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Freies Tibet

Vor 60 Jahren unterzeichneten Vertreter der chinesischen und der tibetischen Regierung das "17-Punkte-Abkommen"

Von Sebastian Carlens *

»Free Tibet« lautet der beliebte Slogan, der auf Aufklebern, Fahnen und T-Shirts die Unabhängigkeit der Autonomen Region Tibet von der Volksrepublik China fordert. Tibet, ein einst selbständiger Staat, sei ab 1950 von der neu gegründeten VR China zunächst militärisch überfallen und später völkerrechtswidrig annektiert worden, so der Mythos, dem auch der Großteil der deutschen Medienlandschaft anhängt. Die »Befreiung«, die der Region heute zugedacht wird, begann für die Mehrheit der Tibeter jedoch schon 60 Jahre früher: Leibeigenschaft und Sklaverei, in der rund 90 Prozent der tibetischen Bevölkerung im »alten Tibet« gefangen waren, blieben keine religiös verbrämten Unveränderlichkeiten mehr.

Von der Feudalherrschaft ...

Das Hochland von Tibet umfaßt einen großen Teil des Himalaya-Gebirges und liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 4500 Metern – dies brachte ihm die Bezeichnung »Dach der Welt« ein. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts hatte sich dort der Gelugpa-Orden, die »Gelbmützen«-Sekte, in mehreren blutigen Religionskriegen gegen die anderen Vertreter älterer buddhistischer Schulen in Tibet durchsetzen können. Hatten die tibetischen feudalen Eliten schon unter der chinesischen Herrschaft während der verschiedenen Dynastien des alten Kaiserreiches weitestgehend freie Hand, so konnten sie unter dem Eindruck der Zerfallserscheinungen, in die das chinesische Reich nach den beiden Opiumkriegen (1839–42 und 1856–60) geriet und der damit einhergehenden Schwächung der Zentralregierung vollends nach der Macht greifen. Die territoriale Zugehörigkeit Tibets zu China wurde dann auch seit dem 19. Jahrhundert ernsthaft in Frage gestellt: Die Briten griffen nach der Provinz und bereiteten von Indien aus deren Übernahme vor. 1911 stürzte eine bürgerlich-demokratische Revolution die letzte (Qing-)Dynastie in China, und in den darauf folgenden Revolutions- und Bürgerkriegswirren ergriff der 13. Dalai Lama die Initiative: 1913 erklärte er Tibet – gegen den Widerstand der jungen Republik China – für unabhängig. Weit her war es mit der Unabhängigkeit jedoch nicht: Weder China noch irgend­ein anderes Land der Welt erkannte den neuen Staat an; auch fehlt die chinesische Unterschrift auf dem »Unabhängigkeitsdokument«. Für die Chinesen war diese Episode eine weitere nationale Demütigung, verübt durch die verschiedenen in China operierenden ausländischen Mächte.

In Tibet selbst hatte die Buddhokratie nun allerdings vollkommen freie Hand, Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung nahmen extreme Formen an: 95 Prozent der Tibeter waren Analphabeten; regelmäßige Kindesentführungen in die monastischen Zwingburgen frischten den Bedarf an Mönchen auf. Gleichzeitig stagnierte die Produktivkraftentwicklung, Tibet glich einem Reich, das in grauer Vorzeit stehen geblieben war. Im krassen Gegensatz zur unbeschreiblichen Armut der einfachen Bevölkerung lebte lediglich die ausgesprochen schmale Elite des Landes, der hohe buddhistische Klerus und die aristokratischen Feudalherren aus Lhasa. Sie profitierten von Leibeigenschaft und Sklaverei, in ihren Händen befanden sich mehr als 99 Prozent des tibetischen Grundes und Bodens.

Am 1. Oktober 1949 endete der chinesische Bürgerkrieg, die Volksrepublik wurde ausgerufen. 1950/51 marschierte die chinesische Volksbefreiungsarmee nahezu unblutig in die westlichen Teile Tibets ein. Lediglich in der damaligen Provinz Quamdo kam es zu Gefechten, die allerdings rasch beendet wurden und zur Absetzung des probritischen tibetischen Regenten Dhagza führten. Statt seiner wurde der 16jährige 14. Dalai Lama vorzeitig in sein Amt eingesetzt. Der Fall Quamdos versetzte die feudale Theokratenclique in Lhasa in Furcht: Überstürzt und mit ihrem immensen Goldschatz im Gepäck verließen die Anführer der herrschenden Feudalklasse die Hauptstadt und setzten sich vorübergehend an die Grenze ab. Durch die freiwillige Abschottung vom Rest der Welt und die Versuche, sämtliche Verbindungen zum restlichen China zu kappen, herrschte Konfusion in den Regierungsetagen des alten Tibet: Was wollten die chinesischen Truppen? Ging es nur um Wiederherstellung der unterbrochenen Oberhoheit Chinas, die mehr nominell war und sich auf Kontributionen und Verkündigungen beschränkte? Möglicherweise trieb diese Überlegung den tibetischen Mönchsadel zunächst an die indische Grenze in Abwartehaltung und dann zur Rückkehr nach Lhasa.

... zur Selbstverwaltung

Diese Überlegung schien gerechtfertigt: Die chinesische Volksregierung nahm Verhandlungen mit einer tibetische Delegation auf, und innerhalb der tibetischen Eliten gab es durchaus Stimmungen, sich einem großen chinesischen Reich anschließen zu wollen. Auch der 14. Dalai Lama, von der chinesischen Regierung als Verhandlungspartner akzeptiert, war den Versuchen der neuen Volksregierung, China und Tibet zu modernisieren, keineswegs abgeneigt. Er brachte es, vor seiner Flucht 1959, gar zum stellvertretenden Vorsitzenden des Ständigen Ausschusses des chinesischen Nationalen Volkskongresses – eine Episode, an die er sich heute kaum noch gern erinnern mag.

1951 jedoch konnte ein Kompromiß gefunden werden, der den friedlichen Beitritt Tibets zur VR China ermöglichte. Das 17-Punkte-Abkommen, im offiziellen Wortlaut »Vereinbarung der Zentralen Volksregierung mit der Lokalen Regierung Tibets über Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets«, regelte die Eingliederung Tibets in die Volksrepublik China. Im ersten Paragraphen des Abkommens heißt es: »Das tibetische Volk soll sich zusammenschließen und die imperialistischen Angreifer aus Tibet vertreiben; das tibetische Volk soll in die große Völkerfamilie des Mutterlandes der Volksrepublik China zurückkehren.« In den Paragraphen 4 bis 7 wird die innerprovinzielle Souveränität der tibetischen Selbstverwaltung anerkannt. Der Schutz der Religion ist ein Bestandteil des Abkommens, ebenso die Förderung der tibetischen Kultur und Schrift. Hinsichtlich verschiedener Reformen in Tibet verzichten die chinesischen Zentralbehörden auf Zwang: »Es bleibt der lokalen Regierung in Tibet überlassen, Reformen selbständig durchzuführen, und wenn im Volk Reformwünsche laut werden, sollen sie durch Beratung mit den maßgeblichen Personen in Tibet erfüllt werden.« Die Paragraphen 13 bis 17 regeln die Modalitäten der Stationierung der Volksbefreiungsarmee und der Wahrnehmung der außenpolitischen Interessen Tibets durch die Regierung der VR China. Unterzeichnet wurde das Abkommen von den Vertretern der tibetischen Regierung und der Regierung der VR China; der 14. Dalai Lama bestätigte das Abkommen am 24. Oktober 1951 telegraphisch an Mao Tse Tung.

Der Aufstand von 1959

Das 17-Punkte-Abkommen wurde 1959 einseitig durch die tibetische Feudalklasse gebrochen, was anschließend zu ihrer völligen Absetzung und zu durchgreifenden demokratischen Reformen (wie etwa der tibetischen Landreform) führte. Die alten Herrscher hatten sich selbst mit den erst einmal nur minimalen Verlusten ihres Einflusses nach 1950 nicht abfinden können. Die Wiedereingliederung Tibets in die VR China löste eine Eigendynamik aus, die die tibetische Gesellschaft revolutionierte. Die Bauern legten Gebetsmühle und Büßergewand ab und hinterfragten die alten Herrschaftsmuster. Auch wenn das 17-Punkte-Abkommen die innenpolitische Souveränität der Provinzialregierung sicherte, war doch die aufkommende soziale Mobilität in der einst starren und hierarchischen tibetischen Gesellschaft nicht mehr zu stoppen. Die feudalen Eliten wehrten sich gegen den drohenden Machtverlust, und die Unterstützung durch imperialistische Mächte, zunächst insbesondere durch die USA, kam ihnen dabei gelegen. Mit einer unter anderem durch die CIA trainierten und finanzierten Rebellenarmee, die unter dem Namen »Religionsschutzarmee« auf Menschenfang ging, erfaßte die Rebellion schließlich 1959 weite Gebiete des Landes. Der bis dahin zögernde und zaudernde Dalai Lama konnte nun schlußendlich mit dem verbreiteten Gerücht, die Chinesen wollten ihn kidnappen, zur Beteiligung am Aufstand überredet werden. Er floh 1959 mit den geschlagenen Resten der Rebellen nach Indien und sollte das neue Tibet nie wieder betreten.

* Aus: junge Welt, 21. Mai 2011


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