Die widersprüchliche Entwicklung der Volksrepublik China
Das rote Mandarinat – Chinas Aufschwung ist teuer erkauft
Von Gerhard Armanski *
Seit einiger Zeit wird eine lebhafte Debatte um China – jüngst im ND (15.8.2008) – geführt, und das
ist gut so. Damit wird eine wirtschaftliche Großmacht an der vierten oder fünften (je nach Zählung)
Stelle in der Welt und ein an Bedeutung wachsender weltpolitischer Akteur in den Blick genommen.
Meistens werden dabei zwei wichtige Momente der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft
ausgeblendet: die historische Geschiebefracht des mit etwa 3000 Jahren ältesten noch
existierenden Reiches der Welt und der gesellschaftliche und politische Charakter des heutigen
Chinas. Beides hängt miteinander zusammen und prägt sich in der dominierenden Rolle des roten
Mandarinats im gegenwärtigen Übergang aus. Mandarine, ein Sanskrit-malaiisch-portugiesischer
Mischausdruck, bezeichnet die (konfuzianisch) gelehrten Beamten, die Rückgrat und
Führungsschicht des traditionellen Chinas bildeten, das erst 1911 sein Ende fand. Es war allerdings
alles andere als statisch, sondern durchlebte einen permanenten Zyklus aus Kontinuität und oft
revolutionärem Bruch, dessen Leitsymbol die friedliche und gerechte Regierung des Kaisers über
seine zu 95 Prozent aus Bauern bestehenden Untertanen darstellte. War sie vernachlässigt, wurde
sie gewaltsam von unten wieder hergestellt, ohne dass (mit der Ausnahme der Taiping-Revolte im
19. Jh.) die »Herrschaft des Himmels« je als solche in Frage gestellt worden wäre.
Japanische Aggression und Bürgerkrieg
Es gab wohl eine Kaufmannsklasse, doch blieb sie stets politisch subaltern. So konnte sie auch
nach der Revolution von 1911 nicht als Träger einer bürgerlich-demokratischen Entwicklung Chinas
dienen. Die nachfolgende korrupte und verheerende Herrschaft der Kuomintang, die japanische
Aggression und der jahrelange Bürgerkrieg der Kommunisten mit beiden, endeten 1945 mit dem
Sieg der Revolution, vollbracht durch die Bauern mit einem kleinen Anteil Arbeiter und (führender)
Intellektueller.
Während die Mao-Zeit als rote Version der kaiserlichen Autokratie auftrat und vergeblich mit
ungeheuren Kosten einen chinesischen Sozialismus aus dem Boden zu stampfen versuchte, ist das
Land seit Deng Xiaoping vor 30 Jahren in einen Reformkurs eingeschwenkt. Dieser verdankte sich
zwei fundamentalen Aufgaben: Er hatte die Produktivkräfte zu entfesseln, um das Massenelend im
Land zu beseitigen und zweitens eine »good governance« mit einem Mindestmaß an Partizipation
seitens des Volkes zu entfalten. Ist es möglich, die Etappe der bürgerlichen Umwälzung der
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse in einem zurück gebliebenen Land zu überspringen und
sogleich mit dem Aufbau des Sozialismus zu beginnen? Die Antworten darauf fielen sehr
unterschiedlich aus. Immerhin galt es, die Industrielle Revolution in Europa im Zeitraffer
durchzuführen.
Es ging darum, in einer primären Akkumulation überhaupt erst die Grundlagen für einen historischen
Aufschwung des Volkswohlstands zu schaffen. Allerdings, schrieb Marx, »sind die Methoden der
ursprünglichen Akkumulation alles andere als idyllisch...« Sie bilden den »historischen
Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel ... Die Expropriation des ländlichen
Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. Ihre
Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an...« (Das Kapital I, MEW 23,
S.742 pass.) und gilt nicht nur für den Kapitalismus. China (wie auch Indien) dominierte zwar um
1800 die Manufakturproduktion und den Handel in der Welt, aber kraft der industriekapitalistischen
Entwicklung im Westen gerieten sie ins Hintertreffen. Die europäischen Gesellschaften gingen ins
Rennen, das sie politisch mit dem aufgeklärten Absolutismus, ökonomisch mit dem Merkantilismus
und sozial mit der bürgerlichen Revolution sowie der Bauernbefreiung zu lösen versuchten. Diese
verwandelte die gebundenen Subjekte in freie Objekte und Lieferanten von Arbeitskräften für die
sich entwickelnde kapitalistische Markproduktion.
Vor einer analogen Aufgabe steht heute China. Sich das Mehrprodukt der Bauern und der Arbeiter
anzueignen, um die gesellschaftliche Entwicklung zu ermöglichen, ist eine Sache, die Form, in der
das geschieht, eine andere. Meine Behauptung lautet: Der Prozess steht in China unter der Ägide
des aufgeklärten Absolutismus (Parole: Alles für, nichts durch das Volk!) eines roten Mandarinats.
Inwieweit dieses willens und fähig ist, die angesprochene historische Aufgabe in einem
dramatischen Wettlauf mit der Zeit, dem Bevölkerungsdruck und der Konkurrenz seitens der
überlegenen kapitalistischen Länder auf angemessene Weise, das heißt möglichst schnell, reguliert
und unter minimierten geringen sozialen, politischen und ökologischen Kosten wahrzunehmen, das
sollte die Messlatte des Urteils bilden.
Alle wissen und reden von der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung Chinas in den vergangenen 15
Jahren. Doch ist es vor allem Wachstum im technisch einfachen Billiglohnbereich, der
exportgetrieben ist. Die Kehrseiten liegen in Überkapazitäten und notleidenden Krediten, maroden
Staatsunternehmen und einem wenig wirksamen Bankensektor. Premier Wen Jiabao selbst
bezeichnete das exorbitante Wirtschaftswachstum als in Wirklichkeit »unausgeglichen,
unkoordiniert, instabil und nicht nachhaltig«. Vollkommen ungeklärt sind auch die Rolle der
wachsenden Privatwirtschaft, der Privatisierung des Finanzsektors, abnehmender
Kapitalverkehrskontrollen und der möglichen Freigabe des Wechselkurses.
Stofflich bildet Energie die Achillesferse des Aufschwungs. Zwar wird das meiste aus Kohle
gewonnen – mit den entsprechenden Kosten an Menschenleben (mangelnde Arbeitssicherheit) und
in der Umwelt. Die Ölimporte stammen vorwiegend aus der Golfregion, und es ist abzusehen, dass
China beim Machtpoker um afrikanisches oder zentralasiatisches Öl mitzuspielen gedenkt. Dadurch
sowie durch die (meist in US-Schatzbriefen angelegten) strategischen Devisenreserven von mehr
als einer Billion Euro ist »China ein Bestandteil der Welt geworden«. (Yu-run Lian) Das drückt sich u.
a. durch den Eintritt in die Regelsysteme des internationalen Handels wie Internationaler
Währungsfonds (IWF), Weltbank und schließlich Welthandelsorganisation (WHO) aus.
»Chinas Entwicklung ist nicht als sozialistische Gegenbewegung zur kapitalistischen Globalisierung
zu begreifen, vielmehr als Versuch die Bedingungen zur Integration in den Weltmarkt selbst mit zu
beeinflussen und ihn zur Zündung einer eigenständigen Industrialisierung zu nutzen«, schreibt Mario
Candeias zu recht. (ND, 15.8.2008) Die »asymmetrische Supermacht« (Joshua Cooper) ist vor
allem für Entwicklungs- und Schwellenländer attraktiv. Peking bemüht sich in strategischer
Konkurrenz zu den Amerikanern um regionale Kooperationen in Mittelasien und Nahost.
Die Politik der Staats- und Parteiführung sieht sich noch immer mit den »vier Modernisierungen«
Deng Xiaopings in der Pflicht. Sie hat den Klassenkampf aufgegeben zugunsten der Entwicklung
einer »harmonischen Gesellschaft«. Der »party state« fungiert als Kommandozentrale der
wirtschaftlichen und politischen Entwicklung sowie nationale Klammer in einem Vielvölkerstaat. Es
ist schlechterdings undenkbar, wie die gesellschaftlichen Probleme derzeit anders gelöst werden
könnten. Aber seit der Einführung der Wirtschaftsreformen, der Privatisierung »von unten« und eines
regionalen Multilateralismus, den zunehmenden Wahlen auf unterer Ebene, des ansatzweisen
Aufbaus eines Rechtssystems steigen die Partizipation und die Transparenz der Regierungstätigkeit.
Es muss offen bleiben, welche Folgen das für Machtstrukturen und Steuerungsfähigkeit hat. Nach
wie vor muß und will der Staat sozialregulierend tätig sein. Die vermutlich bis 2013 im Amt
befindliche Regierung Wen strebt eine Erhöhung der Energieeffizienz um 20 Prozent und eine
streng umgesetzte Umweltgesetzgebung an. Vor allem soll bis dahin allen Chinesen eine kostenlose
Schulbildung, soziale Grundsicherung und Krankenversorgung garantiert werden. Die
Teilprivatisierung des Staatsapparats sowie die »neue Bourgeoisie« im »Sinokapitalismus« (Bodo
Zeuner) könnten dem wohlmeinenden Regierungsabsichten einen Strich durch die Rechnung
machen.
Externe Kosten des Aufschwungs
Es braucht nicht zu verwundern, dass die sogenannte externen Kosten des Aufschwungs nicht
ausbleiben. Es sind dies vor allem drei: der Bauer, die Natur und der Konsument. Eine neue Mittelund
Oberklasse macht sich breit. Zu zahlen haben in erster Linie die Bauern. Die rücksichtslose
Industrialisierung schädigt nachhaltig die Umwelt. Mindestens scheint sich auf dem Gebiet der
»Verrechtlichung« der Sozialbeziehungen und -konflikte etwas zu tun, nachdem die
»Kulturrevolution« hier praktisch ein Nichts hinterlassen hatte. Entgegen weit verbreiteter Ansicht ist
China das streikfreudigste Land der Welt. Ein neues Arbeitsgesetz verbessert die Vertrags- und
Abfindundungslage der (Wander-)Arbeiter. Das ist umso wichtiger, als immer weniger von ihnen in
staatlichen Betrieben mit »eiserner Reisschüssel« arbeiten. Ein Sozialversicherungssystem steckt
noch in den Anfängen.
Die Führung selbst steuert, wie es scheint, einen entschlossenen Reformkurs mit sozialen und
ökologischen Korrekturen. Im Auftrag der KP ist von ihren Intellektuellen der Bericht »Der Sturm der
Festung. Ein Forschungsbericht über die politische Systemreform nach dem 17. Parteitag«
erschienen. Das Dokument fordert einen Rückbau der staatlichen Macht und ihre Neuverteilung
unter zivilgesellschaftlichen Akteuren. Ganz im Stil der philosophischen Debatte des aufgeklärten
Absolutismus in Europa verlangen sie die Teilung der drei Gewalten im Staat. Die Pressefreiheit sei
ebenso unverzichtbar wie künftige Wahlen zum Volkskongress, der als Parlament mit einer zweiten
Kammer agieren solle. Zunächst soll es eine »moderne Zivilgesellschaft« geben und erst später eine
»reife Demokratie«, analog zur Wirtschaftsentwicklung«, wo es zunächst zum »kleinen Wohlstand«
und dann zum großen komme. Des shi (Mandarinat) wird das zu beweisen haben.
* Aus: Neues Deutschland, 20. September 2008
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