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Chinas Reserven: Die Krux mit dem Überfluss

Von Dmitri Kossyrew, RIA Novosti *

Was soll man mit drei Billionen Dollar anfangen? Das fragte sich kürzlich die "Washington Post".

Dabei geht es nicht um amerikanische, sondern um chinesische Billionen. Genauer gesagt um die Gold- und Devisenreserven der Volksrepublik, die im ersten Quartal 2011 die Marke von 200 Milliarden Dollar übertroffen haben.

Dass die Chinesen mehr Geld als sonst jemand in der Welt haben, ist keine Sensation: Nachdem Japan überholt und China zur zweitgrößten Wirtschaft der Welt wurde, war diese Nachricht zu erwarten. Chinas Geldmenge lässt sich auf „verdammt viel“ schätzen, und damit ist im Grunde alles gesagt.

Tut das den Chinesen überhaupt gut?

Die Redaktion der "Washington Post" verdient aber jedenfalls Respekt. Ihre Journalisten gaben sich die Mühe, ihren Neid auf das Reich der Mitte und den gekränkten Stolz auf ihre Heimat zu verbergen. Denn das Top-Thema der Dienstagsausgabe waren die Ergebnisse einer Umfrage der US-Zeitung, ob es Mittel gegen die ständig wachsenden Schulden Amerikas gibt. Die Leser stellten fest, dass es kein gibt.

Am 18. April hatte die Ratingagentur Standard & Poor's ihre Prognose für die US-Kreditwürdigkeit von „stabil“ auf „negativ“ herabgestuft. Das Ziel der Umfrage war, die Reaktion der US-Bürger auf die von der Obama-Administration geplanten Sparmaßnahmen zu analysieren. Die Wähler reagierten darauf eher abneigend - wem gefällt es schon, wenn die Geldbörse immer dünner wird?

Rein menschlich kann ich die Amerikaner verstehen. Sie sind daran gewöhnt, die ersten zu sein, egal worum es geht. Plötzlich mussten sie aber erfahren, dass ihr Land mit 14 Billionen Dollar der größte Schuldner der Welt ist, während die Chinesen auf einem wahren Goldhaufen sitzen. Neben den zwei ewigen Fragen: „Wo kommt das Geld her?“ und „Wohin verschwindet das Geld?“ - entsteht eine weitere: „Warum geht es denen gut, während es uns so schlecht geht?“

Natürlich wimmelt es in den USA von Experten, die China einen Fehlschritt und am liebsten einen Beinbruch wünschen und die in ihren Analysen immer wieder das für die Wahrheit ausgeben, was sie gerne hätten.

Es ist ein Problem, wenn einer viel Geld hat

In Wirklichkeit sind aber Chinas Reserven ein Teil seiner realen Wirtschaftsprobleme, die derzeit heiß diskutiert werden - und zwar nicht besonders optimistisch. Die dieser Tage veröffentlichten Wirtschaftsergebnisse des ersten Vierteljahres hatten in Peking eine Reihe von Erklärungen zur Folge. Darauf bezog sich der oben erwähnte Artikel in der "Washington Post".

Zhou Xiaochuan, der chinesische Zentralbankchef, sagte das Wichtigste: Die nationalen Reserven hätten eine unvernünftige Größe angenommen und seien damit ein Problem. (Laut IWF-Experten würden China auch 1,5 Billionen Dollar genügen, um eine Krise zu überwinden.) Es ist aber nicht so leicht, die überflüssige Geldmasse loszuwerden. Sollten diese Gelder in den Umlauf gebracht werden, würde das nur einen unmittelbaren Effekt haben: Die Preise würden drastisch steigen, was einen Absturz des Yuan-Wechselkurses auslösen würde. Deshalb tut die Zentralbank gerade das Gegenteil: Sie zieht die Devisen aus den Umlauf und spart.

Chinas Problem besteht also darin, was jedes andere Land für ein großes Glück halten würde. Chinas Zahlen beim Export liegen um ein Vielfaches höher als beim Import. Und da die chinesischen Wirtschaftskreise dem Staat die ausländischen Währungen überlassen, werden die Vorräte immer größer. Im Allgemeinen soll mit der strikten Yuan-Kontrolle seine absolute Konvertierbarkeit verhindert werden. Dank dieser Politik konnte die Volksrepublik bereits die zwei weltweit größten Wirtschaftskrisen überstehen, aber diesmal sind die Reserven bedrohlich angewachsen.

Deshalb berichten die Behörden in Peking stolz, dass die nationale Wirtschaft im ersten Quartal „nur“ um 9,7 Prozent gewachsen ist und weiterhin gebremst wird, um eine Inflation zu vermeiden. Zumal der interne Verbrauch nahezu sechs Prozent des Wachstums ausmacht. Auf ihn werden die Reserven in den nächsten fünf Jahren gerichtet sein. Diese Idee war das meistdiskutierte Thema beim jüngsten Wirtschaftsforum Boao auf der Insel Hainan. China geht also allmählich zum europäischen Typ der Verbrauchergesellschaft über.

Reserven und Leerstände

Die von Finanzproblemen geplagten Europäer und Amerikaner können eine solche Entwicklung in der Volksrepublik nur begrüßen und rechnen außerdem damit, dass Chinas Konsum die Wiederherstellung der europäischen und amerikanischen Industrie beschleunigen wird. Im ersten Vierteljahr wurde in China zum ersten Mal seit längerer Zeit ein Handelsdefizit festgestellt, was einen Importzuwachs und dementsprechend einen Rückgang der Devisenreserven bedeutet.

Aber dabei entsteht ein anderes Problem, das noch wichtiger ist. Bis zuletzt stützte sich der internationale Handel vor allem auf die chinesische Produktion und den amerikanischen Verbrauch. Dabei mussten die Amerikaner immer größere Kredite nehmen, die ihre Einnahmen stets überstiegen. In dieser Situation kumulierte China immer größere Vorräte, die aber nicht aus Gold, sondern hauptsächlich aus Dollar- und Euro-Scheinen sowie aus US-Schuldverschreibungen bestehen. Das ist eben ein Teil der Schulden, die die USA nie vollständig tilgen können, darunter bei China. Außerdem senkt Amerika allmählich den Wechselkurs des Dollars, um seinen Export anzutreiben und wiederum seine Schulden zu entwerten. Damit wachsen Chinas Reserven eher nominal und verlieren an Wert.

Angesichts dessen waren die Debatten beim jüngsten BRICS-Gipfel auf Hainan über ein neues faireres und vernünftigeres internationales Finanzsystem nicht unbegründet. Aber bis es dazu kommt, wird noch viel Zeit vergehen.

Die Meinung des Verfassers muss nicht mit der von RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 21. April 2011; http://de.rian.ru



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