wenn dieser auf das Streben nach der Unabhängigkeit Tibets verzichten werde.

„Wir haben wiederholt erklärt, dass wir jederzeit bereit sind, unsere Türen für Verhandlungen zu öffnen, wenn der Dalai-lama seine Spaltertätigkeit einstellen wird“, sagte der Premier des Staatsrates.

Nach offiziellen Angaben der chinesischen Behörden wurden bei den Auseinandersetzungen, die am 10. März im Tibet ausgebrochen waren, 13 Zivilisten getötet.

Anhänger des Dalai-lama, die sich in Indien im Exil befinden, haben am Sonntag (16. März) 80 Tote und 72 Verletzte gemeldet.

Aus: Russische Nachrichtenagentur, 18. März 2008



Über 200 Geschäfte angezündet **

Die Lage im tibetischen Lhasa sei »weitgehend ruhig«, berichteten am Montag (17. März) Bewohner. Viele Menschen arbeiteten wieder, einige Schulen seien geöffnet. Allerdings gebe es eine »starke Präsenz« von chinesischen Sicherheitskräften. In der Nacht zum Dienstag sollte für Teilnehmer an den Unruhen der vergangenen Tage eine Frist ablaufen, in der sie sich der Polizei stellen sollten. Bis dahin könnten sie noch mit Nachsicht und Strafminderung rechnen, hieß es von seiten der Behörden. In exiltibetischen Quellen wurde spekuliert, nach Ablauf des Ultimatums werde es in Lhasa eine »Militäroffensive« geben.

Über die Zahl der Toten, die die Auseinandersetzungen seit Freitag gefordert hatten, lagen am Montag unterschiedliche Angaben vor. Laut dem tibetischen »Exilparlament« im indischen Dharamshala wurden mehrere hundert Menschen getötet. Nunmehr hätten sich die Vereinten Nationen mit der Lage zu beschäftigen. Aus dem Umfeld des Dalai Lama dagegen war weiterhin von »etwa 80 Toten« die Rede, während der Gouverneur Tibets, Qiangba Puncog, am Montag von 13 »unschuldigen Menschen« sprach, die von den Aufständischen »erschlagen oder verbrannt« worden seien. Laut Qiangba zündeten die Demonstranten 214 Geschäfte an. Er zeigte sich »empört«, daß der Dalai Lama sowie westliche Kräfte »den zerstörerischen Amoklauf der Randalierer als ›friedliche Proteste‹ beschreiben«. Die Gewalt sei nicht von staatlicher Seite ausgegangen. 61 Polizisten seien verletzt worden, davon sechs schwer. Chinas Staatsfernsehen zeigte Bilder von Schwerverletzten im Krankenhaus.

Ebenfalls am Montag forderte US-Außenministerin Condoleezza Rice von Peking, Gespräche mit dem Dalai Lama aufzunehmen. Die USA drängen die chinesische Führung schon seit Jahren zu einem Dialog, sagte Rice auf dem Flug nach Moskau. Das russische Außenministerium erklärte dagegen, ein Dialog mit dem Dalai Lama sei eine »interne Angelegenheit« Chinas. Das Außenministerium kritisierte die Versuche, die Olympischen Spiele zu »politisieren«. Rice wollte zusammen mit Verteidigungsminister Robert Gates in Moskau unter anderem über den US-»Raketenschild« in Tschechien und Polen reden. Auch die Lage in Tibet könnte zur Sprache kommen.(AFP/AP/jW)

** Aus: junge Welt, 17. März 2008


Razzien und gespannte Ruhe in Tibet

Peking: Tibet ist innere Angelegenheit / Bundesregierung lehnt Olympia-Boykott ab ***

Die tibetische Exilregierung hat nach den blutigen Unruhen der Vortage vor einem »Massaker« der chinesischen Sicherheitskräfte in Tibet gewarnt. Die EU forderte chinesische Behörden und Demonstranten gleichermaßen zu einem Gewaltverzicht auf.

Die Situation sei sehr ernst, hieß es am Montag (17. März) wenige Stunden vor dem Ablauf eines Ultimatums an Teilnehmer der anti-chinesischen Demonstrationen, sich der Polizei zu stellen. Ausländer wurden angewiesen, Tibet zu verlassen. Bei Razzien in der Hauptstadt Lhasa wurden am Montag einige hundert Tibeter festgenommen.

Die Lage in Lhasa beschrieben Bewohner der Stadt am Montag als ruhig. Die Präsenz der Sicherheitskräfte in den Straßen sei massiv. Bewohner und exiltibetische Gruppen berichteten, dass die Polizei seit Sonntag Razzien vornehme. Tibets Regierungschef Qiangba Puncog berichtete von 13 getöteten unbeteiligten Bürgern. Wie viele Tote es unter den tibetischen Demonstranten gegeben habe, ließ er offen. Zugleich widersprach er Angaben, wonach es bei den Unruhen 90 Tote gegeben habe.

Einen Boykott der Olympischen Spiele in Peking lehnten die Bundesregierung wie auch andere Staaten ab. Man solle den Sport nicht politisieren, sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD). Ein Boykott würde sich allein gegen die Sportler richten. Auch der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der Tibeter, plädierte für ein Festhalten am Sporthöhepunkt des Jahres. In seinem Exil in Indien sagte er: »China verdient, Gastgeber der Olympischen Spiele zu sein.« Allerdings müsse das Land daran erinnert werden, »ein guter Gastgeber zu sein«.

Forderungen nach der Entsendung eines unabhängigen UNO-Gesandten konterte das Außenministerium in Peking mit dem Hinweis, die Entwicklung in Tibet sei eine »innere Angelegenheit«. Dem Dalai Lama, warf Außenamtssprecher Liu Jianchao vor, hinter den Protesten zu stecken. Auf dessen Vorwurf eines »kulturellen Völkermordes« in Tibet entgegnete er, der Dalai Lama verbreite »eine Menge Lügen« und führe die Öffentlichkeit »in die Irre«. Die chinesischen Sicherheitskräfte hätten ein »Höchstmaß an Zurückhaltung« gezeigt und »keine tödlichen Waffen mitgebracht oder eingesetzt«, betonte der Sprecher. Angesichts der »Gräueltaten« und der »massiven Plünderungen und Zerstörungen« der gewalttätigen Demonstranten seien »Maßnahmen ergriffen worden, die jeder Rechtsstaat ergreifen würde«.

Ausländische Journalisten dürften nicht nach Tibet reisen, weil die Lage »ziemlich instabil« sei. Die Beschränkungen seien normal. »Die chinesische Regierung hat nichts zu verstecken«, sagte Liu. Nach zahlreichen Übergriffen auf chinesische Botschaften und Konsulate in aller Welt forderte der Sprecher alle Staaten auf, »konkrete und wirksame Maßnahmen« zu ergreifen, um deren Sicherheit zu gewährleisten.

*** Aus: Neues Deutschland, 18. März 2008


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